„Jetzt den Forschungsturbo zuschalten!“
Trotz angespannter Wirtschaftslage hat die chemisch-pharmazeutische Industrie in Deutschland ihre Forschungsetats stabil gehalten: 2022 investierte die Branche nach Schätzungen des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) rund 14 Mrd. EUR (2021: 13,9 Mrd. EUR) in Forschung und Entwicklung (F&E). Auch für das laufende Jahr rechnet der VCI mit konstant bleibenden F&E-Aufwendungen. Mit Blick auf die Umsatz- und Produktionseinbrüche im ersten Halbjahr 2023 wertet der VCI dies jedoch als ein starkes Signal in Richtung Politik. Thomas Wessel, Vorsitzender des VCI-Ausschusses Forschung, Wissenschaft und Bildung, sagte: „Die Branche hat den Standort Deutschland nicht aufgegeben, jetzt aber muss die Politik dieses Signal mit klaren Maßnahmen zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit erwidern. Sonst folgt der Stagnation eine Reduktion.“
Wessel machte deutlich, dass vor dem Hintergrund gewaltiger Anstrengungen anderer Industrienationen stagnierende Forschungsbudgets in Deutschland eigentlich heute schon ein Rückschritt seien. Ohne Innovationen gebe es keine Zukunftssicherung. In den vergangenen Jahren sei es der Branche gelungen, Standortnachteile Deutschlands durch Innovationskraft zu kompensieren. „Wollen wir diesen Kurs beibehalten, müssen wir jetzt den Turbo zuschalten.“ Dazu müssten jedoch die Rahmenbedingungen hierzulande besser sein. „Unseren Unternehmen mangelt es nicht am Willen, in die Zukunft zu investieren – aber eben nicht mehr unbedingt am Standort Deutschland“, so Wessel. Er verweist darauf, dass in der chemisch-pharmazeutischen Industrie mittlerweile fast 60 % aller externen Forschungsaufträge ins Ausland gehen. „Das ist ein Warnsignal für den heimischen Standort. Denn wenn wir hierzulande nicht ausreichend in neue Produkte, Verfahren oder neue Geschäftsmodelle investieren, verlieren wir weiter an Wettbewerbsfähigkeit und verstärken die Deindustrialisierung“, betonte Wessel. Eine aktuelle VCI-Mitgliederumfrage zeige außerdem: 23 % der Unternehmen tendieren 2023 zu mehr F&E-Investitionen im Ausland.
Innovationen brauchen Rückenwind
Der Chemieverband führt diese Entwicklung auf die ungünstigen Rahmenbedingungen am heimischen Forschungsstandort zurück. Die Chemie- und Pharmaunternehmen beklagen laut VCI-Umfrage die Regulierungswut aus Brüssel und Berlin sowie die unzuverlässigen politischen Rahmenbedingungen als die größten Hemmnisse für Innovationen. So müssten die Unternehmen eine Fülle an Informationen bei Förderanträgen für Forschungsprojekte einreichen, kleine und mittlere Unternehmen einen unangemessen hohen Rechercheaufwand bei der Suche nach geeigneten Förderprogrammen betreiben. Aufgrund von Regularien gebe es außerdem lange Bearbeitungszeiten bei Behörden und Unternehmen gleichermaßen. Ein solch toxischer Mix aus überbordender Bürokratie und Regulierung müsse neutralisiert werden.
Ergänzend verweist der VCI auf die Entwicklung Chinas, das seine F&E-Bemühungen intensiviert: In nur zehn Jahren hat sich der Anteil Chinas an den weltweiten Patentanmeldungen für Chemie und Pharma mehr als verdreifacht.
„Innovationen brauchen kein laues Lüftchen, sondern starken Rückenwind“, unterstreicht Wessel. Er fordert – neben einem wettbewerbsfähigen Industriestrompreis als Brücke bis genügend erneuerbare Energien zur Verfügung stehen – auch einen grundlegenden Modernisierungsbooster: Das gesamte deutsche Innovationssystem müsse agiler werden, damit die Umsetzung von Forschung in marktfähige Produkte beschleunigt wird.
Der Chemieverband schlägt u.a. vor, die Forschungszulage auf internationales Niveau zu erhöhen, die Forschungsförderung anwendungsnaher zu gestalten und Reallabore praxisgerecht zu realisieren, um im industriellen Maßstab neue Technologien testen zu können. Bei der Forschungsförderung müsse die Politik auf Technologiefreiheit setzen und ideologische Scheuklappen ablegen. So sollte die Politik bspw. den Weg für das chemische Recycling freigeben, statt einseitig auf mechanisches Recycling zu setzen. Und außerdem sei eine durchgängige MINT-Bildung von der Grundschule bis zum Abitur notwendig, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Fehlende personelle Ressourcen in diesem Bereich torpedierten künftige Innovationen. "Forschung fängt bei Bildung an", kommentierte Wessel.
EU: Widersprüche in der Innovationspolitik auflösen
Unzufrieden zeigt sich der Chemieverband auch mit Europa: „Die EU betreibt eine zum Teil widersprüchliche Innovationspolitik“, erläuterte Wessel. So wolle die EU-Kommission mit ihrem Konzept für ein sicheres, nachhaltiges Design ein Werkzeug generieren, um nachhaltige Innovationen zu ermöglichen. Dies sei im Prinzip ein guter Ansatz. Aber in der Praxis befürchtet der VCI Denkverbote für die Forschenden, da bspw. Stoffe mit theoretisch hoher Reaktivität per se als nicht nachhaltig eingestuft werden. „Mit solchen Einschränkungen verbauen wir uns ohne Not zu einem frühen Zeitpunkt entscheidende Chancen für einen nachhaltigen Lösungsbeitrag, durch neue Materialien etwa“, kritisiert Wessel.
Ein ähnliches Bild biete sich beim „Patent-Paket“ der EU-Kommission. Mit dem europäischen System ergänzender Schutzzertifikate werde der Forschungsstandort Europa gestärkt, weil damit einerseits Bürokratie abgebaut wird und die Kosten sinken. Die Brüsseler Pläne, EU-weit geltende Zwangslizenzen auf Rechte des geistigen Eigentums einzuführen, schwächten andererseits aber genau diesen Schutz. Im Ergebnis werde sich dies negativ auf die künftige Innovationstätigkeit sowie Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen in der EU auswirken.
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