Materialerschöpfung im Blick behalten
TÜV SÜD entwickelt Berechnungsprogramm TSE (Temperatur-Spannung-Erschöpfung).
Berechnungsprogramm zur schnellen und realitätsnahen Erfassung des Bauteilzustands
In Chemieanlagen sind metallische Bauteile oftmals hohen Temperaturen oder wechselnden Druck- und Temperaturbelastungen ausgesetzt. Mit der Einsatzdauer der Bauteile wächst die Materialerschöpfung und damit das Risiko für Schäden. Benötigt wird deshalb ein Verfahren, das den Bauteilzustand schnell und realitätsnah erfasst, damit rechtzeitig – aber nicht verfrüht – eingegriffen werden kann. Diese Lücke schließt TÜV Süd mit einem eigens dafür entwickelten Service. Den Kern bildet das Berechnungsprogramm TSE (Temperatur-Spannung-Erschöpfung).
Chemieanlagen müssen teils in hohen Temperaturbereichen und mit schnell wechselnden Belastungsparametern betrieben werden. Damit sind Anlagenbauteile durch Druck und Temperatur stärker in Richtung Kriechen und/oder Ermüdung belastet. Mit dieser Entwicklung erhält die Überwachung der Bauteilerschöpfung ein neues Gewicht. Einerseits ist die Kenntnis des Erschöpfungszustands eine wichtige Voraussetzung, um Schäden vorzubeugen. Andererseits müssen Betreiber in der Lage sein, das Lebensdauerpotenzial der Bauteile tatsächlich auszuschöpfen.
Mechanismen der Erschöpfung
Die Schädigungsmechanismen an drucktragenden Bauteilen sind Kriechen und Ermüdung, in den Regelwerken auch als Zeitstanderschöpfung und Wechselerschöpfung bezeichnet. Die Kombination der beiden Anteile ist die Gesamterschöpfung. Während Kriechen auch bei statischen Belastungen auftritt und auf der Belastungsseite von Temperatur und Innendruck abhängt, entsteht Ermüdung bei Belastungswechseln, also Druck- und Temperaturveränderungen. Im Falle von thermisch bedingter Ermüdung sind die Auswirkungen im Anfangsstadium kaum nachzuweisen, da sie sich zuerst an der Innenoberfläche des Bauteils zeigen, dort aber mit den Verfahren der zerstörungsfreien Prüfung (ZfP) schwer auszumachen sind. So treten Schadensereignisse auf, obwohl man eigentlich davon ausging, mit ZfP eine zuverlässige Vorsorge betrieben zu haben.
Belastungen mit TSE berechnen
Mit dem Berechnungsprogramm TSE kann auf Basis der Druck- und Temperaturverläufe die Gesamterschöpfung ermittelt werden. Das Programm nutzt regelwerkspezifische Algorithmen in gekapselten Routinen und ist zu 100 % konform mit den jeweils anwendbaren Codes und Standards. Die Ergebnisberichte stellen damit auch einen verlässlichen Legal Compliance Report dar.
Neben den gemessenen Belastungsdaten benötigt die Software als Eingabe Geometrie- und Materialdaten. In der Analyse wird für den gesamten Auswertezeitraum über eine integrierte instationäre Temperaturfeldberechnung für jeden Zeitpunkt die nichtlineare Temperaturverteilung über der Bauteilwand für ein dichtes Wand-Stützstellennetz berechnet. Das Programm kann auch auf der Bauteilaußenseite gemessene Temperaturen verarbeiten, da ein Modul zur Lösung des inversen Temperaturleitproblems implementiert ist. Damit müssen nicht zwangsläufig aufwendige Innenwand-, Medium- oder gar Delta T-Messungen mit Erfassung der Wandmittentemperatur zur Verfügung stehen.
Die Analyse der Daten ist für die deutschen Anlagen ausgerichtet auf das regelwerkskonforme Vorgehen gemäß TRD 301/303 und DIN EN 12952. Der Nachweis, dass die Bauteilerschöpfung unterhalb der Schwellenwerte nach DIN EN bzw. TRD liegt, wird dabei mit einer paketweisen Offline-Auswertung der gemessenen und gespeicherten Daten erbracht. Die Auswertezeitpunkte sollten sich an den zuletzt ermittelten Erschöpfungsgraden und der Fahrweise der Anlage orientieren. Ein jährlicher Auswertezyklus ist empfehlenswert, damit neue Belastungsphänomene ausreichend früh in die Bewertung einfließen können.
