NAMUR Open Architecture
NOA ebnet den Weg zur Digitalisierung in der prozesstechnischen Produktion
CHEManager: Was ist die grundlegende Idee für die Entwicklung der NAMUR Open Architecture?
Michael Pelz: NOA hat das Ziel, Produktionsdaten einfach und sicher nutzbar zu machen, insbesondere für Anlage- und Geräteüberwachung, also das Monitoring, und für Optimierungen – sowohl in bestehenden Brownfield- als auch in neuen Greenfield-Anlagen. Die Grundidee besteht in der Einführung einer offenen Schnittstelle zwischen der bestehenden Kern-Prozessautomatisierungs-Domäne und der neu definierten Monitoring and Optimization (M+O)-Domäne. Diese Schnittstelle wird anhand von Anwendungsfällen aus Industrie 4.0 und Digitalisierung definiert.
Damit können wir die Konvergenz der hochinnovativen IT-Entwicklungen mit den bestehenden OT-Automatisierungssystemen strukturiert gestalten und dabei die Vorteile moderner Informationstechnologie (IT) und bewährter Betriebstechnik (OT) nutzen. Nur durch die Strukturierung dieser Entwicklungen von Anfang an können wirklich offene, interoperable und skalierbare Lösungen entstehen, die durch Industrie 4.0 und Digitalisierung zusätzlichen Wert schaffen und gleichzeitig den stabilen und zuverlässigen Betrieb der bestehenden Automatisierungslösungen erhalten.
Jan De Caigny: Die Geschwindigkeit, mit der Innovationen in der Prozessautomatisierung oder der Betriebstechnik umgesetzt werden, hinkt der der modernen IT hinterher. Das Ebenenmodell für die Automatisierung in der Prozessindustrie, auch Automations-Pyramide, NAMUR-Pyramide, Multi-Level-Modell, Ebenen-Modell oder Purdue Enterprise Reference Architecture genannt, ist seit vielen Jahren weit verbreitet und unterstützt den langfristig stabilen und zuverlässigen Betrieb von Prozessanlagen. Allerdings fehlt es den nach dieser Struktur aufgebauten Automatisierungssystemen an Offenheit, neue Technologien werden mit Verzögerungen umgesetzt und die Kosten dafür sind hoch. Angesichts der rasanten Entwicklungen im Zusammenhang mit dem industriellen Internet der Dinge (IIoT), Industrie 4.0, mobilen Geräten, Cloud Computing oder Big Data ist diese traditionelle Architektur zu einer Hürde für schnelle Innovationen in der Prozessindustrie geworden.
Der Hauptvorteil des NOA-Ansatzes besteht darin, dass die Kern-Prozessautomatisierung (Core Process Control, CPC) weitgehend unbeeinflusst bleibt, was NOA für Industrie 4.0-Innovationen in Altanlagen besonders attraktiv macht. Dies ist unerlässlich, denn viele Prozessanlagen haben einen Gesamtlebenszyklus von über 40 Jahren und ihre Automatisierungssysteme bleiben typischerweise 20 bis 25 Jahre in Betrieb.
Und wie soll das Ganze funktionieren?
J. De Caigny: Die Grundidee von NOA ist die Einführung einer offenen Schnittstelle zwischen der bestehenden Kern-Prozessautomatisierungs-Domäne und der neu definierten M+O-Domäne. Diese Schnittstelle wird anhand von Anwendungsfällen aus Industrie 4.0 und Digitalisierung definiert. Mit anderen Worten, der klare Fokus von NOA liegt darauf, Anwendungsfälle innerhalb der M+O-Domäne zu ermöglichen, indem Daten der Prozessautomatisierung für M+O-Zwecke parallel zu den bestehenden Automatisierungsstrukturen bereitgestellt werden.
In den vergangenen Jahren wurde immer wieder über das Ende der Automatisierungspyramide diskutiert – soll die jetzt künstlich wiederbelebt werden?
M. Pelz: Die NAMUR-Pyramide stellt immer noch eine ausgereifte und hochverfügbare Automatisierungsarchitektur dar, weshalb wir sie auch nicht plötzlich auflösen können. Entsprechend strukturierte Systeme ermöglichen der Prozessindustrie einen nachhaltigen Betrieb mit gänzlich längeren Lebenszyklen als in vielen anderen Bereichen. Durch den Einsatz von NOA und MTP, wird es aber möglich wesentlich flexiblere und modularere Konzepte in Kombination zu nutzen, und somit schrittweise eine Veränderung zu neuen zukünftigen Strukturen zu ermöglichen, mit vertretbarem Aufwand und Risiko.
