Mehr ist nicht immer besser
Sind wir auf dem Weg vom Sicherheitsdatenblatt zum Sicherheitsdatenbuch?
Bis zum 31. Mai 2007 bestimmte die Gefahrstoffverordnung, dass derjenige, der als Hersteller, Einführer oder erneuter Inverkehrbringer gefährliche Stoffe oder Zubereitungen in den Verkehr bringt, den Abnehmern spätestens bei der ersten Lieferung des Stoffes oder der Zubereitung ein Sicherheitsdatenblatt nach Artikel 27 der Stoffrichtlinie (67/548/EG) bzw. der Zubereitungsrichtlinie (88/379/EWG) zu übermitteln hat. Ausführliche Erläuterungen zu den rechtlichen Vorgaben enthielt die Technische Regel Gefahrstoffe 220 - Sicherheitsdatenblatt.
Mit diesem Rechtsrahmen wurden Sicherheitsdatenblätter erstellt und in der Lieferkette kommuniziert - mit der Bestimmung, „dem berufsmäßigen Anwender die bei Tätigkeiten mit Stoffen und Zubereitungen notwendigen Daten und Umgangsempfehlungen zu vermitteln, um die für den Gesundheitsschutz, die Sicherheit am Arbeitsplatz und den Schutz der Umwelt erforderlichen Maßnahmen treffen zu können." Dieses Zitat ist der Bekanntmachung 220 - Sicherheitsdatenblatt entnommen, die im Jahr 2007 die TRGS 220 ablöste - nachdem die Regelungen zum Sicherheitsdatenblatt seit dem 1. Juni 2007 in Titel IV der REACh-Verordnung enthalten sind und damit die Basis für eine TRGS entfallen war. Denn eine TRGS kann nur das erläutern, was im deutschen Chemikalienrecht geregelt ist.
Handlungsbedarf
Außer marginalen formalen Anpassungen der Sicherheitsdatenblätter löste die Neuordnung der Rechtsgrundlagen für das Sicherheitsdatenblatt jedoch für die Unternehmen keinen praktischen Handlungsbedarf aus. Dieser Handlungsbedarf entwickelte sich erst in der jüngeren Vergangenheit und kumulierte sich auf das Implementierungsdatum 1. Dezember 2010. Im Grundsatz mussten bis zu diesem Datum vor allem aus zwei Gründen substantielle Aktualisierungen der Sicherheitsdatenblätter erfolgen. Zum einen ergibt sich diese Notwendigkeit aus der Neufassung des Anhangs II der REACh-Verordnung. Zum anderen müssen Stoffe seit dem 1. Dezember den Einstufungs- und Kennzeichnungsbestimmungen der CLP-Verordnung entsprechen und diese im Sicherheitsdatenblatt enthalten sein. Nicht auf eine feste Frist bezieht sich die Maßgabe, dass dann, wenn ein Stoff nach REACh registriert wurde, dem Nachgeschalteten Anwender vom Registranten ein Sicherheitsdatenblatt mit angehängten Expositionsszenarien übermittelt werden muss. Der mit diesen Pflichten verbundene Handlungsbedarf soll im Folgenden näher beschrieben werden.
Mit der Ende Mai 2010 im Amtsblatt der EU veröffentlichten Verordnung Nr. 453/2010 wurde der Anhang II der REACh-Verordnung neu gefasst. Durchaus außergewöhnlich ist, dass die VO 453/2010 die Neufassung des Anhangs II zweimal enthält. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, das Gemische bis zum 1. Juni 2015 sowohl nach altem Recht - also der Zubereitungsrichtlinie - als auch optional nach den Vorgaben der CLP-Verordnung eingestuft und gekennzeichnet werden können. Dies berücksichtigt die erste Fassung des Anhangs II (dort bezeichnet als Anhang I) in der VO 453/2010. Die zweite Fassung des Anhangs II ist die, die ab dem 1. Juni 2015 - dem Datum, ab dem dann auch Gemische gemäß CLP eingestuft und gekennzeichnet sein müssen - gilt.
