Renaissance des 3D-Drucks
Als Wachstumsbeschleuniger und Klimaschützer steht der 3D-Druck vor einem neuen Boom
Mithilfe der additiven Fertigung lassen sich Prototypen, Ersatzteile oder Kleinserien schneller und wirtschaftlicher herstellen. Neue Druckverfahren und Materialien machen diese Technologie immer vielseitiger. Jetzt steht der 3D-Druck vor einem neuen Boom: Als ein wesentliches Element, um die Produktion und Supply Chain klimaneutral zu machen. Chemiekonzerne sollten diese Vorteile im eigenen Unternehmen nutzen und außerdem prüfen, welche wirtschaftlichen Perspektiven mit der Entwicklung neuer Materialien oder sogar Geschäftsmodelle verbunden sein könnten.
Aus den Augen, aus dem Sinn: Schon viele Produkte und Technologien konnten nicht ihr volles Potenzial ausspielen, weil sich die Zielgruppe anderen Themen zuwendete und plötzlich die Chance verpasst war, im Fokus der Aufmerksamkeit zu bleiben. Vorübergehend schien dies Schicksal auch dem 3D-Druck zu drohen. Eine Zeit lang galt die additive Fertigung bei der Diskussion über die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft als Schlüsseltechnologie der Zukunft. Unternehmen überlegten, ob sich damit die hochgradig individualisierte Herstellung von Produkten und so die Erfüllung aller Kundenwünsche realisieren ließe – Stichwort Losgröße Eins. Doch oft beschränkte sich die Nutzung der 3D-Drucker dann auf den Bau von Prototypen, um Entwicklungsprojekte zu beschleunigen oder die prinzipielle Machbarkeit von Vorhaben zu belegen. Irgendwann verdrängten neue Trends die additive Fertigung aus den Schlagzeilen.
Die additive Fertigung dürfte einen neuen Boom erleben
Unter dem Radar der breiten Öffentlichkeit aber blieb das Thema präsent und rückt nun wieder in den Fokus – spätestens, seitdem deutsche Konzerne massiv in 3D-Druck investieren. Siemens etwa forciert die strategische Partnerschaft mit HP, um Kunden bei der additiven Fertigung hochwertiger 3D-Druckteile zu unterstützen, in der Automobilindustrie bspw. der VW-Konzern.
Auch BASF intensiviert sein Engagement und eröffnete 2021 Standorte in Shanghai und Detroit, um Dienstleistungen wie die prädiktive Modellierung zu bieten. Zum Einsatz kommen Verfahren wie selektives Lasersintern, Fotopolymer-3D-Druck und Fused-Filament-Fertigungssysteme, bei denen Werkstücke schichtweise aus schmelzfähigem Kunststoff oder geschmolzenem Metall aufgebaut werden. Branchenkenner erwarten, dass sich der Umsatz mit 3D-Druck – 12,6 Mrd. USD in 2020 laut „Additive Manufacturing Trend Report“ – bis 2024 auf 25 Mrd. USD verdoppeln und 2026 bei 37 Mrd. USD liegen könnte. Dass deutsche Firmen hier viel Potenzial sehen, zeigt der „Digital Manufacturing Trend Report 2020“ von HP. Danach planen 79 % der Befragten, ihre Investitionen in die additive Fertigung zu erhöhen.
Der 3D-Druck kann erheblich zum Klimaschutz beitragen
Der Grund für das steigende Interesse liegt auf der Hand. Zwar hat sich an den bekannten Vorteilen der additiven Fertigung nur wenig geändert: Ersatz- oder Verschleißteile lassen sich jederzeit vor Ort anfertigen, Prototypen für Praxistests rascher fertigstellen, filigrane oder aus verschiedenen Komponenten bestehende Produkte – etwa komplette Getriebe – ohne weiteres Zusammenbauen in einem Arbeitsgang drucken. Doch der technische Fortschritt hat den 3D-Druck leistungsfähiger und preiswerter gemacht. Mit einer neuen Methode lassen sich etwa völlig dichte Keramikstrukturen per 3D-Druck für nur 5 % der Kosten von vergleichbaren Verfahren herstellen. Und vor allem: Viele Experten sehen in der additiven Fertigung eine Antwort auf die Frage, wie die Industrie ihre Klimaziele erfüllen und nachhaltiger werden kann.
Der technische Fortschritt hat den 3D-Druck
leistungsfähiger und preiswerter gemacht.