Besonders bei der im ersten Schritt stattfindenden Bestandsaufnahme der auftretenden Belastungen hat die Offline-Auswertung klare Vorteile, denn in der Gesamtschau eines längeren zusammenhängenden Zeitraumes können Belastungsmuster erkannt werden. Im Berechnungsprogramm sind hierfür entsprechende Muster-Erkennungsroutinen implementiert. Damit lassen sich kritische Lastereignisse zuverlässig zuordnen und es können – soweit notwendig – belastungsmindernde Anpassungen der Fahrweise veranlasst werden. Im zweiten Schritt werden die aktuellen Stände in der Gesamterschöpfung der Bauteile ermittelt. Zusätzlich wird jetzt das zu diesem Zeitpunkt vorliegende Erschöpfungspotenzial der Bauteile angegeben. Damit ist bekannt, welche Lastwechselreserven vorhanden sind und in welchem Umfang weitere Änderungen bei der Fahrweise realisiert werden können.
In einem möglichen dritten Schritt wird für neu geplante Transienten der daraus resultierende Erschöpfungsfortschritt berechnet und mit den bereits aufgetretenen Erschöpfungsgraden aus dem bisherigen Betrieb akkumuliert. Auf diese Art können optimierte Transienten definiert werden, mit denen eine gleichmäßige Nutzung der Erschöpfungspotenziale gegeben ist, und zugleich die Gesamterschöpfung im unkritischen Bereich bleibt. Der grundlegende Ansatz des Berechnungsprogramms ist damit die maximale Realitätsnähe bei gleichzeitiger Vermeidung von zusätzlichen Sicherheiten, die physikalisch nicht begründet sind und von den Regelwerken nicht gefordert werden.
TSE verwendet bei der Spannungsberechnung nicht die Wandmittentemperatur, sondern die physikalisch korrekte integrale mittlere Wandtemperatur. Denn bei Verwendung der Wandmittentemperatur wird ein überhöhtes Delta T berechnet, mit dem bis zu 50 % höhere Erschöpfungsgrade ermittelt werden. Das ist ein Beispiel dafür, dass durch eine konsequente realitätsnahe Berechnung gegenüber konservativeren Verfahren das Phänomen der „scheinbaren Erschöpfung“ vermieden werden kann. Das ist notwendig, um weitere Flexibilisierungsschritte in der Anlage begründet einzuleiten. Das Ziel sollte nicht sein, die Bauteilerschöpfung so klein wie möglich zu halten, sondern gemäß der gegebenen Ausnutzungspotenziale eine gesteuerte Bauteilerschöpfung zu erzielen. Zu diesem Zweck können auch „Was-wäre-wenn-Analysen“ durchgeführt werden, bei denen für veränderte Betriebstransienten der entsprechende Fortschritt in der Bauteilausnutzung berechnet wird.
Praxisbeispiel: Zustandsbewertung am Spaltofen
TÜV Süd wurde beauftragt, eine Zustandsbewertung der Reaktorrohre eines Spaltofens vorzunehmen. Ein Spaltofen enthält Rohrschlangen von etwa 90 bis 120 mm Innendurchmesser und 60–80 m Länge, die sich in einem durch Brenner beheizten Feuerraum befinden. In den Öfen werden unter Zugabe von Prozessdampf durch Dampfspalten langkettige Kohlenwasserstoffe in kurzkettige oder ungesättigte Kohlenwasserstoffe umgewandelt, die bspw. für die PVC-Herstellung benötigt werden. Die Prozesstemperaturen liegen mit ca. 850 °C sehr hoch.
Zunächst wurde evaluiert, welche Informationen zu den bisher aufgetretenen Bauteiltemperaturen vorlagen. Damit stand eine belastbare Datenbasis zur Verfügung, welches Bauteil wie lange welchen Temperaturen ausgesetzt war. Benötigt wurden ferner die Geometrie- und Materialdaten der Bauteile, die in der Errichtungsdokumentation des Betreibers standen. Im nächsten Schritt folgte eine vorlaufende Sensitivitätsanalyse, um herauszufinden, welche Bauteile grundsätzlich einer fortschreitenden Schädigung durch Temperatur und Druck ausgesetzt waren. Für diese Bauteile wurde über die spezifische Auswertung der Temperatur- und Druckdaten unter Berücksichtigung der Geometrie- und Materialdaten mittels TSE der tatsächliche Schädigungsfortschritt berechnet. Die Ergebnisse lieferten nicht nur grundlegende Informationen zum Grad der Erschöpfung einzelner Bauteile, sondern auch zu Systemzuständen und Transienten, die für den Erschöpfungsfortschritt besonders relevant sind. Zudem erhielt der Anlagenbetreiber Vorschläge zur Verringerung der Belastungen der Bauteile und Empfehlungen für zustandsorientierte und regelwerkskonforme ZfP-Maßnahmen.
Franz Binder, Gruppenleiter Rohrleitungssysteme und Lebensdaueranalysen, TÜV Süd Industrie Service, München