J. De Caigny: Die Automatisierungspyramide ist eine bewährte, allgemein anerkannte und gut etablierte Automatisierungsstruktur, die im Wesentlichen aus vier Ebenen besteht. In der Feldebene (Ebene 1) findet die physikalische Interaktion mit dem Prozess über Sensoren und Aktoren statt. Die Prozessleitebene (Ebene 2) konzentriert sich auf eine stabile und zuverlässige Prozessautomatisierung und den Anlagenbetrieb, einschließlich der Mensch-Maschine-Schnittstelle (HMI) für die Anlagenbetreiber. Um dies zu erreichen, muss eine große Datenmenge aus der Feldebene unter strengen Anforderungen an die Echtzeitfähigkeit und Systemverfügbarkeit verarbeitet werden. Auf der Betriebsleitebene (Ebene 3) werden verdichtete und kontextualisierte Informationen verarbeitet, so dass die Echtzeitanforderungen im Bereich von Minuten oder Stunden liegen. Die Geschäfts- und Logistiksysteme einschließlich der Unternehmensressourcenplanung finden sich in Ebene 4.
Aufgrund des technischen Fortschritts können die Funktionalitäten mehrerer dieser Ebenen – insbesondere bei kleineren Anlagen – inzwischen in übergeordneten Systemen realisiert werden. Das heißt, es gibt keine direkte Eins-zu-Eins-Entsprechung zwischen der Funktionsebene und der Implementierung in getrennten Systemen mehr.
„Wir haben für NOA sechs Leitsätze definiert, die die Entwicklung und Umsetzung des Konzepts regeln.“
NOA soll also den Spagat schaffen, Bewährtes zu erhalten und gleichzeitig technologische Fortschritte zu implementieren. Wie genau soll das geschehen?
M. Pelz: Wenn man unter dem Spagat keine Notlösung versteht, kann man das so sagen. Wir haben für NOA sechs Leitsätze definiert, die die Entwicklung und Umsetzung des Konzepts regeln: NOA soll die bestehende und bewährte Automatisierungsarchitektur additiv ergänzen und erweitern, also offen für neue Ansätze innerhalb von Industrie 4.0 sein, Das macht unser Konzept somit besonders für Altanlagen so interessant. Wir konzentrieren uns auf M+O Anwendungsfälle und nicht auf die Anlagenautomatisierung und -bedienung und ermöglichen so neue Ansätze, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle, die im Rahmen von Industrie 4.0 entwickelt werden. Eine wichtige Forderung von uns ist die Offenheit: NOA muss offen und interoperabel, nicht proprietär sein, also unabhängig von einzelnen Anbietern. Das erreichen wir durch die Verwendung bestehender offener Standards, und damit ermöglichen wir gleichzeitig die Integration von sich schnell ändernden IT-Komponenten, lokal und global, vom Feld bis zur Unternehmensebene.
J. De Caigny: NOA M+O ist nicht für die Kern-Prozessautomatisierung verantwortlich und erlaubt somit die Verwendung weniger strenger Anforderungen an seine Systemkomponenten, was wiederum die Nutzung von IT-Technologien für alle Systemkomponenten eröffnet. Somit können wir die Kosten pro Information durch offene, skalierbare und integrative Ansätze deutlich reduzieren. Innovative Monitoring- und Optimierungsanwendungen haben einen klaren Fokus auf die Kosten und den Nutzen für die aus der Produktionsanlage gewonnene Information, indem sie die Frage stellen: „Was ist der Mehrwert einer Information und wie viel kostet es, sie zu sammeln?“ NOA wird Möglichkeiten zur Senkung der Gesamtkosten pro Information ermöglichen, die sich aus einer Kombination von Sensorkosten, Anschlusskosten, Engineeringkosten, Montagekosten, Inbetriebnahmekosten sowie Wartungs- und Lebenszykluskosten zusammensetzen. Die Verfügbarkeit und Sicherheit bestehender Automatisierungssysteme wir dabei nicht gefährdet. NOA-Lösungen können eine geringere Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit aufweisen als die bestehenden Automatisierungslösungen in der Kernprozess-Automatisierung, dürfen aber nicht die Stabilität, Verfügbarkeit, Sicherheit und Zuverlässigkeit der Kern-Prozessautomatisierung beeinträchtigen.
Sie haben den wirtschaftlichen Nutzen betont, den NOA bringen soll – gleichzeitig gibt es Anforderungen nach mehr Flexibilisierung und damit verbunden Modularisierung in prozesstechnischen Fertigungsanlagen – wie passt das mit NOA zusammen?
J. De Caigny: NOA wurde nur wenige Jahre nach der Modular Automation Initiative gemäß NAMUR-Empfehlung NE 148 und VDI/VDE/NAMUR-Richtlinie 2658 und mehr oder weniger zeitgleich zum Konzept von Open Process Automation für zukünftige Automatisierungssysteme vorgestellt. Im Rahmen dieser schnellen Weiterentwicklungen kann es für die Endanwender komplex werden, zu verstehen, welche dieser Technologien für sie relevant sind und ob sie sich gegenseitig ausschließen oder ob es möglich ist, sie und ihre Vorteile in einer Anlage zu kombinieren.
Um die Möglichkeit der Koexistenz dieser Technologien in einem Produktionswerk zu bewerten, ist es wichtig, das Ziel jedes der drei Ansätze hervorzuheben:
- NOA soll neue Digitalisierungs- und Industrie 4.0-Anwendungsfälle besonders in bestehenden Anlagen ermöglichen und hat einen klaren Fokus auf Monitoring und Optimierung; die Kern-Prozessautomatisierung bleibt weitgehend unberührt.
