Anlagenbau & Prozesstechnik

Sensorik für die Digitalisierung chemischer Produktionsanlagen

Messmethoden des Labors auch für die Produktion erschließen

18.05.2020 - Messtechnik und Sensorik spielen neben der intelligenten Datenverarbeitung eine Schlüsselrolle für die Digitalisierung in der Produktion. Flexible Anlagen benötigen Sensorik zur Überwachung des Anlagenzustandes, zur Früherkennung nicht bestimmungsgemäßer Betriebszustände sowie für eine bedarfsgerechte Wartung.

Neben der Zustandsüberwachung ist eine verbesserte Sensorik für die Erfassung von stoffbezogenen Daten essenziell, um Änderungen in der Produktqualität, etwa durch Verunreinigungen und Spurenstoffe, schwankende Edukt-Zusammensetzungen oder degradierte Katalysatoren frühzeitig zu erkennen.

Geeignete spektroskopische Mess­techniken sind heute meist nur für den Laborbereich verfügbar und müssen auf die Prozessebene übertragen werden. Für diese Herausforderungen ist die in heutigen Prozess­anlagen vorhandene betriebliche Instrumentierung sowohl bezüglich der von ihr erfassten Informationen als auch bezüglich der von ihr bereitgestellten Schnittstellen und Datenformate nicht ausreichend. Eine Weiterentwicklung der Prozessmesstechnik und Prozessanalysentechnik in Richtung der Erfassung sekundärer Prozessparameter, einer intelligenten multimodalen Sensordatenverarbeitung, standardisierter digitaler Schnittstellen sowie Sensor­intelligenz ist unabdingbar. Initiiert von ProcessNet und dem AMA Verband für Sensorik und Messtechnik wurde ein Dechema Positionspapier erstellt, das Chancen und Herausforderungen für Messtechnik und Sensorik beschreibt.

Digitalisierung chemischer Produktionsprozesse
Wie viele andere Industriebereiche steht auch die chemische Industrie vor den Herausforderungen einer Digitalisierung der Produktion um die Flexibilisierung von Prozessen und Anlagen, die Verkürzung von Produkteinführungszeiten sowie den Zuschnitt der Produktion auf wechselnde Nachfrage und kürzere Produktlebenszyklen zu erreichen. In einer vernetzten Welt werden Informationen über Rohstoffe, Energieträger und Marktbedingungen in Echtzeit verfügbar. Sie können damit direkt in Prozessabläufe einfließen und bei der Erstellung von Marktprognosen helfen. Allerdings ergeben sich für die Digitalisierung von Produktionsprozessen in der chemischen Industrie besondere Herausforderungen durch ein oftmals sehr produktspezifisches Anlagendesign sowie die komplexe stoff­liche und energetische Verkettung von Grundoperationen.

„Die Grundlagenforschung muss neue Konzepte für intelligente Sensoren für spezielle Prozesse und Prozessumgebungen entwickeln.“

Zustandsüberwachung und vorausschauende Wartung
Mit der Zustandsüberwachung sollen frühzeitig Veränderungen und Pro­bleme im Prozessablauf oder in der Funktion von Komponenten erkannt und dadurch Schäden oder Produktivitätseinbußen vermieden werden. Die vorausschauende Wartung dient der Optimierung der Produktion bezüglich Wartungseingriffen und Prozessstillständen. Das frühzeitige Bestimmen optimaler Eingriffszeitpunkte ist dabei ebenso wichtig wie das Anpassen der Betriebsfahrweise an den aktuellen Anlagen- und Komponentenzustand. Vor allem in frühen Phasen sind Veränderungen des Material- oder Komponentenverhaltens kaum mit der herkömmlichen Prozessinstrumentierung erkennbar und erfordern zusätzliche Spezialsensorik.
Für große Komponenten wie Trennkolonnen, Reaktoren, Rohrleitungssysteme sowie ganze Anlagen stehen die Erfassung von Prozess- und Anlagenparametern an möglichst vielen Positionen und mit möglichst geringem technischen Aufwand bezüglich der Verkabelung sowie der Art und Anzahl von Einbauöffnungen bei gleichzeitig hoher Robustheit und großer Datenverdichtung im Vordergrund. So sind Art und Dicke von Fouling-Belägen oder Mikrorisse mit ausreichend hoher räumlicher Auflösung zu erfassen. In Bezug auf die funktionale Prozesssicherheit kann durch feste oder mobile Sensorik eine zweite Überwachungsebene aufgespannt werden, in der Tätigkeiten der Anlagenläufer durch die Sensorik übernommen werden. Bei Komponenten wie Pumpen, Ventilen und Durchflussmessern, stehen vor allem der Verschleiß sowie mechanische und thermomechanische Belastungen im Fokus des Interesses. Die Zukunfts­trends liegen hier in der multisensoriellen Erfassung verschiedener und auch indirekter Parameter, in der Erfassung von Parametern an mehreren Positionen innerhalb der Komponente, in intelligenter Soft­sensorik sowie berührungsfreien Messverfahren.

