Im Asset Life Cycle denken
Nutzenorientierte Geschäftsmodelle auf Basis digitaler Technologien
„Mir macht es Spaß, mein Wissen in die Unternehmensentwicklung einzubringen, zumal der Markt im Augenblich sehr dynamisch ist.“
CHEManager: Herr Otten, nach ihrem Ausscheiden bei Evonik sind Sie seit Dezember 2019 Beirat der TTP Group mit den operativen Marken Pharmaplan und Triplan. Was hat Sie zu diesem Schritt bewogen?
Wilhelm Otten: Ich habe beschlossen, mit Anfang 60 noch nicht „in Rente zu gehen“, dafür macht mir die Arbeit bei den aktuellen Entwicklungen noch viel zu viel Spaß. Nach meinem Ausscheiden aus der Evonik habe ich verschiedene Aktivitäten gestartet, unter anderem eine Beratung gegründet und eine Lehrtätigkeit angenommen. In die Entwicklung der TTP Group kann ich meine Kenntnisse des Engineering-Geschäfts aus verschiedenen Blickwinkeln einbringen: als Projektingenieur, als Kunde von Engineering-Unternehmen, als Leiter eines am Markt tätigen Servicebereiches der Evonik mit einem Schwerpunkt in der betriebsnahen Projektabwicklung und nicht zuletzt als Verantwortlicher für die weltweite Verfahrensentwicklung und Engineering mit Großprojekten mit mehreren hundert Millionen Euro Investitionssumme.
Was macht den Markt ihrer Meinung nach im Augenblick so dynamisch?
W. Otten: Die besondere Dynamik kommt aus den großen technologischen Entwicklungen in der Prozessindustrie. Gerade ist Digitalisierung ein Mega-Thema, deshalb sehe ich generell als auch für uns als Engineering-Dienstleister ganz speziell zwei relevante Bereiche: Da ist zum einen das Datenmanagement entlang des Produkt- und Anlagenlebenszyklus, das „Integrated Engineering“, und zum anderen die vertikale Integration in der Produktion, das heißt, das durchgängige Datenmanagement von der Feldebene mit ihren Aktoren und Sensoren bis in die ERP-Systeme. Die Umsetzung dieser digitalen Transformation verlangt ein gutes Verständnis der Geschäftsprozesse und deren Informationen, IT/OT-Know-how und Fähigkeiten des Change-Managements. Denn nicht nur die Technik ändert sich, auch die Prozesse, Rollen und Aufgaben der Mitarbeiter. Die Erfahrung in diesen Bereichen bringe ich aus meinen Projekten und meiner Verbandstätigkeit ein, etwa als NAMUR-Vorsitzender, Mitglied von DEXPI/JIP36 oder dem VDI.
Wie konkret können neue nutzenorientierte Geschäftsmodelle auf Basis von digitalen Technologien aussehen?
W. Otten: In der Prozessindustrie erkennt man immer mehr den Vorteil, die Anlageninformation nicht in Zeichnungen, sondern in datenbankorientierten CAE-Systemen zu planen und zu verwalten. Die Effizienzvorteile, aber vor allem auch die Qualitätsvorteile eines über die Engineering-Phasen und Gewerke integrierten Datenmanagements werden wir aber nur nutzen können, wenn die Datenmodelle und Systeme durchgängig sind. So ist ein Großteil der Arbeit aktuell, die Informationen in die CAE-Systeme zu bringen und die Schnittstellen zum Beispiel zwischen 2D-Werkzeugen und 3D-Werkzeugen zu definieren. Die Vorteile eines integrierten Engineerings liegen vor allem in der effizienteren technischen Betreuung von Bestandanlagen, betriebsnahen Umbauprojekten und technischen Änderungen. Die TTP Group ist mit ihren Dienstleistungen in diese Entwicklung eingebunden.
Pharmaplan beschäftigt sich intensiv mit der Kopplung der Verfahrensplanung mit dem Building Information Management, kurz BIM, der Gebäudeplanung, was besonders für die Pharmaindustrie von Bedeutung ist. Triplan ist gut aufgestellt beim Process Information Modelling, kurz PIM, was für die verfahrenstechnischen Prozesse der chemischen Prozessindustrie relevant ist.
Welche Bedeutung hat der digitale Zwilling für durchgängige Datenmodelle?
W. Otten: Wenn ich von einem integrierten Datenmodell entlang des Lebenszyklus und Gewerke-übergreifend spreche, dann ist das nichts anderes als der „digitale Zwilling“, oder zumindest der wesentliche Teil. Das Datenmodell ist die digitale Abbildung des Prozesses, der Anlagenstruktur und der Assets.
Nach unserem derzeitigen Verständnis gehört zu einem vollständigen digitalen Zwilling in der Prozessindustrie neben dem eben beschriebenen Anlagenmodell noch ein „Verhaltens- oder Simulationsmodell“ und ein „Operations-Modell“, welches alle Information des Betriebs, zum Beispiel die Messwerte, enthält. Das Simulationsmodell benötige ich für die Verfahrensentwicklung, für die Anlagenoptimierung, aber auch für höherwertige Regelungen wie Advanced Process Control. Das Verhaltensmodell kann auch eine KI-Lösung sein, mit der ich das Verhalten des Prozesses oder der Anlage auf Basis historischer Daten vorhersagen kann. Beispielsweise pflegt und erweitert Triplan für den größten Vielzweckbetrieb in Deutschland für chemische Wirkstoffe den digitalen Zwilling und damit ein durchgängiges Datenmodell von der Ersterstellung über alle Anlagenerweiterungen und Umbauten bis zum aktuellen Stand.
