Innovation im Wandel
Dr. Ulrich Küsthardt, Chief Innovation Officer von Evonik, spricht über Erfolgsfaktoren für Innovation
Innovationen sind in der von kurzen Produktzyklen geprägten Spezialchemie ein wichtiger Motor für profitables Wachstum. Sie eröffnen neue Geschäftsfelder und stärken führende Markt- und Technologiepositionen. So auch bei Evonik. Die Innovationspipeline des Spezialchemiekonzerns ist gut gefüllt und Dr. Ulrich Küsthardt, seit Anfang 2015 Chief Innovation Officer, soll dessen Innovationskraft weiter steigern und das Wachstum mit attraktiven Innovationsfeldern fördern. Der promovierte Chemiker will Evonik nach eigener Aussage zu einem der innovativsten Unternehmen weltweit machen. F&E-Investitionen von über 4 Mrd. EUR sind dafür von 2015 bis 2025 geplant. Im gleichen Zeitraum soll in den Innovationswachstumsfeldern ein zusätzlicher Umsatz von 1 Mrd. EUR generiert werden. Dr. Michael Reubold sprach mit Dr. Küsthardt über Innovationsklima, Innovationskultur und seine Innovationsstrategie.
CHEManager: Herr Küsthardt, die Innovationsstärke der deutschen Chemieindustrie wird als Wettbewerbsvorteil erachtet. Die Rahmenbedingungen für Innovation hierzulande werden im globalen Vergleich aber häufig als nicht wettbewerbsfähig beurteilt. Viel diskutierte Themen sind zum Beispiel ungenügende Technologieakzeptanz und Forschungsförderung.
Dr. U. Küsthardt: Hinsichtlich der Forschungsförderung, vielleicht auch beim Thema Technologieakzeptanz, haben wir in Deutschland ganz klar einen Nachteil. In asiatischen Ländern wie China oder Korea, die eine kluge Kombination aus steuerlicher und projektbezogener Förderung haben, wird mehr Geld in Forschung investiert. Wir sind zwar, was die typische staatliche Forschungsförderung angeht, in Deutschland und in Europa ordentlich aufgestellt - diese Programme sind für die Industrie von hoher Bedeutung. Aber das alleine genommen ist eben nur ein Baustein, und wenn unser Land zusätzlich eine steuerliche Förderung hat ist das ein weiterer Baustein, der uns schneller macht und für den Forschungsstandort Deutschland spricht.
Aber eine zusätzliche Forschungsförderung über Steuererleichterungen würde der deutschen Chemieindustrie und damit Deutschland als Innovationsstandort helfen?
Dr. U. Küsthardt: Ja, es würde Deutschland auch als Zukunftsstandort sehr gut tun, wenn wir diesen Baustein der steuerlichen Forschungsförderung dazubekommen würden. Auch mit Nebenbedingungen, die ja auch an uns als Industrie gestellt werden. Zurzeit gehen die Diskussionen dahin, die steuerliche Förderung nur für den Mittelstand einzuführen. Das könnte ein wichtiger erster Schritt sein. Wenn es langfristig nur den Mittelstand beträfe, wäre das jedoch eine Benachteiligung der Großindustrie.
Forschung braucht nicht nur innovationsfreundliche politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Auch andere Faktoren beeinflussen die Attraktivität eines Forschungsstandorts.
Dr. U. Küsthardt: Richtig! Forschung erfordert in erster Linie kluge Köpfe. Also spielt es eine entscheidende Rolle, wo man für bestimmte Disziplinen kluge Köpfe findet. Zudem ist für unsere Forschung natürlich auch die Nähe zu den Märkten und Kunden ein bestimmender Faktor.
Auch aus diesen beiden Gründen haben wir uns – um Ihnen ein konkretes Beispiel zu nennen – vor fast vier Jahren für die USA als Standort für das Projekthaus Medical Devices entschieden. Wir haben erkannt, dass unsere Kundenmärkte auf diesem Gebiet in erste Linie in den USA sind und wir dort auch gut ausgebildete Leute finden. Das Personal hätten wir zwar auch an anderen Orten gefunden, aber in der Kombination mit den Kundenmärkten fiel die Standortwahl für dieses Projekthaus schlussendlich auf die USA.
