Logistik & Supply Chain

Risikomanagement für die Pharmalieferkette

19.05.2020 - Frankfurter Start-up Mytigate bewertet und verringert Risiken in der pharmazeutischen Lieferkette.

Mytigate ist eine validierte Software-as-a-Service-(SaaS)-Plattform für Pharma­unternehmen, um einerseits einen Überblick über Zertifikate, Fähigkeiten und Infrastruktur von Transportpartnern zu erhalten und andererseits eine Risikokennzahl für Partner und Strecken zu berechnen. Das Start-up wurde im Dezember 2017 im Rahmen des LOEWE3 Forschungsprojekts „Pharma Supply Chain Risk Assessment“ gegründet. Nach dessen Abschluss startete Mytigate im April in das operative Geschäft. Das Team von Mytigate erläutert, wo es mit seiner Entwicklung heute steht und welche Ziele das Start-up verfolgt.

CHEManager: Frau Ziegler, welches Problem löst die Technologie von Mytigate konkret und welche bislang ungenutzten Möglichkeiten eröffnet sie?

Yvonne Ziegler: Im Jahr 2013 hat die Europäische Union die Good Distribution Practice – EU GDP – als Guide­line für Pharmaunternehmen erlassen. Hier wird geregelt, dass der Transport von Pharmaprodukten risikobasiert erfolgen soll. Der Hintergrund dafür ist, dass der Transport Risiken für die Beschädigung der Pharmaprodukte birgt. Dies kann unter anderem sein: Temperaturabweichungen, Diebstahl und Fälschungen, mangelnde Compliance in Bezug auf notwendige Dokumente, Beschädigung durch falsches Handling sowie Gefährdung von Personen und Umwelt. Die Fehlerquote liegt mit 20% aufgrund der vielen Schnittstellen insbesondere in der Luftfrachtlogistikkette sehr hoch und ist damit deutlich höher als bei See- oder Landtransporten. Dabei sind alle Qualitätsprobleme im Rahmen des Transports für die Pharmaunternehmen inakzeptabel. Aktuell gibt es keinen einheitlichen Standard, um die Kompetenzen der verschiedenen Anbieter innerhalb der Supply Chain zu erfassen. Weiterhin fehlt auch ein IT-gestütztes System, das basierend auf den Qualitätsdaten möglichst vieler Pharmaunternehmen ein Risikomanagement für einzelne Transportstrecken ermöglicht und Schwachpunkte bei den Teilnehmern der Supply Chain aufzeigt. Mytigate löst dieses Problem, indem es Pharmaunternehmen ermöglicht, Transportpartner und -strecken mit einem höheren Risiko zu identifizieren, zu vermeiden oder durch Maßnahmen zur Risikominderung entsprechende Vorkehrungen zu treffen.

Bei der Entwicklung von Mytigate haben sich viele Pharma- und Transportfirmen beteiligt.

Y. Ziegler: Ja, wir haben Mytigate gemeinsam mit Bayer, Boehringer Ingelheim, GEFCO Forwarding und Frigo-Trans entwickelt. Diese Firmen haben Mitarbeiter für das Projektteam des LOEWE3-Forschungsprojekts über 2½ Jahre abgestellt und sichergestellt, dass Mytigate die Nutzeranforderungen der Pharma­industrie und Logistikbranche erfüllt. Unter Leitung der Frankfurt University of Applied Sciences waren auch die Hochschulen RheinMain und Fulda beteiligt. Zudem ist die Entwicklung von einem hochkarätigen Beirat begleitet worden. Hier waren unter anderem Vertreter von Sanofi, Merz, Merck, Roche, DB Schenker, AirBridge Cargo, ELPRO, DUS Airport, Lufthansa Cargo, Transco sowie der IATA, Air Cargo Community Frankfurt und dem Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, BPI, engagiert.
Unsere Zielsetzung war es von Anfang an, einen Industriestandard zu entwickeln, der eine Vergleichbarkeit der Lieferanten nach EU GDP-Standards ermöglicht, aber es auch den Transportunternehmen erleichtert, ihre Capability-Informa­tionen in standardisierter Form mit potenziellen Kunden zu teilen. Transportunternehmen haben mit Hilfe von Mytigate die Möglichkeit sich mit ihren Fähigkeiten und Kompetenzen international zu präsentieren. Die an der Entwicklung beteiligten Firmen sind von Mytigate begeistert und werden in Kürze mit dem Test der Anwendung beginnen.

Welches Risikomodell steht hinter Mytigate?

Hagen Bornemann: Bei der Entwicklung des Risikomodells konnte ich auf meine Erfahrung als Risikomodellierer im Bankensektor zurückgreifen. Hier habe ich mich an eta­blierten Risikomodellen orientiert, die ich erfolgreich implementiert hatte.