„Spektroskopische Messtechniken aus dem Laborbereich müssen auf die Prozessebene übertragen werden.“

Im Bereich eingreifender aber nicht medienberührender Sensorik liegt ein Hauptaugenmerk auf der Entwicklung von Schall-, Radar- und Lidar-Systemen für raue Prozess­umgebungen. Solche Techniken werden bereits für die Füllstandmessung eingesetzt. Im Bereich der Anlagensicherheit ist darüber hinaus die Weiterentwicklung intelligenter, hochsensitiver und -selektiver Gassensorik von Bedeutung.
Eine wesentliche Entwicklungsrichtung ist die Fusion von Daten multipler Sensoren und die Eta­blierung von Softsensorik z. B. für die Überwachung von Pumpen, Ventilen oder Wärmetauschern. Für die Qualifizierung berührungsfreier akustischer Sensoren ist oft die Schallausbreitung in inhomogenen und veränderlichen Prozessmedien und komplex strukturierten Prozessräumen problematisch. Hier sind insbesondere fortgeschrittene Methoden der Signalverarbeitung, wie etwa Maschinelles Lernen, gefordert.

Erfassung stoffbezogener Größen
Für die Messung stoffbezogener Größen wie Stoffkonzentration, Phasenanteil oder Partialdruck existieren heute vielfältige Arten von Labormessgeräten, die auf komplexen physikalischen Messprinzipien, wie z. B. der UV/VIS/NIR-Spektroskopie oder der Raman-Spektroskopie basieren. Die Inline- bzw. Online-Erfassung stoffbezogener Größen wird häufig mit dem Begriff der Prozess­analysetechnik (PAT) verbunden.
Für den Laborbetrieb entwickelte Messgeräte sind im Allgemeinen universell für stark wechselnde Anforderung des Laborbetriebs ausgelegt und zu groß und zu teuer für die Integration in Prozessanlagen. Zur besseren Prozessintegration sind diese Messgeräte kompakt, robust und funktional zu gestalten, wobei dies nicht zu Lasten der oft geforderten hohen Präzision und Reproduzierbarkeit gehen darf. Gleichzeitig dürfen prozesstypische Störungen wie Gasblasen oder  Fouling an Wand- oder Wärmeübertragungsflächen die Messgenauigkeit nicht beeinträchtigen.
Eine wesentliche Hürde bei der Praxiseinführung neuer Sensorik entsteht aus dem Tatbestand, dass im Labor, im Technikum und in der großtechnischen Produktionsanlage bisher Messtechnik und Sensorik mit unterschiedlicher Funktionalität verwendet werden muss. Durchgängige Lösungen existieren kaum. Dies erhöht den Anpassungsaufwand bei der Integration in Prozessanlagen zusätzlich. Sowohl die Akzeptanz als auch die Übertragbarkeit von Ergebnissen würde von einer durchgängigen Sensoranwendung während der Prozessentwicklung und Pilotierung vom Labor über das Technikum bis in die Produktion und Nutzung vergleichbarer Sensorik profitieren.

Sensor-Integration und -Kommunikation
Neben den Anschaffungskosten für Sensoren fallen während der Betriebszeit weitere Kosten für deren Integration, Wartung und Instandhaltung an.
Wo immer möglich, sollte die mechanische Integration von Sensoren vereinfacht und standardisiert sowie berührungsfreie Messverfahren so qualifiziert werden, dass berührende Sensoren ersetzt werden können, wie z. B. bei  Clamp-on-Ultra­schallsensoren. Zur Reduktion des Verkabelungsaufwandes sind kabellose Kommunikationstechnologien in die Prozessautomatisierung einzuführen, bevorzugt mit energieautarker Sensorik – z. B. mit Energy Harvesting – so dass Sensoren auch an schwer zugänglichen Stellen ohne verfügbare Stromversorgung installiert werden können. Insbesondere für den zeitweisen Betrieb von Zusatzinstrumentierung bei Inbetriebnahmen, Anfahr- und Abfahrvorgängen sowie zu Zwecken des Trouble-Shootings ergeben sich hiermit vorteilhafte Anwendungen.
Um den Aufwand für Implementierung und Kalibrierung der Sensoren zu reduzieren, bringen Konzepte zur Selbstkalibrierung einen erheblichen Nutzen. Es sind bereits Geräte mit intern rückführbarer Kalibrierung erhältlich, die ihren Messwert unter gegebenen Einsatzbedingungen eigenständig von Zeit zu Zeit primär ableiten können, wie z. B. spezielle Temperatursensoren mit eingebautem Fixpunkt.
Im Gegensatz zu zentralisierten Kommunikationssystemen, wie wir sie heute in der Prozessautomation antreffen, basieren das weltweite Internet sowie die moderne Telekommunikation seit vielen Jahren auf verteilten Netzwerken. Dort melden sich Teilnehmer im System mit ihren Fähigkeiten an und werden optimal ausgelastet. Unter dem Begriff Industrie 4.0 entwickelte Konzepte führen zu einer Auflösung der Automatisierungspyramide und ermöglichen eine flexible Produktion mit adaptiven, sich selbst konfigurierenden, selbstorganisierenden, flexiblen Produktionsanlagen mit hohem Vernetzungsgrad und hochverfügbaren Informationsdiensten.