Welche Anforderungen stellt die Digitalisierung an künftige Forschergenerationen? Und wie schätzen Sie die Chancen für die Chemieindustrie ein, künftig in Deutschland entsprechend gut und breit ausgebildete Forscher zu finden?
Dr. U. Küsthardt: Bisher kann ich nur sagen, wir finden die Leute, wir finden sie auch in Deutschland. Fachkräftemangel im Sinne von F&E-Kompetenzen haben wir heute noch nicht, aber in Zukunft könnte es an der einen oder anderen Stelle eng werden. Dem können wir ausweichen, indem wir unsere Forschung & Entwicklung weiter globalisieren. Historisch gewachsen finden heute noch ungefähr 80 % unserer Forschung in Deutschland statt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich das in der Zukunft ändern wird, weil wir wie bereits gesagt mit der Forschung auch nah an unseren Kunden sein wollen.
In der Anwendungstechnologie sind wir global bereits heute gut aufgestellt. Wir verfügen in allen großen Regionen und Märkten über anwendungstechnische Kompetenz, damit wir die Kunden technisch beraten können. Forschung ist aber immer noch sehr stark hier in Deutschland konzentriert. Aber um schneller zu sein, ist es notwendig, die F&E-Mannschaftsstärke und die Innovationskraft weltweit auszubauen, und dafür eben weltweit nach geeigneten Leuten Ausschau zu halten. Und für unsere sehr interdisziplinären Teams suchen wir ja nicht nur Forscher aus dem Chemiebereich.
Digitalisierung, Big Data, halten immer mehr Einzug in die Forschung. Das bedeutet, Sie brauchen in Zukunft Leute, die auch mit Daten umgehen können und einen entsprechenden Hintergrund in Mathematik oder Informatik haben. Ist die Chemieindustrie für solche Spezialisten ein attraktiver Arbeitgeber?
Dr. U. Küsthardt: Absolut! Verglichen mit hippen Tech-Unternehmen mögen wir auf den ersten Blick vielleicht weniger attraktiv wirken. Andererseits kratzen wir in der Chemie in vielen dieser Bereiche erst an der Oberfläche. Aber als Arbeitgeber ist die Chemie auch für solche Leute attraktiv, weil sie sich, wenn sie die entsprechende Fachkenntnis mitbringen, in einem Chemieunternehmen ganz anders positionieren können als in einem Internetkonzern. Wir sehen das an unserem Digitalisierungsteam, das sehr divers zusammengesetzt ist. Hier können sich Leute, die eine besondere Kenntnis mitbringen, stark hervortun. Und die Digitalisierung wird die Chemieforschung noch mehr und schneller verändern als die Automatisierung.
Sie sagten: „die Chemie kratzt beim Thema Digitalisierung an der Oberfläche“. Böse Zungen behaupten sogar, die Chemiebranche ist bei dem Thema rückständig.
Dr. U. Küsthardt: Es wird häufig behauptet, die chemische Industrie sei bei der Digitalisierung im Vergleich mit anderen Branchen weit hintendran. Das ist so nicht richtig. Bei der Prozesstechnologie sind wir in punkto Digitalisierung schon viel weiter als viele andere Industrien. Derzeit konzentrieren wir uns darauf, Daten für Informationsprozesse noch besser zu nutzen. Darüber hinaus kümmert sich unsere neu gegründete Digital GmbH im engen Schulterschluss mit unserem Kerngeschäft darum, neue Geschäftsmodelle mit Hilfe der Digitalisierung zu entwickeln. Hier sehe ich eine der wesentlichen Herausforderungen für die chemische Industrie, wenn wir vermeiden wollen, dass sich branchenfremde Firmen mit digitalen Geschäftsmodellen in die Wertschöpfungs- oder Lieferketten setzen.
Überall wo Daten eine immer größere Rolle spielen, öffnen sich Türen für Quereinsteiger. Meinen Sie das?
