Katalysator für die Forschung
Die Entschlüsselung des Humangenoms hat der medizinisch-pharmazeutischen Forschung einen Schub gegeben
Vor gut 15 Jahren verkündeten die Human Genome Organisation und Celera Genomics die vollständige Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Das weckte Erwartungen auf eine Revolution in Biologie und Medizin. Die Hoffnung war, durch die Identifizierung von Genen, die an der Entstehung von Krankheiten beteiligt sind, zahlreiche Leiden zielgerichtet diagnostizieren und behandeln zu können. Viel wurde seitdem erreicht – und doch bleiben große Herausforderungen.
Es war der 12. Februar 2001, als die Human Genome Organisation (Hugo) und das US-Unternehmen Celera Genomics die Entschlüsselung des menschlichen Genoms bekannt gaben: Der Bauplan des menschlichen Körpers, eine exakte Abfolge von 3,2 Milliarden Gen-Buchstaben. Bereits ein Dreivierteljahr zuvor war der damalige US-Präsident Bill Clinton mit den Wissenschaftlern Craig Venter und Francis Collins sowie – in Videokonferenz zugeschaltet – dem britischen Premier Tony Blair im East Room des Weißen Hauses vor die Presse getreten und hatte Großes verkündet: „Die Welt begleitet uns dabei, wie wir eine Karte von enormer Bedeutung enthüllen - die erste vollständige Untersuchung des menschlichen Genoms. Ohne Zweifel ist dies die wichtigste und erstaunlichste Karte, die die Menschheit je gezeichnet hat. Mit diesem Wissen gewinnen wir große und neue Möglichkeiten, um Krankheiten zu heilen. Die Genomwissenschaft wird einen erheblichen Einfluss auf unser Leben haben. Sie wird die Diagnose, aber auch die Prävention und Behandlung der meisten, wenn nicht aller Krankheiten revolutionieren.”
Schon die unmittelbaren Erkenntnisse aus der Genom-Entschlüsselung waren erstaunlich. So zeigte sich, dass der Mensch etwa 20.000 bis 25.000 Gene besitzt, nur doppelt so viele wie eine Fliege. Darüber hinaus erkannten die Wissenschaftler, dass dieser Genom-„Text“ bei allen Menschen zu 99,9 % identisch ist. Dies bedeutet, dass bereits kleinste Veränderungen im Erbgut für Krankheiten verantwortlich sind.
Anfänge des Genomprojektes 1990
Begonnen hatte die eigentliche Entschlüsselungsarbeit im Jahr 1990, als das Humangenomprojekt als öffentliches, überwiegend amerikanisches Großforschungsprojekt seine Arbeit aufgenommen hatte. Schnell wurde daraus ein loser Verbund nationaler Genomforschungsprojekte aus mehr als 30 verschiedenen Ländern. Dabei machten technische Weiterentwicklungen die Untersuchungen überhaupt erst möglich: Nach Angaben des Nationalen Genomforschungsnetzes, welches durch das deutsche Ministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert worden war, waren die Genetiker dank molekularer DNA-Scheren in der Lage, die langen DNA-Fäden gezielt in handhabbare Fragmente zu zerlegen. Zuvor hatten sich die Erbsubstanzfäden bei der Laborarbeit immer so verknäuelt, dass sie zum Sequenzieren nicht mehr zu gebrauchen gewesen waren.
Im April 2003 wurde das Humangenomprojekt offiziell beendet. Was bleibt ist die Frage, ob sich die großen Erwartungen von damals erfüllt haben? Immerhin, das US-National Human Genome Research Institute wagte vor einiger Zeit einen Blick auf die kommenden 50 Jahre in der medizinischen Forschung. Die Herausforderung für die Wissenschaftler sei nun, die Informationen dieses Buches über den menschlichen Bauplan korrekt zu lesen und zu verstehen, wie die einzelnen Teile zusammenwirken. Genom-basierte Medizin wird nach Ansicht des Institutes wesentlich dazu beitragen, hoch effektive diagnostische Tools zu entwickeln, um darauf individuelle und effiziente Therapien zu setzen. Die Dekodierung des Humangenoms – eine Art Katalysator für die medizinische Forschung.
Allerdings warnte das Institut auch vor überzogenen Erwartungen. Zwar seien aktuell bereits viele Arzneimittelprojekte in klinischen Studien, die auf den Erkenntnissen des Humangenoms basieren. Dennoch vergingen im Schnitt zehn bis 15 Jahre, ehe diese marktreif seien.
Kosten für Sequenzierung stark gesunken
Einen Blick auf konkrete Fortschritte und Erkenntnisse seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms wirft Professor Theo Dingermann vom Institut für Pharmazeutische Biologie der Goethe-Universität Frankfurt. So seien bspw. die Kosten für die Sequenzierung von Basenpaaren massiv gesunken – um einen Faktor von mehr als 10.000. Gleichzeitig habe die Identifizierung genetischer Risikofaktoren stark zugenommen. Die Sequenzierung hunderttausender Genome oder sogenannter Exome ermögliche es, die genetischen Ursachen vieler Erkrankungen verstehen zu lernen.
