Neue Materialien: Potenzielle Alleskönner in der Nische
Auf dem Weg zum breiten Markterfolg ist ein interdisziplinäres Miteinander von Wissenschaft und Wirtschaft gefragt
Neue Materialien sind seit jeher ein Schrittmacher für Innovation und Fortschritt. Das war früher bei der Entwicklung des Stahls oder des Kunststoffs so, und dies gilt auch für die aktuelle Agenda, auf der z. B. funktionale Folien, Biokunststoffe oder innovative Leichtbau- und Speichermaterialien ganz oben stehen. Noch ist ihnen oftmals nur der Erfolg in der Nische sicher, doch diese und andere Materialien haben das Zeug zu mehr, wenn sie von starken Partnern gemeinsam auf die Erfordernisse der Märkte ausgerichtet werden.
Diese Chancen und Herausforderungen wurden auf dem Symposium „Markterfolg durch Spitzentechnologie" der Unternehmensberatung Management Engineers und der Technischen Universität München (TUM) diskutiert. Die von Prof. Dr. Utz-Hellmuth Felcht moderierte Veranstaltung war einmal mehr Treffpunkt hochkarätiger Experten aus Wirtschaft und Wissenschaft. Über einen Punkt bestand sofort Einigkeit: Neue Materialien sind alles andere als ein Selbstzweck. Vielmehr können sie überzeugende Antworten auf eine Vielzahl globaler Megatrends bieten. Klimaschutz und Ressourceneffizienz stehen hier sicherlich an vorderster Front. Aber auch neue Anwendungsfelder in den Bereichen Healthcare und Infotainment versprechen lukrative Marktchancen.
Doch natürlich ist es von der ersten Innovationsidee bis zum marktfähigen Produkt ein steiniger Weg. „Der viel zitierte lange Atem allein reicht hier nicht aus", wie Dr. Hanno Brandes, Geschäftsführer von Management Engineers, betonte: „Neue Materialien sind komplexe Brückentechnologien, die ein Agieren in Gesamtsystemen erfordern. Nötig ist ein interdisziplinäres Miteinander von Wissenschaft und Wirtschaft, wie es an der TUM beispielhaft vorgelebt wird." Eine der herausragenden Initiativen stellte TUM-Präsident Prof. Dr. Wolfgang A. Herrmann mit dem Forschungscluster „Electromobility Beyond 2020" vor. Hierin arbeiten immerhin mehr als 25 Lehrstühle der Münchener Universität gemeinsam mit weiteren Forschungsinstituten sowie vielen Industriepartnern, darunter die wichtigsten Automobilproduzenten Deutschlands, zusammen.
Entwickeln mit Langfristperspektive
Die Entwicklungsperspektive dieses Clusters wurde ganz bewusst auf den Zeitraum nach 2020 gelegt, wie Prof. Dr. Hubert Gasteiger, Leiter des Lehrstuhls für Technische Elektrochemie der TUM, am Beispiel elektrochemischer Materialien zur Energiespeicherung aufzeigte: „Das Potential von Lithium-Ionen-Batterien, wie sie in den nächsten Jahren zum Einsatz kommen werden, ist im Hinblick auf Energiedichte, Gewicht und Lebensdauer begrenzt. Auch langfristig werden wir mithilfe dieser Technologie keine Elektromobilität entwickeln können, die mit Reichweiten von 500 km vergleichbar zu heutigen Fahrzeuganforderungen und gleichermaßen kosteneffizient wie betriebssicher ist."
Es muss daher schon jetzt an der Entwicklung neuartiger Batterien, z. B. auf Lithium-Schwefel- oder Lithium-Luft-Basis gearbeitet werden, die eine zwei- bzw. dreimal höhere spezifische Energie versprechen - allerdings mit einer Realisierungsperspektive von rund zehn bzw. 20 Jahren. Weitere Herausforderungen in diesem Zuge sind eine Verbesserung der Lade-/Entlade-Geschwindigkeit sowie eine Erhöhung der Lebensdauer. Dies wiederum erfordert die Entwicklung neuer Elektrodenmaterialien und neuer Designkonzepte - und zwar auch, um dem Thema Lebensdauer bei diesen offenen Systemen ausreichend Rechnung zu tragen.
Abgesehen von der Batterietechnologie gibt es viele weitere offene Punkte, deren Klärung essenziell ist, wenn es zu einer hohen Marktdurchdringung der Elektromobilität kommen soll. Hierzu gehören Themen aus der Elektrotechnik, dem Maschinenbau, der Informatik und den Wirtschaftswissenschaften. All dies sind Aufgaben, die nicht im Alleingang, sondern nur interdisziplinär vernetzt und lehrstuhlübergreifend sowie mit zukunftsweisenden Partnerschaften in der Industrie zu bewältigen sind.
Dazu gehört unbedingt eine ausgleichende Gewichtsreduktion beim Fahrwerk, denn leistungsfähige Batteriesysteme werden auch künftig mehrere Hundert Kilogramm wiegen. Leichtbau ist daher ein Megatrend der Autobranche - gleichsam als „siamesischer Zwilling der Elektromobilität".
Blick für die Märkte schärfen
Für Aufsehen hat zuletzt das Vorhaben von BMW gesorgt, schon in weniger als drei Jahren erste Karosserien komplett aus Kohlenstofffasern zu bauen - und zwar serienmäßig. Über das Material- und Verarbeitungs-Know-how verfügt das Wiesbadener Spezialunternehmen SGL, das über ein Joint Venture mit BMW verbunden ist. Dr. Gerd Wingefeld, Mitglied des Vorstands der SGL Group, stellte die Vorteile der Kohlefasern klar heraus: „Kein Material ist leichter, fester oder steifer - selbst gegenüber Aluminium beträgt die Gewichtsersparnis noch rund 25 %. Angesichts dieser Vorteile hat Carbon längst Einzug in die Industrie gehalten. Flugzeuge neuester Bauart bestehen zu rund 50 % daraus, und auch Windrotorblätter mit einer Länge von 60 m nutzen die besonderen Eigenschaften."