Wer den CO2-Ausstoß reduzieren will, muss nicht nur passende Materialien einsetzen und – auch per 3D-Druck – Produkte konsequent für die Kreislaufwirtschaft optimieren, sondern zudem die Logistik ökologischer ausrichten und dafür seine globalen Lieferketten neu denken. Das geht etwa, indem man Kleinserien und einzelne Ersatzteile dort druckt, wo sie gebraucht werden, statt sie in Containern über die Weltmeere zu transportieren – oder bei sofort benötigten Komponenten gar per Luftfracht. Flugzeughersteller z. B. nutzen den 3D-Druck, um Ersatzteile schnell dezentral bereitzustellen und damit die Standzeiten bei einer Wartung oder Panne zu verringern. Zusätzliche Dringlichkeit erhält die Beschäftigung mit dem Thema Supply Chain durch die Effekte der Coronapandemie. Unterbrochene Lieferketten haben in vielen Branchen erhebliche Versorgungsengpässe ausgelöst. Wer künftig auf kürzere, weniger komplexe Lieferketten setzt und dafür genug Material zum 3D-Drucken eingelagert sowie via Cloud den Zugriff auf die benötigten Baupläne hat, kann in einer vergleichbaren Situation trotz gestörter Supply Chain zumindest teilautonom operieren und produktionswichtige Teile drucken, statt Fertigungsstraßen zu stoppen.
Die Chemieindustrie als Schrittmacher der Entwicklung
Interessant ist das Thema 3D-Druck für viele produzierende Unternehmen – aber insbesondere die Chemieindustrie sollte als Schrittmacher agieren und die mit der additiven Fertigung verbundenen Chancen nutzen. Durch die Entwicklung neuer Materialien kann sie Impulse zum breiteren Einsatz dieser Technologie geben und so zugleich ihre Umsätze erhöhen. Sie kann als Druckdienstleister – allein oder mit Partnern – neue Services anbieten und weitere Kundengruppen erschließen. Und sie kann die eigene Produktentwicklung, Wartung und Instandhaltung sowie Supply Chain optimieren, um einen großen Schritt zu mehr Nachhaltigkeit sowie Klimaneutralität zu machen (siehe Kasten). Wichtig dabei ist, das Thema additive Fertigung ganzheitlich zu denken und dabei genau jene Einsatzbereiche zu identifizieren, die die größten Vorteile versprechen.
Insbesondere die Chemieindustrie sollte als Schrittmacher agieren
und die mit der additiven Fertigung verbundenen Chancen nutzen.
Mehr Umsatz durch neue Materialien und Geschäftsmodelle
Hochinteressant ist die Perspektive, neue Unternehmensbereiche und innovative Geschäftsmodelle aufzubauen. Beispielhaft dafür steht BASF. Die additive Fertigung blieb dort auf der Tagesordnung, als das Thema etwas aus den Schlagzeilen verschwand, und das Engagement beim 3D-Druck ist mit Blick auf die Kunden nun bei BASF 3D Printing Solutions gebündelt. Die Gesellschaft offeriert Systemlösungen, die etwa spezielle Materialien, maßgeschneiderte Ingenieurdienstleistungen sowie gezielte Anwendungsentwicklungen beinhalten. Zum Einsatz kommen neben bekannten Materialien für gängige 3D-Drucktechnologien neue Kunststoffe oder Harze und auch Metallfilamente, damit das Angebot viele Anwendungsbereiche abdeckt. Zu den wesentlichen Dienstleistungen zählt die Optimierung der Bauteilgeometrie sowie die Simulation von Bauteil- und Prozesseigenschaften mit Blick auf die Frage, welches das beste 3D-Druckverfahren für den individuellen Fall ist.
Auch andere Chemieunternehmen könnten ähnliche Geschäftsmodelle entwickeln, um Kunden den Zugriff auf leistungsfähige 3D-Drucker zu eröffnen. Sie könnten in Druckzentren oder bei Kunden stehen und vom Chemiekonzern betrieben oder zumindest regelmäßig gewartet sowie mit Material versorgt werden – ähnlich wie beim klassischen Geschäft mit Druckertinte und -toner. Ebenso vielversprechend ist die Entwicklung neuer Materialien, die den 3D-Druck attraktiver oder in vielen Bereichen überhaupt erst möglich machen. Als kommendes Einsatzfeld gilt etwa die Baubranche. Lanxess will Unternehmen dort mit nachhaltig produzierten, anorganischen Pigmenten beliefern, damit sich Betonwände in der Wunschfarbe drucken lassen, was später den Maler spart. Neue Materialmischungen könnten die Errichtung etwa karbonfaserverstärkter Betonwände erlauben, was dem 3D-Druck weitere Einsatzfelder und den Baubetrieben große Einsparpotenziale eröffnen würde – Drucken ist bis zu dreimal schneller als Maurern. Auch die seit 2016 technisch mögliche additive Fertigung von Silikon zeigt, welche Chancen mit innovativem 3D-Druck verbunden sind – etwa in der Medizintechnik. Und Covestro hat Thermoplastisches Polyurethan (TPU) für das Lasersintern entwickelt, aus dem sich widerstandsfähige sowie gleichzeitig flexibel Objekte drucken lassen – etwa Schuhe.
