Forschung & Innovation

Quantencomputer: Nicht länger nur Science Fiction

Wie Quantencomputing die Chemieindustrie verändern könnte – und warum es dafür ein funktionierendes Anwenderökosystem braucht

16.11.2022 - Quantencomputer könnten die Entwicklung neuer Produkte in der Chemieindustrie deutlich beschleunigen.

Doch die deutsche Quantencomputing-Landschaft ist fragmentiert, der Einstieg bleibt auch für engagierte Unternehmen eine Herausforderung. Das BMBF-geförderte Projekt QuCUN möchte dies ändern und eine zentrale Anlaufstelle für Quantencomputing in Deutschland schaffen.

Quantencomputer gelten auch in der deutschen Wirtschaft vielen bislang noch als eine Form der Science Fic­tion – zu Unrecht. Der experimentelle Charakter der aktuellen Hard- und Software sowie die oft genannten langen Entwicklungszeiträume erwecken den Eindruck, dass es für Unternehmen opportun sein könnte, sich erst mit der kommerziellen Nutzung dieser neuen Technologie auseinander zu setzen, wenn diese „so weit ist“. Tatsächlich aber kann es für Unternehmen geboten sein, schon heute in die Entwicklung quantencomputer-basierter Anwendungen zu investieren, wenn sie in Zukunft ihre Stellung im Markt behalten wollen. Dies zeigt etwa das Beispiel der Entwicklung von Quantenanwendungen in der Chemieindustrie.

Materialwissenschaft und Katalyseforschung

Die Erforschung von Material- und Moleküleigenschaften spielt in der Chemiebranche eine bedeutende Rolle, bspw. bei der Entwicklung neuer Polymere. Ihre Verwendung ist heute aus unserem Alltag kaum mehr wegzudenken. Ob Autositze, Schuhsohlen oder Dämmmaterial – in allen kommen Polymere zum Einsatz. Zur Herstellung von Polymeren müssen unterschiedliche Substanzen chemisch miteinander reagieren: Polyole, Isocyanate, Wasser – und Katalysatoren. Sie sind die „Beschleuniger“ chemischer Reaktionen. Ohne die Zugabe geeigneter Katalysatoren würden die übrigen genannten Stoffe nur sehr langsam, nicht in gewünschter Weise oder gar nicht miteinander reagieren.

In der Chemieindustrie ist also die Entwicklung neuer Katalysatoren ein wichtiges Feld. Es besteht ein enormer Bedarf nach besseren Katalysatoren, die spezielle Reaktionen noch stärker beschleunigen, oder die kostengünstiger herzustellen sind. Darüber hinaus helfen uns die richtigen Katalysatoren, Reaktionen bei niedrigeren Temperaturen und unter geringerem Druck durchzuführen und so große Mengen an Energie zu sparen. Gerade angesichts aktueller Diskussionen über die Sicherheit und Nachhaltigkeit unserer Energieversorgung ist das Thema also sehr relevant.

Ein einfaches Beispiel macht die energiepolitischen Größenordnungen deutlich, um die es hier geht: Etwa 1 – 2 % des jährlichen weltweiten Energiebedarfs fließen heute allein in die Umsetzung des sog. Haber-Bosch-Verfahrens, mit dessen Hilfe weltweit Ammoniak für die industrielle Düngemittelproduktion hergestellt wird. Das dabei produzierte CO2 entspricht seinerseits 3 – 5 % der globalen Emissionen. Bis heute sichert dieses Verfahren jedoch auch die Ernährung von Milliarden von Menschen. Schon die Einsparungen, die sich aus der Entwicklung besserer Katalysatoren lediglich für diesen ausgewählten Anwendungsfall ergeben würden, wären also von globaler Bedeutung.

Quantenchemie als erster Anwendungsfall des Quantencomputing

Um neue Katalysatoren zu entwickeln, bedienen sich Unternehmen weiterhin umfangreicher Experimente. Immer selbstverständlicher werden diese aber auch durch computergestützte Simulationen und Machine Learning ergänzt. Durchbrüche in Hardware, Software, Algorithmen und Data Science haben zu einer fruchtbaren Symbiose von Experiment und Simulation bei der Entwicklung neuer Chemieprodukte geführt. So konnten Entwicklungszeiträume verkürzt und die Zahl nötiger Experimente reduziert werden. Mehr und mehr jedoch stoßen klassische Computer hierbei an ihre Grenzen. Insbesondere hochgenaue Verfahren der Quantenchemie, also quantenmechanische Rechenverfahren zur Beschreibung der elektronischen Struktur von Atomen und Molekülen, skalieren auf ihnen sehr schlecht. Die Rechenzeit, die sie für die Ermittlung exakter Lösungen benötigen, wächst exponentiell. Derartige exakte Verfahren müssen also mit den uns derzeit zur Verfügung stehenden Computern praktisch als nicht umsetzbar gelten. Sie sind für uns als moderne Industrienation indes wirtschaftlich „alternativlos“ – möchten wir die Vorreiterrolle unserer heimischen Chemieindustrie zukünftig weiter sichern und erhöhen, können wir auf quantenchemische Simulationen nicht verzichten.