Vorgaben für Stoffe
Die Neufassung des Anhangs II macht es erforderlich, alle Sicherheitsdatenblätter auf das neue Format und die nun erforderlichen neuen Inhalte umzustellen. Da dies überwiegend in IT-gestützten Prozessen geschieht, mussten in einem ersten Schritt die entsprechenden IT-Tools angepasst werden. Da die IT-Provider mit diesen Anpassungen erst im Juni beginnen konnten, war schnell klar, dass die Zeit bis zum 1. Dezember nicht ausreicht, um alle Sicherheitsdatenblätter für Stoffe bis zum 1. Dezember an die Vorgaben des neuen Anhangs II anzupassen. Zeit bis zum 1. Dezember 2012 hat diese Anpassung allein für die Lieferung der Stoffe, die bereits vor dem 1. Dezember 2010 in Verkehr gebracht wurden.
Unabhängig von dem durch die Neufassung des Anhangs II verursachten Änderungsbedarf bzw. darüber hinaus muss ein Sicherheitsdatenblatt für einen Stoff seit dem 1. Dezember auch die Einstufung und Kennzeichnung gemäß der CLP-Verordnung enthalten - wohingegen die CLP-Einstufungs- und Kennzeichnung erst bis zum 3. Januar 2011 an die Europäische Chemikalienagentur ECHA zu melden ist.
Vorgaben für wässrige Lösungen
Durchaus schwierig gestaltete sich die Beantwortung der Frage, ob wässrige Lösungen im Sinne von CLP als Stoffe oder aber als Gemische anzusehen und demgemäß die Umstellung bei Einstufung, Kennzeichnung und Angaben im Sicherheitsdatenblatt noch bis zum 1. Dezember 2010 oder aber erst bis zum 1. Juni 2015 erfolgen muss.
Vorgaben für Gemische
Noch komplizierter als für Stoffe stellen sich die Vorgaben für Gemische dar:
- Wird ein Gemisch erstmals nach dem 1. Dezember 2010 in Verkehr gebracht, muss das Sicherheitsdatenblatt Anhang II der REACh-Verordnung (i. d. F. des Anhangs I der VO 453/2010) entsprechen.
- Wurde ein Gemisch einem Abnehmer mindestens einmal vor dem 1. Dezember 2010 zur Verfügung gestellt, muss das Sicherheitsdatenblatt bis zum 30. November 2012 nicht dem Anhang I der Verordnung 453/2010 entsprechen;
- Wurde ein Gemisch bereits vor dem 1. Juni 2015 in Verkehr gebracht, muss für diese Lieferung das Gemisch nicht vor dem 1. Juni 2017 durch ein Sicherheitsdatenblatt nach Anhang II der Verordnung 453/2010 ersetzt werden.
Expositionsszenarien
Keine Übergangsfrist gibt es für die dritte und letztliche gravierendste Vorgabe, nämlich dem Sicherheitsdatenblatt im Anhang Expositionsszenarien beizufügen. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass diese Maßgabe „nur" für als gefährlich eingestufte Stoffe und Gemische gilt, die in Mengen über 10 t/a registriert wurden und für die daher eine Stoffsicherheitsbeurteilung durchgeführt und ein Stoffsicherheitsbericht erstellt wurde. Die Expositionsszenarien, die im Rahmen der Stoffsicherheitsbeurteilung entwickelt werden, umfassen insbesondere Verwendungsbedingungen und Risikomanagementmaßnahmen. In den vergangenen Jahren haben Wirtschaft und Behörden gemeinsam versucht, dafür standardisierte Strukturen zu entwickeln. Der dazu unter der Bezeichnung Use-Descriptor-System entwickelte Ansatz wird im Rahmen von CHESAR (Chemical Safety Assessment and Reporting) zum IT-Instrument der ECHA für die Stoffsicherheitsbeurteilung und die Berichterstattung weiterentwickelt. Doch ist bis heute kaum eine abschließende Bewertung möglich, ob dieses Instrument auch wirklich praktikabel und geeignet ist, im Anhang zum Sicherheitsdatenblatt Expositionsszenarien so abzubilden, dass der durchschnittliche Nachgeschaltete Anwender sie für seine Arbeit nutzen kann. Diesem Anspruch wird deutlich eher der auf Basis deutscher Vorarbeiten entwickelte „European Standard Phrases Catalogue (EuPhraC)" gerecht. Die EuPhraC-Standardsätze sollen es ermöglichen, erweiterte Sicherheitsdatenblätter und Expositionsszenarien als Anhänge des Sicherheitsdatenblatts in einer einheitlichen Form zu erstellen. Dabei kann der Katalog für unterschiedliche Formate verwendet werden.