Dr. U. Küsthardt: Ja, es ist denkbar, dass Firmen, die nicht die Chemieproduktion beherrschen müssen, aber entsprechendes Wissen auf der Anwendungsseite mitbringen, Plattformen aufbauen und sich damit zwischen Hersteller und ihre Kunden schieben. In einigen Bereichen hat sich ja bereits gezeigt, welche Verwerfungen Quereinsteiger mit digitalen Geschäftsmodellen in einer Branche verursachen können. Das ist durchaus eine Gefahr für die etablierten Industrien. Aber man kann es ja auch umgekehrt betrachten, dann ist es für die Chemiebranche eine Chance, so etwas selbst aufzubauen.
Also eine Vorwärtsintegration in den Wertschöpfungsketten?
Dr. U. Küsthardt: Ja, darin sehe ich eine Chance. Denn zum einen ist es für uns wichtig, bei unseren Kunden einen Pull-Effekt zu erzeugen. Das kann man über Wertschöpfungskettenteilnehmer erreichen, die zwei oder drei Wertschöpfungskettenschritte nach uns und dementsprechend näher am Endkunden sind. Zum zweiten ist es meiner Ansicht nach für die Beschleunigung von Entwicklungen essentiell, mehrere Partner in der Wertschöpfungskette zusammenzubringen. Der Wunsch, Entwicklungen zu beschleunigen, kommt heute zunehmend auch von den Partnern in der Wertschöpfungskette, um im Wettbewerb mit asiatischen Konkurrenten zu bestehen.
Wir Deutschen machen Entwicklungen ja gerne zu 99,999 % fertig, bevor wir sie weitergeben. Aber die Spielregeln auf den globalen Märkten sind andere. Die Partner entlang der Wertschöpfungskette zusammenzubringen, ist eine Möglichkeit, Entwicklungsprozesse zu beschleunigen. Man wird künftig bereits mit einem vielleicht nur zu 80% entwickelten Produkt zu Kunden oder Entwicklungspartnern gehen, um Feedback einzuholen und dann die Entwicklung gemeinsam zu Ende zu führen. So lässt sich nicht nur der Entwicklungsprozess beschleunigen, sondern auch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass das Produkt letztendlich erfolgreich wird.
Die F&E-Quote von Evonik liegt derzeit bei 3,4 %, was einem Forschungsbudget von knapp 440 Mio. EUR entspricht. Wie verteilt sich dieses auf die verschiedenen Innovations- und Geschäftsbereiche?
Dr. U. Küsthardt: Rund 90 % unseres Innovationsbudgets geht in die operativen Segmente, davon betreffen etwa 70 % inkrementelle Innovationen und 30 % disruptive Innovationen. Also auch in den operativen Bereichen wird durchaus an transformativen oder disruptiven Themen gearbeitet.
Unsere strategische Innovationseinheit Creavis, die an mittel- und langfristigen Innovationsprojekten mit zum Teil extrem disruptiven Charakter forscht, erhält etwa 10 % des Budgets. Die Creavis ist zwar organisatorisch von unseren Segmenten separiert, muss aber letztendlich ihre Ausgaben rechtfertigen, indem sie Innovationsprojekte in einem entsprechend reifen Stadium an die Geschäfte überträgt.
Auch das bei der Creavis aufgehängte Konzept der Projekthäuser hat sich aus meiner Sicht positiv weiterentwickelt. Da stand ja am Anfang eher der Gedanke, die organisationsübergreifenden Kompetenzen unserer damals rund 20 Business Units zusammenzubringen. Heute nutzen wir das Projekthaus-Konzept auch, um ganz neue Kompetenzen für Evonik aufzubauen. Aktuell ist das Projekthaus Medical Devices aktiv. Typischerweise laufen die Projekthäuser drei Jahre. Das sehr erfolgreiche Projekthaus Medical Devices endet im März 2018. Ohne dieses Projekthaus wären wir heute nicht an der Stelle, wo wir für die Medical-Device-Industrie wirklich absolut Enabling Solutions bieten können.