- Die modulare Produktion soll die Flexibilität von Produktionsanlagen erhöhen, um den sich schnell ändernden Marktanforderungen der Chemie und Pharmazie gerecht zu werden, indem die Prozesstechnologie, die mechanische Konstruktion und die Automatisierungstechnik (durch das MTP) modularisiert werden. Dies wird die Integration von Modulen in den Core Process Control-Bereich erheblich erleichtern.
- Die Open Process Automation OPA wird mit dem Ziel entwickelt, die Ära der proprietären Automatisierungslösungen zu beenden und eine standardbasierte, offene, sichere und interoperable Prozessautomatisierungsarchitektur zu definieren, sowohl hardware- als auch softwaremäßig.
M. Pelz: Ausgehend von den unterschiedlichen Zielen, die hinter diesen Initiativen stehen, ist klar, dass alle drei Technologien harmonisch in derselben Produktionsanlage nebeneinander existieren können/müssen, wobei jede auf ihre Weise einen Mehrwert für den Produktionsprozess darstellt. In Zukunft könnte eine Anlage über ein Kern-Automatisierungssystem verfügen, das auf dem OPA-Standard basiert, dann flexibel mehrere mit einem MTP ausgestattete Package-Einheiten integriert und NOA M+O-Anwendungen und -Dienste für die Kern-Automatisierung wie auch für die Package-Einheiten nutzt, um das Verhalten der physischen Anlage und der Prozesse zu überwachen und zu optimieren.
Damit dieses Szenario Realität wird, ist eine enge Zusammenarbeit zwischen allen Initiativen erforderlich. Genau das ist das Ziel der NAMUR, durch die intensive und sehr positive Kooperation mit dem ZVEI zu den Themen NOA und MTP und durch die enge Verbindung zum Open Process Automation Forum für die OPA-Entwicklung, die zwingend notwendige Interoperabilität langfristig sicherzustellen.
„Der Hauptvorteil des NOA-Ansatzes besteht darin, dass die Kern-Prozessautomatisierung weitgehend unbeeinflusst bleibt.“
Über NOA kommen die Core Process Control und die Firmen-IT-Systeme – möglicherweise auch Cloud-Plattformen – schneller und einfacher miteinander in Kontakt. Wie kann da noch die Cyber Security für die CPC gewährleistet werden?
M. Pelz: Ein wichtiges Thema hinsichtlich der Anlagenverfügbarkeit und Automatisierungssicherheit ist, dass der NOA-Kommunikationskanal frei von Rückkopplungen in den CPC-Bereich ist. Es muss sichergestellt sein, dass es keinerlei ungewollte und unkontrollierte Rückmeldungen aus dem zweiten Kommunikationskanal gibt, die die primäre Kommunikation oder die primären Systeme in irgendeiner Weise verändern.
J. De Caigny: Aktuelle Kommunikationsprotokolle verhindern diese Rückmeldungen nicht. Daher müssen technische und/oder betriebliche Gegenmaßnahmen ergriffen werden, um die Änderung der primären Kommunikation oder Konfigurationsänderungen am Gerät über die zweite Schnittstelle zu verhindern. Aus diesem Grund gibt es innerhalb von NOA auch ein entsprechendes Security-Konzept, in dem z.B. Gegenmaßnahmen durch die „NOA Diode“ repräsentiert werden. Der Name beschreibt den einseitig gerichteten Datenfluss, definiert aber keine technische Lösung. Die erforderliche Funktionalität kann technisch auf verschiedene Weise realisiert werden. Explizit für dieses Thema wird es eine weitere eigenständige NE geben, die NE 177.
M.Pelz: Darüber hinaus sieht das NOA Konzept vor, dass Optimierungsvorschläge die von M+O-Anwendungen erstellt wurden, auch zurück in die CPC-Domäne fließen können. Um solche Rückmeldungen zukünftig zu ermöglichen ist ein „Verification of Request“ (VOR) als sichere und überwachte Schnittstelle im NOA-Konzept vorgesehen. Das ist der nächste Entwicklungsbereich für NOA.
Bitte formulieren Sie zum Schluss in einem Satz, wie NOA schnellstmöglich Realität in prozesstechnischen Anlagen werden kann.
M. Pelz: Durch den flexiblen Einsatz von NOA, parallel zur bestehenden Prozessautomatisierung, können erste Projekte mit geringem Budget und Risiko umgesetzt werden, wobei die Interoperabilität die Investitionssicherheit langfristig garantiert. Diese Kombination ist wichtig für eine möglichst breite Akzeptanz.
J. De Caigny: Durch den starken Fokus auf Use Cases, die uns als Anwender einen wirklichen Mehrwert liefern, und durch die enge Zusammenarbeit zwischen NAMUR, ZVEI und der akademischen Welt hat NOA alle Chancen, sehr schnell in marktreifen Produkten verfügbar zu sein.
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