Die Modularisierung soll für die Spezialchemie und die Pharmaindustrie die Flexibilität und die Time to Market verbessern. Ist die Digitalisierung dabei ein Enabler?
W. Otten: Das Ziel der Modularisierung ist am Ende, über eine Kapselung der Units/Funktionen einer Prozessanlage die Möglichkeit zu haben, eine Prozessanlage nicht immer wieder komplett individuell zu entwickeln und zu bauen, sondern die Anlage aus Modulen zu konfigurieren. Das geht nur, wenn ich die Informationen über die Module in digitaler Form zur Verfügung habe. Das beste Beispiel ist das Module Type Package oder kurz MTP. Der MTP ist ein digitaler Zwilling des Modules und enthält im Bezug auf den vorhin beschriebenen digitalen Zwilling das Anlagenmodell im HMI und eine Reihe von Operationsteilmodellen, zum Beispiel „Control“ oder „Maintenance“. Was uns noch fehlt zum vollständigen digitalen Zwilling des Moduls ist in der derzeitigen Definition des MTP das Simulationsmodell.
Welche Leistungen und Fähigkeiten erwartet die Prozessindustrie von ihren Engineering-Partnern heute und in Zukunft?
W. Otten: Der Trend, dass die Kunden vom Engineering-Dienstleister ein umfassendes Angebot über den Lebenszyklus, von der Verfahrensplanung bis in die Betriebsbetreuung erwartet, wird sich fortsetzen. Das bezieht sich auf alle Gewerke wie Verfahrenstechnik, Bau, Maschinen/Apparate, Rohrleitungstechnik und Automatisierungstechnik und der Kunde erwartet, dass der Dienstleister dieses Angebot je nach Anforderung integriert.
Die TTP Group deckt sowohl das Projektmanagement als auch die Betriebsbetreuung ab und ist für Leistungen wie ein intelligentes, integriertes Datenmanagement prädestiniert. Für die Entwicklungen des Integrated Engineering sind wir gut aufgestellt. Ausbauen werden wir unsere Kompetenz in der Automatisierungstechnik: Der Trend zum Integrated Engineering und die Tatsache, dass das Betriebsmanagement immer stärker auf der Automatisierungstechnik beruht, verlangt diese Kompetenzen, die die Gruppe zukaufen und entwickeln wird.
Ich sehe die TTP in zwei bis drei Jahren als über den Lebenszyklus und die verschiedenen Gewerke integrierten Dienstleister, der seinen Kunden eine optimale Problemlösung aus diesem Portfolio bieten kann. Das sind Neubauprojekte als Generalplaner oder die Maßnahmen in der Betriebsbetreuung mit der umfassenden technischen Kompetenz. Diese optimale Problemlösung kann man als Dienstleister nur erbringen, wenn man nicht in Projekten und Instandhaltung denkt, sondern im Asset-Lebenszyklus und in Optimierung der Lebenszykluskosten. Und diese Problemlösung wird immer stärker aus einem Paket aus Technologie und Dienstleistung bestehen. Das heißt aber auch, dass die Dienstleistung stärker „Datenmanagement“ als „Datenerzeugung“ beinhalten wird, da die Daten nicht mehr mehrfach generiert werden, sondern nur dort, wo sie das erste Mal erzeugt oder automatisiert erzeugt werden, zum Beispiel durch Laserscanning.
Um die Basis für dieses umfassende Leistungspaket zur Verfügung zu stellen, bedarf es einer kritischen Masse. Hier hilft uns, dass wir mit Chemie und Pharma die größten Bereiche der Prozessindustrie abdecken und europaweit unterwegs sind. Die Kunst bei einer solchen Aufstellung ist bei einer weiter dezentralen Geschäftsverantwortung, die Kompetenzen des Unternehmens über die Teilgesellschaften hinweg und regional-übergreifend zu nutzen. Dazu bedarf es, neben einer klaren Ausrichtung auf die integrierte Asset-Life-Cycle-Dienstleistung, einer starken Vernetzung auf Management- und Facharbeitsebene mit einem guten Management nicht nur der Niederlassungen, sondern auch der Kompetenzzentren.
Zur Person
Wilhelm Otten studierte Maschinenbau und promovierte im Bereich der Verfahrenstechnik. Er startete seine berufliche Karriere 1988 bei der Degussa und hatte danach verantwortungsvolle Positionen bei Röhm in Wesseling und Frankfurt, bei Infracor in Marl und bei Evonik-Röhm. Von 2015 bis 2019 leitete er das Geschäftsgebiet Verfahrenstechnik & Engineering der Evonik Technology & Infrastructure. Seit Dezember 2019 ist er Beirat der TTP Group.
Wilhelm Otten arbeitet aktiv in verschiedenen Verbänden wie DEXPI (Data Exchange in Process Industry, Dechema), JIP36 (Joint Industry Initiative Data Exchange in Process Industry) und dem VDI. Von 2011 bis 2018 war er Vorsitzender der NAMUR.