Erhöhte Schlagkraft in der Prozessindustrie
Im TÜV Süd-Konzern agieren Chemie Service und Industrie Service künftig gemeinsam
„Die Dekarbonisierung wird sich zu einem wichtigen, vielleicht sogar entscheidenden Faktor im weltweiten Wettbewerb entwickeln.“
Seit Beginn der industriellen Chemie in Deutschland hat es die Eigenüberwachung gegeben. Der TÜV Süd Chemie Service, hervorgegangen aus Servicebereichen der Großchemie, bietet branchenspezifische Leistungen entlang der Anlagenprozesskette über den gesamten Lebenszyklus an den Schwerpunktstandorten der Chemie- und Prozessindustrie. Als Konzerngesellschaft der TÜV-Süd-Gruppe profitieren Kunden von TÜV Süd Chemie Service von einem weltweiten Expertennetzwerk und einem umfassenden Dienstleistungsportfolio – das nun durch die Fusion mit dem größeren TÜV Süd Industrie Service noch erweitert werden soll. CHEManager sprach darüber mit Hans Joachim Machetanz, Geschäftsführer von TÜV Süd Chemie Service, und Ferdinand Neuwieser, Sprecher der Geschäftsführung von TÜV Süd Industrie Service.
CHEManager: TÜV Süd Chemie Service soll in TÜV Süd Industrie Service integriert werden. Welche Strategie steckt hinter dieser Reorganisation?
Hans Joachim Machetanz: Mit dem Betriebsübergang wächst zusammen, was zusammengehört. TÜV Süd Chemie Service wurde 2005 gegründet, die Gesellschaft ist aus der Eigenüberwachung von führenden Chemieunternehmen hervorgegangen und hat sich – mit Standorten in Frankfurt/Main, Leverkusen, Uerdingen, Dormagen, Bitterfeld, Schkopau, Böhlen und Brunsbüttel – schnell als Full Service Provider für die chemische Industrie etabliert.
Ferdinand Neuwieser: TÜV Süd Industrie Service war und ist ebenfalls stark in der Prozessindustrie vertreten. Wir unterstützen beispielsweise Unternehmen im bayerischen Chemiedreieck mit Abnahmeprüfungen, wiederkehrenden Prüfungen oder bei der Durchführung von großen Stillständen, die alle fünf bis sieben Jahre stattfinden. Angesichts der aktuellen Herausforderungen für die Chemiebranche – Energiewende, Nachhaltigkeit, Internationalisierung, Digitalisierung, um die wichtigsten Schlagworte zu nennen – haben wir uns entschlossen, die Kompetenzen unserer beiden Unternehmen für die Branche zu bündeln und unser Angebot für unsere Kunden weiter zu optimieren. Das reicht von der höheren Schlagkraft durch die Bündelung unserer personellen Ressourcen bis zur beschleunigten Entwicklung und Anwendung von innovativen Prüfverfahren.
„Anlagensicherheit bedeutet inzwischen auch immer Cybersicherheit.“
Wie wird sich TÜV Süd Chemie Service organisatorisch in den weitaus größeren TÜV Süd Industrie Service eingliedern?
F. Neuwieser: TÜV Süd Industrie Service ist in Deutschland an 47 Standorten vertreten. Dieses Netz wird um sieben Standorte von TÜV Süd Chemie Service erweitert, während der Standort Frankfurt am Main aus Beteiligungsgründen bereits an TÜV Hessen übergegangen ist. Wie Sie vielleicht wissen, ist der TÜV Süd-Konzern zu 55 % an TÜV Hessen beteiligt. Damit bleibt also auch der Standort Frankfurt am Main ‚in der Familie‘.
Neben unserer Niederlassungsstruktur haben wir einige Aufgaben in zentralen Bereichen organisiert. Das betrifft beispielsweise das Personalwesen oder das Marketing, aber auch bestimmte Tätigkeiten unserer Geschäftsfelder. Hier organisieren wir schon seit einiger Zeit die Zusammenarbeit und ich kann sagen, dass sich die Kolleginnen und Kollegen beider Gesellschaften über die Verstärkung in ihren jeweiligen Bereichen freuen.