„Die Entwicklung robuster Sensorsysteme für die Zustandsüberwachung und die Messung stoffbezogener Größen muss intensiviert werden.“
Uwe Hampel, Head Experimental Thermal Fluid Dynamics, Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf

 

Für die störungsfreie Kommunikation aller Automatisierungskomponenten untereinander werden ein einheitliches Protokoll und ein einheitlicher Feldbus benötigt. Mittlerweile gilt der Standard OPC Unified Architecture (OPC-UA) als gesetzt und die Verbände arbeiten an der Ausgestaltung der Semantik. Nicht-Ethernet-Feldbusse sind vor dem Hintergrund einer gewachsenen Landschaft in bestehenden Anlagen und den oft sehr speziellen Anforderungen an Stromversorgung und Explosionsschutz heute weiterhin dominant. Als wesentlicher Nachteil dieser Situation ist die Komplexität hinsichtlich Installation und Wartung mit erhöhten Anforderungen an das Fachwissen des Personals zu nennen.
Eine durchgängige Ethernet-basierte Kommunikation ist über das Advanced Physical Layer (APL) mit der Geschwindigkeit und Flexibilität von Standard-Ethernet- und IP-Technologien auf der Basis von einfacher Zweileitertechnik in Sicht. APL erlaubt für die Prozessfertigung typische Netzwerkausdehnungen einschließlich Hilfsenergie-Versorgung bis 500 mW pro Gerät für bis zu 50 Geräte und eine Installation in explosionsgefährdeten Bereichen. Alternativ dazu werden auch drahtlose Standards Einzug halten, wie z. B. der 5G-Standard.
Die Definition offener und zugleich sicherer Schnittstellen ist eine der größten, wichtigsten und zugleich dringlichsten Aufgaben der Digitalisierung, ohne die es nicht weitergeht. Ein erster Schritt zur Bereitstellung zusätzlicher Datenkanäle wird im NOA-Konzept (NAMUR Open Architecture) gemeinsam durch NAMUR und ZVEI vorangebracht.

Sensordaten intelligent nutzen
Interaktionsfähigkeit, also die Fähigkeit von Sensoren, untereinander Informationen auszutauschen und zu bewerten, wird als wichtiger Bestandteil vorausschauender Konzepte für die Anlagenüberwachung betrachtet. Fallen an einer Messstelle etwa primäre oder sekundäre Messwerte auf, die sich außerhalb bestimmter Grenzen bewegen, erfolgt mittels definierter Weitergabe solcher Information eine zweckgerichtete Sensibilisierung weiterer Sensoren in einer relevanten Umgebung sowie eine integrierte, vorausschauende Bewertung der Datenlage im Hinblick auf die Entwicklung des Anlagenzustands. Auch eine dynamische, der prognostizierten Entwicklung des Anlagenzustands angepasste Selbstparametrierung von Sensorsystemen, etwa im Hinblick auf Messbereich und Auflösung, oder die Auswahl und optimale Ausnutzung der Bandbreite sowie der Datenfilterung auf Basis von Orchestrierungsinformationen aus dem digitalen Zwilling und aus dem Anlagenkontext fallen in diese Kategorie.
Im Allgemeinen stellt nur die Kombination von Rohdaten in Verbindung mit Kontextinformationen bzw. im Zusammenhang mit weiteren Rohdaten einen Wert dar. In vielen Fällen können Rohdaten reduziert weitergegeben werden, wenn dieses kontextbezogen jeweils für die Anwendung ausreicht. Es darf aber nicht vergessen werden, dass zukünftige Auswertungstechniken ggf. andere Anforderungen an die Daten haben. Daher ist es ggf. sinnvoll, die vollen Rohdaten über einen ausreichend langen Zyklus einige Male am Tag, entsprechend der Variabilität des Prozesses, zu sichern. Somit lassen sie sich auch posthum noch mit neuen Modellen in vollem Umfang auswerten.

Forschung und Entwicklung
Aus dem derzeitigen Stand von Wissenschaft und Technik und den bestehenden Anforderungen ergibt sich ein konkreter Bedarf für die zukünftige mittelfristige und langfristige Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Sensorik und Messtechnik für die Digitalisierung der chemischen Produktion. Während Hersteller von Sensor-, Mess- und Automatisierungstechnik in der Regel produktspezifische Entwicklungen der wettbewerblichen Forschung vollständig aus ihren eigenen Forschungs- und Entwicklungsbudgets bestreiten, erfordern grundlegend neue Entwicklungen sowie vorwettbewerbliche Forschung und Entwicklung, etwa zum Technologietransfer vom Labor an die Anlage, Demonstration der Funktionsfähigkeit, Benchmarks, allgemeine Kostenanalysen sowie Vereinheitlichung und Standardisierung von Konzepten, eine Unterstützung durch Forschungsförderung der öffentlichen Hand im Rahmen von Verbundforschungsvorhaben.

Kontakt

Dechema e.V.

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