Dies hat konkrete Auswirkungen auf die Therapiemöglichkeiten. Große Fortschritte sieht Prof. Dingermann insbesondere im Bereich der präzisen beziehungsweise individualisierten Medizin. Damit können neue und bessere Behandlungsmöglichkeiten für schwere Erkrankungen entwickelt werden – bspw. bei Krebs. Bereits heute sei auf diese Weise die Fünfjahres-Überlebensrate bei der myeloischen Leukämie deutlich verbessert worden. Gleiches gelte für Darmkrebs, nachdem Rezeptoren entdeckt worden sind, die das Tumorwachstum treiben. Zudem könnten die gesellschaftlichen Gesamtkosten zur Behandlung von Darmkrebspatienten massiv gesenkt werden, wenn die Patienten vor der Behandlung genetisch untersucht werden. Auch kann nach Dingermanns Worten der Chemotherapieeinsatz stark reduziert werden, wenn bei Brustkrebs-Patientinnen vorab ein genetischer Test gemacht wird. Die Präzisionsmedizin, so der Wissenschaftler, habe bewiesen, dass sie klinische Ergebnisse verbessert.
Auch die Pharmazeutische Industrie hat nach seinen Worten längst die Herausforderungen der personalisierten Medizin angenommen. 42 % aller Arzneien in der Entwicklung und 73 % aller Krebsmittelkandidaten seien mittlerweile Produkte der personalisierten Medizin.
Mehrere Nachfolgeprojekte initiiert
Im Anschluss an die Genomidentifizierung wurde eine Reihe von Nachfolgeprojekten ins Leben gerufen. Dazu zählte das im Oktober 2002 initiierte internationale HapMap Project, das genetische Variationen im menschlichen Körper untersuchte. Das Ziel war es, die Suche nach krankheitsauslösenden Genen zu beschleunigen, indem ein Katalog häufig vorkommender Genvariationen erstellt wurde.
Die 2003 initiierte Encyclopedia of DNA Elements, auch Encode-Project genannt, hatte zum Ziel, alle funktionalen Elemente in der menschlichen Genomsequenz zu identifizieren und die Identität und genaue Lage aller Gene im Genom zu bestimmen.
Das Personal Genome Project schließlich hat das langfristige Ziel, allen Menschen den Zugang zu ihrem Genotyp zu verschaffen, um damit die individuelle Diagnose, Prävention und Behandlung zu verbessern. Es wurde im Januar 2006 von George Church, Harvard, USA, mit der Absicht gestartet, weltweit mindestens 100.000 Teilnehmer zu gewinnen. Alle Daten sollen zusammen mit den Namen der Teilnehmer, also nicht anonymisiert, publiziert werden. Im September 2012 wurden die Ergebnisse der Pilotstudie veröffentlicht, für die zehn Personen analysiert wurden.
Fünf Jahre nach Abschluss des Humangenomprojektes wurde zudem das internationale Cancer Genome Project ins Leben gerufen, in dem die genetischen Veränderungen in Tumoren analysiert werden, um bessere Diagnosen und Therapien für die entsprechenden Krebserkrankungen zu entwickeln.
Herausforderung Malaria
Allerdings, auch 15 Jahre nach Hugo gibt es nach wie vor große Herausforderungen. Als Beispiel nennt Professor Dingermann die Malaria. Wenngleich seit 2001 nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO rund 3,3 Mio. Leben durch neue Arzneimittel, Körperschutz- und Umweltschutzmaßnahmen gerettet werden konnten, forderte die Malaria 2014 immer noch 580.000 Menschenleben. Nach wie vor würden täglich 1000 Kinder an Malaria sterben.
Mit Hilfe der Erkenntnisse der Gentechnik arbeiteten Wissenschaftler u.a. daran, Mücken so zu modifizieren, dass sie keine Malaria mehr übertragen. Insbesondere mit Hilfe der Genschere CRISP/CAS9 seien beachtliche Erfolge erzielt worden, erklärt Dingermann.
Am 30. Januar 2015 trat erneut ein US-Präsident mit einem Statement zu Gesundheitsfragen vor die Presse, diesmal Barack Obama: „Ärzte haben immer berücksichtigt, dass jeder Patient einzigartig ist. Sie haben versucht, die Behandlung an das Individuum anzupassen. Sie können eine Bluttransfusion passend zum entsprechenden Bluttyp geben – das war einst eine wichtige Entdeckung. Was, wenn es genauso einfach wird, einen Krebs exakt passend zum genetischen Code zu behandeln? Was, wenn die richtige Dosisfindung in der Medizin so einfach wie das Messen der Temperatur wäre?“