Quantencomputer haben das Potenzial, derartige Simulationen in den Bereich des praktisch Möglichen zu rücken. Noch steckt die neue Technologie zwar in den Kinderschuhen. Doch Experten gehen davon aus, dass quantenchemische Anwendungen zu den ersten gehören werden, die kommerziell von Unternehmen eingesetzt werden können – womöglich noch innerhalb der sog. NISQ-Ära. NISQ steht für Noisy Inter­mediate-Scale Quantum. Der Begriff bezeichnet Quantencomputer, bei denen Qubits nicht lange genug stabil in ihren präparierten Zuständen verbleiben, um komplexe Rechnungen durchzuführen. Also eine „frühe“ Generation, deren Entwicklung bereits alles andere als Fantasie ist, sondern eine klare Perspektive der kommenden Dekade. Um die Vorteile des Quantencomputing rechtzeitig zu nutzen, müssen Anwendungsfälle und Algorithmen bereits heute aus der Wirtschaft heraus identifiziert und die Möglichkeiten und Grenzen der Hardware durch eigene Experimente auf NISQ-Rechnern erprobt werden. Nicht nur in der Chemie-, sondern in allen Industrien.

Fragmentierung und der schwere Einstieg in die Quantentechnologien

Es wäre jedoch müßig, sich im Bereich Quantencomputing auf reine Appelle an relevante Branchen, wie die Chemieindustrie (oder die Wirtschaft im Allgemeinen) zu mutigen Investitionen in innovative Technologien zu beschränken. Für Unternehmen, die sich mit den Potenzialen des Quantencomputing in ihrer Branche befassen wollen, bestehen weiterhin hohe praktische Hürden: In der Mehrzahl der deutschen Unternehmen ist das Know-how rund um den Bereich Quantencomputing keine Selbstverständlichkeit. Und auch für aktive Unternehmen bleibt es herausfordernd, Anwendungsfälle zu identifizieren und Algorithmen zu entwickeln. Dies führt dazu, dass einerseits viele Unternehmen den Einstieg in das Thema vollständig oder weitgehend vermeiden, oder andererseits engagierte Unternehmen mit großem Aufwand eigene Entwicklungswerkzeuge und Plattformen entwickeln.

Eine zentrale Anlaufstelle für Quantencomputing in Deutschland

Was es in dieser Phase braucht, ist ein Projekt, das darauf abzielt, die verstreute Quantennetzwerklandschaft in Deutschland zu vereinheitlichen und einen Entwurf für eine Softwareplattform mit einer Cloud-Schnittstelle zu erstellen, die es Nutzern ermöglicht, einfach auf Quantenalgorithmen zuzugreifen, darauf aufzubauen und sie für eigene Anwendungsfälle, wobei auch die Bedürfnisse der verschiedenen Nutzertypen berücksichtigt werden, zu nutzen. Zu diesen Nutzern sollten sowohl Unternehmen gehören, die bereits über Expertise im Quantencomputing verfügen, als auch solche, die die dringenden Herausforderungen ihrer Branche verstehen und prüfen möchten, ob die Technologie für diese geeignete Lösungen liefern kann.

Aus diesem Grund fördert das BMBF das Projekt „Quantum Computing User Network” (QuCUN) der Partner LMU, SAP, BASF und Aqarios, das eine zentrale Anlaufstelle für Anwendungen des Quantencomputing etablieren wird. Hierfür werden die Projektpartner eine einfach bedien­bare Plattform mit Analysetools entwickeln. Diese wird es erlauben, komplexe Fragestellungen mittels Quantencomputing zu lösen und so den Vorteil dieser neuen Technologie für konkrete Anwendungsfälle zu evaluieren. Darüber hinaus will QuCUN Lernmaterialien, Beratung und einen standardisierten Zugang zu Quantencomputing-Hardware bereitstellen.

Auf diese Weise trägt das Projekt dazu bei, ein Netzwerk für deutsche Quantencomputing-Anwender aufzubauen. Dies wird der deutschen Industrie – allen voran wichtigen Vorreiterbranchen wie der Chemie­industrie – einen einfachen Zugang zur Technologie ermöglichen und der Fragmentierung unterschiedlicher Quantencomputing-Netzwerke und Communities entgegenwirken.

Autoren: Horst Weiß, Vice President Next Generation Computing, BASF SE, Ludwigshafen
Claudia Linnhoff-Popien, Leiterin des Lehrstuhls für Mobile und Verteilte Systeme, Institut für Informatik, Ludwig-Maximilians-Universität, München

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