All dies sind gute Argumente für ein weiterhin zweistelliges Marktwachstum - gerade auch in noch jungen Anwendungsfeldern wie der Bautechnik. Gleichwohl wird Carbon bis zum Ende dieser Dekade mit gut 100.000 t Jahresproduktion ein Nischenprodukt bleiben. Zum Vergleich: Die weltweite Jahresproduktion von Aluminium liegt derzeit bei 45 Mio. t, die von Stahl sogar bei 1,4 Mrd. t.
Herstellprozesse automatisieren
Nach Einschätzung von Prof. Dr. Klaus Drechsler, Leiter des Lehrstuhls für Carbon Composites der TUM, muss künftig insbesondere an drei Randbedingungen gearbeitet werden, um das große Potential von Carbon wirtschaftlich rentabel ausschöpfen zu können: Energieeffizienz über die gesamte Wertschöpfungskette, Composite-gerechtes Design und Engineering sowie eine voll automatisierte, integrierte Fertigungskette. Klaus Drechsler: „Noch erfordert Carbon, z. B. im Automobil- und Flugzeugbau, viel kostenintensive Handarbeit. Um hier den Übergang zu einem großvolumigen, automatisierten Herstellprozess zu erreichen, können neue Verarbeitungstechniken in Form textiler Preform-Verfahren genutzt werden, die eine Faserverarbeitung im Minuten- statt im Stundentakt ermöglichen."
Dem pflichtete Gerd Wingefeld bei: „Wenn wir die Zykluszeiten nach unten und damit die Wirtschaftlichkeit der Carbon-Verarbeitung nach oben bringen wollen, müssen wir ganzheitlich denken. Nicht von ungefähr hat die SGL Group ihre Kompetenzen auf dem Zukunftsfeld in den letzten Jahren durch Forschung, Kooperation und Akquisition systematisch ausgebaut."
Neue Ideen gemeinsam marktfähig machen
Auch für Bernd Steinhilber, Leiter der Einheit Functional Films bei Bayer MaterialScience, sind geeignete, leistungsfähige Partner, mit denen sich Zukunftsideen nicht nur diskutieren, sondern gemeinsam voranbringen lassen, ein absolutes Muss. Sein Feld sind die funktionalen Folien, also Folien, deren Oberfläche oder Struktur mit zusätzlichen Eigenschaften aufgewertet werden. Sie machen z. B. das Trägermaterial leit-, leucht- oder speicherfähig und eröffnen damit ungeahnte Möglichkeiten.
Beispiel Fernseher: Ist heute ein LCD-Flachbildschirm das Nonplusultra, so soll es in Zukunft dank funktionaler Folien ein faltbarer Bildschirm mit einer zuvor nie erreichten Bildqualität sein. Doch Bernd Steinhilber denkt noch weiter. Perspektivisch ist für ihn die realitätsgetreue, holografische Projektion von Fernsehbildern auf Fensterscheiben das Maß aller Dinge - realisiert mittels integrierter, holografisch modifizierter Folien, z. B. aus Polycarbonat. Angesichts ihrer exzellenten Eigenschaften bieten sich diese Folien auch für andere Anwendungen wie z. B. zur Verbesserung der Fälschungssicherheit von Sicherheitskarten oder Führerscheinen an.
Über aktuelle Trends und Entwicklungen im Hinblick auf einen beginnenden Rohstoffwandel in der Kunststoffindustrie berichtete Dr. Georg Oenbrink von Evonik Degussa. Auch wenn der Marktanteil an „Biobased Plastics" im Jahre 2020 nach aktuellen Studien bei nur 2 bis 3 % des gesamten Kunststoffmarktes liegen wird, so ist doch mit einem überdurchschnittlichen Wachstum biobasierter Kunststoffe (bio-abbaubar und nicht biologisch abbaubar) zu rechnen. Einen grundlegenden Feedstock-Wandel in der Kunststofferzeugung erwartet Dr. Oenbrink in der nächsten Dekade allerdings nicht.
Sowohl bei den großvolumigen Massenkunststoffen, aber auch bei den technischen Kunststoffen und Hochleistungskunststoffen wurden von den Rohstoffherstellern erste biobasierte Produkte in den Markt eingeführt. Dabei geht ein spürbarer Market Pull von den wichtigen Abnehmerbranchen Automobilbau, Elektronik/Elektrotechnik, Verpackung und Sport aus. „Der Markt verlangt schon heute bekannte und eingesetzte Kunststoffe mit der gleichen Performance und Qualität, der gleichen Verfügbarkeit, mindestens gleichen, aber eher niedrigeren Preisen - jedoch zu 100 % biobasiert!", so Dr. Oenbrink.
Die absehbare Verknappung von Rohöl und die allgemein erwarteten mittelfristig steigenden Ölpreise gehören zu den Treibern dieser Entwicklung, spielen aber derzeit nur eine untergeordnete Rolle. Dass darüber hinaus Absatzpotential besteht, zeigt sich an den Sustainability-Strategien großer Konzerne auf der Abnehmerseite: Toyota, Sony und andere sehen in den nächsten Jahren eine deutliche Steigerung beim Einsatz biobasierter Werkstoffe in ihren Produkten vor.
Diese Beispiele zeigen: Die Tür zum breiten Markterfolg für neue Materialien öffnet sich oft nur spaltweise, aber gänzlich verschlossen bleibt sie selten.
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