Kann die Transportplanung compliance-sicher dokumentiert werden und gibt es auch die Möglichkeit, Qualitätsdaten auszuwerten?

Y. Ziegler: Nach der Selbstauskunft der Unternehmen und der Risikoberechnung dokumentiert Mytigate das Ergebnis für die Unternehmen compliance-sicher. Für alle Änderungen gibt es einen Audit-Trail, sodass jede Änderung nachvollziehbar ist. Die Pharmaunternehmen können in einem für sie abgeschlossenen und sicheren Bereich den Planungsdaten die streckenbezogenen Qualitätsdaten – zum Beispiel Temperaturabweichungen aus Datenloggern – zuordnen und so die getroffenen Ergebnisse überprüfen.

Wie haben Sie die Entwicklung und Validierung des Tools umgesetzt?

Artem Andrianov: Wir profitierten bei der Entwicklung von dem existierenden Qualitätsmanagement, den SOPs und der Validierungserfahrung meiner Firma Cyntegrity. Für die Entwicklung haben wir Microsoft Azure verwendet, da es ein hohes Maß an Flexibilität bietet. Über die Schnittstellen ist eine einfache Anbindung an unternehmensinterne Software, wie zum Beispiel SAP, möglich.

Was gab den Ausschlag, aus dem Projekt ein Start-up zu gründen?

Hjalmar Hütte: Die Software-as-a- Service-Plattform wurde im Beirat erfolgreich demonstriert. Durch die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen stehen Pharmaunternehmen noch mehr unter Druck, sichere und planbare Lieferketten zu etablieren. Die Anfragen, Mytigate testen zu können, sind daher entsprechend hoch.

Was werden die nächsten Entwicklungsschritte sein?

H. Hütte: Wir haben gerade erst im Mai 2020 mit unserer Geschäftstätigkeit begonnen. Die Firmen haben Angebote angefordert und testen Mytigate jetzt. Wir hoffen, dass wir noch in diesem Jahr die ersten Kundenverträge abschließen können. Wir planen jedoch langfristig und sind in Gesprächen mit Investoren und Partnern, die die langfristige Strategie von Mytigate absichern.

Innovation Pitch Sposnoren

 

Zur Person

Artem Andrianov (CTO) hat Ingenieurwissenschaften mit Schwerpunkt Kontrollsysteme und Radioelektronik sowie Finanzwissenschaften an der Staatlichen Universität in Tomsk, Russland, studiert und im Bereich Mathematische Modellierung und Softwaresysteme promoviert. Er verfügt auch über einen MBA-Abschluss der Cass Business School und über 15 Jahre Berufserfahrung als Softwarearchitekt und -entwickler für Unternehmen der Pharmaindustrie.

Zur Person

Hjalmar B. Hütte (CEO) ist Volljurist und hat an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und an der Ludwig-Maximilians-Universität München studiert. 1999 gründete er seine eigene Kanzlei Hütte Rechtsanwälte Partnerschaft. Zuvor arbeitete Hütte als Berater in Japan, u.a. für das japanische Justizministerium und eine internationale Großkanzlei. Schon einige Unternehmen hat er selbst gegründet und wieder verkauft.

Zur Person

Yvonne Ziegler (Founder, Marketing & Sales Consultant) war von 1991 bis 2006 in verschiedenen Führungspositionen für den Lufthansa-Konzern tätig. Seit 2007 ist sie Professorin für Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Internationales Luftverkehrsmanagement. Von 2010 bis 2013 war Ziegler Dekanin des Großfachbereichs Wirtschaft und Recht der Frankfurt University of Applied Sciences, und von 2017 bis 2019 leitete sie das LOEWE3-Forschungsprojekt Pharma Supply Risk Management, aus dem das Start-up Mytigate hervorgegangen ist.

Zur Person

Hagen Bornemann (Head Risk Management) hat Risikomodellierung mit den Schwerpunkten mathematische Prognostizierung und Ratingsysteme an der Universität Brunel in London studiert. Er hat mehrere Jahre in Banken und Start-up Unternehmen Modelle zur Verlustprognose- und Ratingerstellung zu Schätzung von Ausfallwahrscheinlichkeiten modelliert und implementiert. Aktuell ist er als Manager im Bereich Financial Services, Risk Consulting bei PWC tätig.