H. J. Machetanz: Aufgrund der Niederlassungsstruktur wird sich für unsere Kunden vor Ort nicht viel ändern. Sie finden uns an den gleichen Stellen und behalten weitestgehend auch die gleichen Ansprechpartner. Die räumliche Nähe zu unseren Kunden, unsere Präsenz in den Chemieparks vor Ort, unsere genaue Kenntnis der Anlagen und die fachliche Kompetenz unserer Mitarbeitenden sind Alleinstellungsmerkmale, die wir unbedingt erhalten wollen.
TÜV Süd Chemie Service ist eine in der Prozessindustrie etablierte Marke. Bleibt die Marke erhalten?
H. J. Machetanz: TÜV Süd Chemie Service ist aus der Eigenüberwachung von Bayer, Hoechst und Dow hervorgegangen. Wir sind in der Branche verwurzelt und sprechen die Sprache unserer Kunden. Das wird auch in Zukunft so bleiben. Als Full Service Provider haben wir den Anspruch, unsere Kunden bei ihren Herausforderungen mit passenden und qualitativ hochwertigen Leistungen zu unterstützen. Dafür stehen in dieser größeren Einheit mehr Ressourcen und mehr Möglichkeiten zur Verfügung…
F. Neuwieser: …wobei wir den Markenkern‚ TÜV Süd Chemie Service‘ erhalten wollen. Nicht nur wegen der Außenwirkung, sondern auch als wichtiges Signal nach innen. Mit unserem Center of Competence ‚Chemie- und Prozessindustrie‘ wollen wir unseren Kunden und unseren Mitarbeitenden vermitteln, das wir ‚der‘ Ansprechpartner für die Branche und ‚der‘ Problemlöser par excellence sind – nicht nur für das Standardgeschäft, sondern auch für die besonderen Herausforderungen.
Was versprechen Sie sich von der Integration hinsichtlich der Bündelung von Kompetenzen oder der Nutzung von Synergien?
F. Neuwieser: Durch die Bündelung unserer Kompetenzen und unserer Ressourcen können wir in Zukunft unsere Bestandskunden – und alle potenziellen Kunden – in den meisten deutschen Chemieparks ganzheitlich bedienen. Das umfasst nicht nur das Inverkehrbringen, die Anlagenüberwachung und die Prozesssicherheit, sondern viele weitere Leistungen wie Emissions- und Immissionsmessungen, Zertifizierungen zum Thema Nachhaltigkeit oder auch Real-Estate-Leistungen wie beispielsweise Aufzugsprüfungen.
H. J. Machetanz: Das gilt übrigens nicht nur für Deutschland und die deutschen Chemieparks. Der TÜV Süd-Konzern – die ‚Mutter‘ unserer beiden Gesellschaften – ist einer der führenden Anbieter für Testing, Inspection und Certification weltweit. Allein in unserer Business Unit Chemical and Process Industry sind mehr als 800 Expertinnen und Experten beschäftigt. Wir sprechen nicht nur die Sprache der Branche, sondern wir sprechen auch die Sprachen unserer Kunden auf den wichtigsten Märkten der Chemie- und Prozessindustrie weltweit.
„Wir sprechen nicht nur die Sprache der Branche, sondern wir sprechen auch die Sprachen unserer Kunden weltweit.“
Welche Branchentrends oder Kundenanforderungen können Sie mit dem erweiterten Portfolio besser bedienen?
F. Neuwieser: Die wichtigsten Trends betreffen im Moment neben der Internationalisierung die zwei großen ‚D‘: Digitalisierung und Dekarbonisierung. Wir unterstützen unsere Kunden dabei, diese Trends nicht als Bedrohung, sondern als Chance zu sehen. So kann beispielsweise die Digitalisierung dazu beitragen, den Fachkräftemangel abzumildern; und die Dekarbonisierung wird sich nach unserer Überzeugung zu einem wichtigen, vielleicht sogar entscheidenden Faktor im weltweiten Wettbewerb entwickeln. Wir haben bereits entsprechende Leistungen im Angebot…
H. J. Machetanz: … wie unser SAP- und webbasiertes Datenmanagementsystem Smart DAMAS, das die komplette Abbildung der Anlagenstrukturen unserer Kunden inklusive der gesamten Prüfdokumentation ermöglicht. Wir entwickeln Smart DAMAS kontinuierlich weiter und passen das System an neue Anforderungen unserer Kunden an. Auch bei der Dekarbonisierung wird die Dokumentation ein zentraler Erfolgsfaktor sein. Wir sind überzeugt: Wer seine Nachhaltigkeit nicht glaubhaft dokumentieren kann, wird in Zukunft in der globalen Lieferkette das Nachsehen haben.