Mehraufwand für Formulierer
Stellt die Erarbeitung eines erweiterten Sicherheitsdatenblattes schon für den Inverkehrbringer eines Stoffes eine gewaltige Herausforderung dar, potenziert sich diese für den Formulierer eines Gemisches. Denn dieser muss zum einen die Daten und Informationen, die er für das eigentliche Sicherheitsdatenblatt benötigt, ermitteln. Er muss zum anderen bemüht sein, dass die für das Gemisch geplanten Verwendungen in den Expositionsszenarien, die er dem Sicherheitsdatenblatt als Anhang beifügt, abgebildet sind. Dafür stehen ihm grundsätzlich mehrere Möglichkeiten zur Verfügung:
- Weiterleitung der Expositionsszenarien der einzelnen Stoffe des Gemisches an den Kunden ohne diese zu überarbeiten oder abzugleichen. Dies ist allerdings nur möglich, wenn die Informationen in den Expositionsszenarien untereinander stimmig sind und wenn sie nicht im Widerspruch stehen zu den Informationen im Sicherheitsdatenblatt;
- Zusammenführung der erhaltenen stoffbezogenen Expositionsszenarien zu einem neuen Expositionsszenario für das Gemisch;
- Auszug der relevanten Informationen zu Risiko-Managementmaßnahmen aus den erhaltenen Expositionsszenarien, Zusammenfassung der Information und Berücksichtigung bei der Ausarbeitung der entsprechenden Abschnitte des Sicherheitsdatenblattes des Gemisches.
Wenn es auch die erstgenannte Möglichkeit dem Nachgeschalteten Anwender deutlich erschwert, die richtigen Maßnahmen für die sichere Verwendung des Gemisches umzusetzen, wird sie doch vermutlich insbesondere in der Anfangsphase vielfach genutzt werden. Dies wird in besonderem Maße dazu beitragen, dass der Umfang des Sicherheitsdatenblattes in extremer Weise zunimmt - so werden bereits heute Sicherheitsdatenblätter mit einem Umfang von 50, 60 oder mehr Seiten kommuniziert. Dann aber ist das Sicherheitsdatenblatt für die Mehrzahl der Nachgeschalteten Anwender nutzlos. Zu dieser Einschätzung muss man unabhängig davon kommen, dass zukünftig eine große Zahl von Nachgeschalteten Anwendern unabhängig vom Umfang des Sicherheitsdatenblattes mit einer Analyse der übermittelten komplexen Verwendungsbedingungen und Risikomanagementmaßnahmen überfordert sein wird. Ob sich also der Arbeits- und Umweltschutz in einem auch heute schon gut organisierten mittelständischen Industrie- oder Gewerbebetrieb qualitativ verbessern wird, erscheint durchaus fraglich. Nicht fraglich ist hingegen, dass die diesbezüglichen Vorgaben der REACh-Verordnung zu einem unermesslichen Aufwand bei den Erstellern der erweiterten Sicherheitsdatenblätter und bei den Nachgeschalteten Anwendern führen werden, die sich bemühen, diese Vorgaben rechtskonform und vollständig umzusetzen. Nicht fraglich ist schließlich auch, dass die Unternehmen, die in der Lieferkette zwischen Hersteller und Anwender „sitzen" - wie der Chemiehandel dies tut - mit der Weitergabe der Sicherheitsdatenblätter vor kaum erfüllbaren Herausforderungen stehen. Möglicherweise etabliert es sich unerwartet schnell, Sicherheitsdatenblätter nicht mehr zu übersenden, sondern - in Abstimmung mit dem Kunden - im Internet bereitzustellen.
Weniger Formalität gefordert
An die Überwachungsbehörden kann in diesem Zusammenhang nur appelliert werden, sich auf die Überprüfung dessen zu fokussieren, dass das Unternehmen sich ernsthaft und systematisch bemüht, die inhaltlichen Vorgaben von REACh und CLP umzusetzen. Das ein Unternehmen dies tut, schließt nicht aus, dass es derzeit in dem einen oder anderen Fall zu einer formalen Verletzung der Vorschriften kommt - insbesondere also, dass nicht zu jedem Zeitpunkt für jeden Stoff und jedes Gemisch ein auch formal korrektes und aktuelles Sicherheitsdatenblatt zur Verfügung steht. Dies nicht zu beanstanden, erscheint insbesondere im Hinblick auf den hohen Stand von Arbeits- und Umweltschutz in deutschen Betrieben vertretbar und unproblematisch.
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