Ganz neue Kompetenzen aufzubauen bedeutet auch, ganz neue Umsatzquellen anzuzapfen?
Dr. U. Küsthardt: Natürlich! Inkrementelle Innovationen, beispielsweise Produktanpassungen oder Effizienzverbesserungen in der Produktion, dienen vorrangig dem Erhalt von Umsatz und der Marktposition. Disruptive Innovationen dienen der Erschließung neuer Geschäftsfelder und neuer Geschäftsmodelle, und damit neuer Umsatzquellen. Wir haben die Wachstumskerne Health & Care, Smart Materials, Animal Nutrition und Specialty Additives definiert und darin sechs Innovations-Wachstumsfelder – von Additive Manufacturing bis Sustainable Nutrition – ausgemacht, die bis 2025 einen zusätzlichen Umsatz von 1 Mrd. EUR generieren sollen.
Zusätzlich zum Forschungsbudget von zuletzt jährlich über 430 Mio. EUR stellt Evonik rund 100 Mio. EUR Venture Capital zur Verfügung, dass Sie in Start-ups investieren. Mit welchen Zielen?
Dr. U. Küsthardt: Es gibt unterschiedliche Beweggründe, in Start-ups zu investieren. Das reicht von einer Kooperation bis zu einer möglichen Akquisition. Ziel einer Beteiligung – entweder direkt oder über einen Venture Capital Fonds – ist immer, von den Start-ups zu lernen, entweder über eine Technologie, eine Anwendung oder ein Geschäftsmodell. Ob am Ende einer solchen Partnerschaft, die typischerweise fünf bis sechs Jahre dauert, eine Akquisition steht, ist zu Beginn völlig offen.
Pro Jahr prüfen wir über 500 Start-ups. Derzeit sind wir als strategischer Investor an mehr als 20 Start-ups und spezialisierten Fonds beteiligt. Letztere sind sozusagen unser Radar für Zukunftstechnologien.
Wir möchten uns stärker in der Start-up-Szene engagieren, denn als Unternehmen müssen Sie heute in mehreren Innovationsökosystemen drin sein. Die Start-up-Aktivität im Chemiebereich ist in Deutschland verglichen mit Ländern wie den USA oder Israel noch gering. Das muss man ganz klar sagen.
Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Dr. U. Küsthardt: Es gibt Universitäten, die das fördern, und es gibt Inkubatoren, aber die sind rar. Viele Chemie-Start-ups scheitern am Zugang zu Laborraum. Ich glaube aber auch, dass es eine Einstellungsfrage oder Mindset-Frage ist. Letztendlich liegt es an den Menschen. Die Einstellung kann man über die Erziehung, die Schule oder die Universität fördern. Das passiert jetzt gerade in Deutschland. Es gibt Universitäten, die da absolute Vorreiter sind. Die TU München ist für mich ein Paradebeispiel in Deutschland.
Die chemische Industrie ist gut beraten, das mit zu fördern, zum einen, um Disruptionen möglichst früh zu erkennen, zum anderen aber auch, um diese Talente für sich zu nutzen. Solche Leute sind für uns hochattraktiv, weil sie den richtigen Mindset mitbringen. Übrigens fördern wir diese Start-up-Mentalität auch intern über den Evonik Entrepreneurship-Wettbewerb.
Wie lässt sich der Erfolg Ihrer Innovationsmaßnahmen messen, welches sind Ihre Innovationsziele?
Dr. U. Küsthardt: Seit 2012 betrug der Wertzuwachs unserer Innovationspipeline 33 %, und wir streben weiterhin eine kontinuierliche Wertsteigerung an. Zusätzlich zu den genannten Zahlen – 4 Mrd. EUR Forschungsaufwendungen sowie 1 Mrd. EUR zusätzlicher Umsatz aus den Innovationswachstumsfeldern bis 2025 – wollen wir die F&E-Quote mittelfristig über der 3-%-Marke halten und den Umsatzanteil von Produkten und Anwendungen, die jünger als 5 Jahre sind, von heute 10 % auf mittelfristig 16 % steigern.