Entwickeln Sie Prüfverfahren oder Technologien für die Dekarbonisierung selbst oder in Zusammenarbeit mit Partnern oder erwerben Sie diese am Markt?
F. Neuwieser: Wir setzen auf eigene Entwicklungen, die wir über unser internes Innovationsmanagement gezielt vorantreiben. Allein bei TÜV Süd Industrie Service verfolgen wir etwa 20 bis 30 Innovationsprojekte pro Jahr, bei denen wir teilweise auch mit externen Partnern – unter anderem aus dem Wissenschaftsumfeld – zusammenarbeiten, um neue Lösungen wie beispielsweise die Zertifizierung mittels Blockchain-Technologie zu entwickeln.
H. J. Machetanz: Weitere Beispiele sind ein neuartiges und kostengünstiges Verfahren zur Prüfung der Wasserstoffverträglichkeit von metallischen Werkstoffen, das wir gemeinsam mit der Technischen Universität Darmstadt entwickelt haben und das wir inzwischen für die Prüfung von Basismaterialien für Equipment wie beispielsweise Ventile oder Rohrleitungen einsetzen, oder das VERIchem-Verfahren für die unabhängige Validierung und Verifizierung von CO2-Emissionen in Produktionsprozessen. Damit unterstützen wir Unternehmen dabei, ihre Kohlenstoffemissionen zu validieren, sinnvolle Investitionen für CO2-Reduzierungen zu identifizieren und zukünftige CO2-Werte pro Produkt zu prognostizieren und zu dokumentieren.
„Wer seine Nachhaltigkeit nicht glaubhaft dokumentieren kann, wird in Zukunft in der globalen Lieferkette das Nachsehen haben.“
TÜV steht heute für mehr als bloß ‚technische Überwachung‘. Wie definieren Sie Ihre derzeitige und zukünftige Rolle für die Industrie?
H. J. Machetanz: Wir übernehmen hier eine Doppelfunktion. Zum einen sind wir ein unabhängiger Prüf- und Zertifizierungsdienstleister, zum anderen sind wir mit unseren Prüfungen und Zertifizierungen ein integraler Bestandteil des Sicherheitskonzepts unserer Kunden. Damit das funktioniert, brauchen wir eine enge Verzahnung zwischen den Datenflüssen, wie wir das bei unserem Datenmanagementsystem Smart DAMAS bereits praktizieren und zukünftig weiter ausbauen werden.
F. Neuwieser: Darüber hinaus haben wir den Anspruch, unsere Kunden in der Chemie- und Prozessindustrie in allen Lebensphasen ihrer Anlagen zu begleiten und für alle Herausforderungen passende Lösungen anzubieten oder gemeinsam mit unseren Kunden zu erarbeiten. Das reicht von Emissions- und Immissionsmessungen in den Chemieparks und ihrer Umgebung bis zur Entwicklung von risikobasierten Instandhaltungskonzepten oder zur Begleitung von großen Stillständen.
Welche technologischen Kompetenzen oder Dienstleistungen werden von Ihren Kunden künftig verstärkt nachgefragt werden?
H. J. Machetanz: In der Chemie- und Prozessindustrie geht es im Kern immer um die Anlagenverfügbarkeit sowie die Anlagen- und Personensicherheit. Wir arbeiten kontinuierlich daran, unsere Prüfungen in dieser Hinsicht noch effizienter zu machen. Ein Beispiel dafür ist der flächendeckende Einsatz von Smart Inspection Services wie der Schallemissionsprüfung, mit der wir Veränderungen in der strukturellen Integrität eines Behälters oder Apparats ohne aufwändige Vorbereitung und ohne Behälterbegehung feststellen können. Zudem arbeiten wir bereits an Systemen, mit denen wir die Anlagenintegrität im laufenden Betrieb monitoren können. Dafür kombinieren wir neuartige Sensoren zur Datenerfassung mit künstlicher Intelligenz für die Auswertung der Daten.