Selbstversorgung mit Ersatzteilen aus dem 3D-Drucker
Mit Forschung und Entwicklung, Anlagenplanung, Supply Chain oder Instandhaltung lassen sich auch interne Aufgaben durch den 3D-Druck optimieren. In der Entwicklung und Planung ist es etwa möglich, digital berechnete Modelle für Praxistests additiv herzustellen und auszuprobieren – so sind Miniaturen und ganze Versuchsanlagen realisierbar. Die Ergebnisse bilden die Basis für neue Computersimulationen und Tests, bis das Ergebnis stimmt. Evonik nutzt in Produktionsanlagen bereits Reaktoren aus dem 3D-Drucker. Wacker Chemie stellt Ersatzteile wie etwa Kettenglieder oder Propeller aus geeigneten Kunststoffen kostengünstig selbst her. Dies ist besonders sinnvoll, wenn Komponenten für alte oder einzigartige Anlagen benötigt werden. Außerdem lässt sich bei der additiven Fertigung das Design von Produkten leichter so verbessern, dass sie länger halten. Auch dadurch sorgt der 3D-Druck auf allen Ebenen für mehr Nachhaltigkeit und Klimaschutz.
Autor: Götz Erhardt, Geschäftsführer Chemie und Natural Resources, Accenture GmbH, Kronberg
ZUR PERSON
Götz Erhardt ist seit dem Jahr 2000 für Accenture tätig; seit 2015 hat er die Position des Geschäftsführers für den Bereich Grundstoffindustrie und Energie inne. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Beratungserfahrung mit Fokus auf die produzierende Industrie. Zu seinen Schwerpunktthemen zählen strategischer Wandel, Digitalisierung und Industrie 4.0 sowie marktorientierte Organisation. Erhardt studierte Philosophie an der Freien Universität Berlin und absolvierte einen MBA an der University of Bradford in Großbritannien.
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So können Chemieunternehmen vom 3D-Druck profitieren
- Wartung und Lieferkette optimieren: Ersatz- oder Verschleißteile für die Produktion können individuell vor Ort oder in regionalen Druckzentren genau dann angefertigt werden, wenn dafür ein Bedarf besteht. So lässt sich die Lagerung von Schrauben, Schaufeln oder Scharnieren in diversen Varianten erheblich reduzieren und die Supply Chain deutlich verkürzen. Statt Einzelteile um den Globus zu schicken, müssen nur die erforderlichen Druckmaterialien bevorratet werden.
- Anlagen und Produkte verbessern: Mithilfe von 3D-Druckern können reale Modelle neuer Teile oder sogar Anlagen hergestellt werden. Damit lässt sich in konkreten Tests die Praxistauglichkeit überprüfen oder das Design optimieren. Das ergänzt die Berechnungen oder Computersimulationen aus der Entwicklungsphase, beschleunigt erheblich die Markteinführung von Produkten oder die Inbetriebnahme von Anlagen und ist zugleich billiger als die bisherigen Vorgehensweisen.
- Neue Materialien entwickeln: Mit modernen 3D-Druckern lassen sich durch diverse additive Verfahren nicht nur einfache Gegenstände herstellen, sondern ebenso filigrane Konstruktionen, die aus verschiedenen Materialien bestehen. Chemieunternehmen können mit ihrer Materialkompetenz die Bandbreite an verfügbaren Compounds erweitern und dazu beitragen, mehr Einsatzbereiche für 3D-Druck zu finden – wie die additive Fertigung farbiger oder karbonfaserverstärkter Betonwände.
- Innovative Dienstleistungen anbieten: Kommen wesentliche Verbrauchsmaterialien für den 3D-Druck von der chemischen Industrie, ist es naheliegend, sich als Chemieunternehmen nicht nur auf die Lieferung der Werkstoffe zu beschränken. Als neues Geschäftsmodell könnte Kunden in allen Industriezweigen die Optimierung der Supply Chain angeboten und für sie eine breite Palette an Produkten gedruckt werden – in eigenen Servicezentren oder sogar auf dem Gelände des Kunden.