Business Idea

Pharmatransporte sicherer machen
Pharmaprodukte werden global produziert und vertrieben und die Globalisierung der Pharma-Lieferketten führt zu einem Anstieg der Güter, die per Schiff, Flugzeug oder Lkw transportiert werden. Aktuell ist die Pharma Supply Chain für viele Pharmaunternehmen noch eine Black Box und die Fähigkeiten möglicher Supply-Chain-Partner sind oft nicht bekannt.
Der Transport der oft hochsensiblen Produkte birgt viele Risiken, u. a. Temperaturabweichungen, Diebstahl und Fälschungen, Beschädigung durch falsches Handling sowie Gefährdung von Personen und Umwelt. Besonders problematisch ist der Transport von temperaturgeführten Produkten per Luftfracht. Hier liegt die Zahl der Unregelmäßigkeiten laut IATA bei 20 % aller Transporte und damit deutlich höher als bei See- oder Landtransporten.
Als RegTech-Unternehmen im Bereich Life Science unterstützt Mytigate Kunden dabei, regulatorische Anforderung auf globaler Ebene zu erfüllen. Laut der European Good Distribution Practice (GDP) von 2013 soll die Auswahl der Transportdienstleister risikobasiert erfolgen. Mytigate ermöglicht seinen Kunden einen Einblick in die Qualifikationen und Kompetenzen ihrer Transportdienstleister und hilft bei der Auswahl der Kombination der sichersten Dienstleister und Transportstrecken. Dies ermöglicht das Start-up durch eine digitale Selbstauskunft der Lieferanten, die mit einem Risikomodell verknüpft ist und den Kunden Schwachpunkte in Bezug auf ihre Produktbedürfnisse und Firmenstandards aufzeigt.

Die Vorteile auf einen Blick

  • Einblick in die Fähigkeiten von Transportpartnern gemäß EU-GDP-Standard
  • Vergleichbarkeit der Fähigkeiten verschiedener Transportpartner
  • Bewertung der Fähigkeiten anhand eines Risikomodells
  • Nutzung der Risikokennzahlen als Auswahlindikator
  • Compliance-konforme Dokumentation der risikobasierten Transportauswahl für die Behörden
  • Senkung der Kosten für CAPAs (corrective and preventive actions)
  • Reduzierung der Entsorgungs- und Versicherungskosten
  • Einsparungen bei den Verpackungskosten
  • weniger Qualitätsprobleme beim Transport
  • Audit Trail
  • Validiertes SaaS-System

Elevator Pitch

Transporte risikobasiert auswählen
Mytigate ist darauf spezialisiert, Pharmaunternehmen und Spediteure bei der Auswahl von Transportdienstleistern im Sinne der EU-GDP zu unterstützen. Über eine mit einem Risikomodell verknüpfte Selbstauskunft der Transportdienstleister bekommen Pharmaunternehmen einen Einblick in deren Fähigkeiten, Prozesse, In­frastruktur sowie erworbene Zertifikate. Die besonderen Stärken werden unmittelbar transparent. Über Auswahlmöglichkeiten können Dienstleister einfach identifiziert werden, die bestimmte Anforderungen, z. B. EU-GDP-Zertifizierung, IATA CEIV-Zertifizierung oder Services für temperaturgeführte Produkte, erfüllen. Nach Auswahl und Dokumentation der Supply-Chain-Partner auf einer Strecke können anschließend der Strecke automatisiert ausgewählte Lane-Qualitätsdaten (z. B. durch Daten aus Temperaturloggern) zugeordnet werden, um die Qualität der Transporte zu überprüfen.

Meilensteine

2017

  • September 2017: Start des LOEWE3-Forschungsprojekts mit einer Finanzierung von 500.000 EUR durch das Land Hessen und 500.000 EUR finanziert durch die involvierten Partner
  • Dezember 2017: Gründung der Mytigate GmbH

2018/2019

  • Entwicklungsarbeit im Rahmen des LOEWE3-Forschungsprojekts

2020

  • Februar 2020: Auswahl für das X-Linker-Bootcamp des 5-HT Digital Hub Chemistry & Health Mannheim/Ludwigshafen
  • März 2020: Erfolgreicher Abschluss des Forschungsprojekts
  • April 2020: Letter of Intend der Firma GEFCO Forwarding Germany
  • April 2020: Letter of Intend der Firma Merz Pharma
  • Mai 2020: Abschluss des exklusiven Patent-Lizenzvertrags
  • Mai 2020: Start der operativen Tätigkeit

Roadmap
2020

  • Abschluss der Seed-Finanzierung
  • Anstellung weiterer Mitarbeiter*innen
  • Bewerbung für den House-of-­Logistics-&-Mobility-Inkubator
  • Akquise und Abschluss der ersten Lizenzverträge mit Pharma­unter­nehmen und Spediteuren

2021

  • Integration von Streckenwetterdaten in das Risikomodell
  • Expansion auf den US-amerikanischen und japanischen Markt

 

Kontakt

MYTIGATE GmbH

Eschborn

+49 172 2693329