F. Neuwieser: Hinzu kommt, dass Anlagensicherheit inzwischen auch immer Cybersicherheit bedeutet. Wir können diesen erweiterten Sicherheitsanspruch unserer Kunden bereits heute bedienen, weil wir rechtzeitig die dafür nötigen Kompetenzen aufgebaut haben. Mit dem Enhanced Risk Management haben wir unter anderem ein Konzept für die erweiterte Risikobewertung von Safety und Security – von funktionaler Sicherheit und Cybersicherheit – entwickelt und in ersten Projekten – unter anderem bei einem Fernleitungsnetzbetreiber – erfolgreich umgesetzt.
„Die Digitalisierung kann dazu beitragen, den Fachkräftemangel abzumildern.“
Wie verändert die Digitalisierung Ihre Leistungen für die Industrie und die Tätigkeiten Ihrer Mitarbeiter wie Prüfingenieure und Sachverständige? Wie verändern sich dadurch die Anforderungen an zukünftige Beschäftigte?
H. J. Machetanz: Eine unserer Stärken besteht darin, dass unsere Sachverständigen in der Prozess- und Chemieindustrie zuhause und vor Ort präsent sind. Das Wissen unserer Sachverständigen um eine Anlage und ihre Besonderheiten ist fester Bestandteilt der Anlagensicherheit. Allerdings wird sich durch die Digitalisierung die Arbeit unserer Sachverständigen und damit auch deren Anforderungsprofil verändern…
F. Neuwieser: …wobei das Branchenwissen unverzichtbar bleibt. Aber dieses Wissen müssen wir ‚anreichern‘. Wir werden in Zukunft immer mehr Know-how zur Anwendung von digitalen Prüfmethoden, zur Datenanalyse, zum Einsatz von künstlicher Intelligenz, zur digitalen Kommunikation und Dokumentation und zur Abwehr von Cyberattacken brauchen. Das setzt unter anderem die Fähigkeit voraus, über den Tellerrand hinauszublicken und in interdisziplinären Teams zusammenzuarbeiten.
Wie bewerkstelligen Sie das? Erwarten Sie von der Integration auch Synergien im Bereich Recruiting, um dem demografischen Wandel zu begegnen?
F. Neuwieser: In den Krisen der letzten Jahre haben wir bewiesen, dass TÜV Süd ein zuverlässiger Arbeitgeber ist. Wir bieten sichere und attraktive Arbeitsplätze mit vielen Entwicklungsmöglichkeiten. Um unser Unternehmen auf aktuelle und künftige Herausforderungen vorzubereiten, investieren wir jährlich rund 30 Mio. EUR in die Aus- und Weiterbildung unserer Mitarbeitenden und wir fördern den Know-how-Transfer zwischen älteren und jüngeren Kollegen – und zwar in beide Richtungen.
H. J. Machetanz: Unsere bisherige gesellschaftsübergreifende Zusammenarbeit wird durch den Zusammenschluss auf ein neues, höheres Level gehoben. Der Betriebsübergang wird unsere interne Abstimmung erleichtern – beispielsweise bei umfangreicheren Kundenprojekten oder bei den großen Stillständen in Chemieparks und Raffinerien, die in bestimmten Phasen einen hohen personellen Einsatz erfordern.
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TÜV Süd Industrie Service
TÜV Süd Industrie Service ist eine Tochter des TÜV Süd-Konzerns. In Deutschland bieten über 3.000 Beschäftigte von TÜV Süd Industrie Service ein umfassendes Spektrum von Ingenieur-, Sachverständigen- und Prüfdienstleistungen für die Sicherheit, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit von Anlagen, Infrastruktureinrichtungen und Gebäuden.
TÜV Süd Chemie Service
TÜV Süd Chemie Service ist eine Tochter des TÜV Süd-Konzerns mit Branchenfokus auf die Chemie- und Prozessindustrie. In Deutschland bieten über 200 Beschäftigte von TÜV Süd Chemie Service ein umfassendes Spektrum von Ingenieur-, Sachverständigen- und Prüfdienstleistungen in den Chemie- und Industrieparks ihrer Kunden an.