Gefahrgutbeförderung im Reich der Mitte
Eine Momentaufnahme und Ausblick auf die zukünftigen Entwicklungen in China
Es kommt weiter Bewegung in die Fortentwicklung der gefahrgutrechtlichen Vorschriftenlandschaft in der Volksrepublik China. Welche Gefahrgutvorschriften werden jetzt schon unmittelbar in China angewendet und wo findet eine weitere Näherung an geltende europäische Vorschriften statt? Wir geben eine Bestandsaufnahme.
Die Beförderung von Gefahrgütern unterliegt internationalen und nationalen Rechtsvorschriften. Im Allgemeinen liegen allen Regelwerken der gleiche Gefahrgutbegriff zugrunde. Gefährliche Güter sind Stoffe, Gemische oder Gegenstände, von denen eine Gefahr für die Gesundheit, die Sicherheit, für Eigentum oder die Umwelt im Beförderungsprozess ausgeht. Sie werden in Verzeichnissen internationaler und nationaler Regelwerke zur Gefahrgutbeförderung aufgelistet oder nach deren Vorschriften als solche klassifiziert. Internationale Regularien mit weltweitem Geltungsbereich stellen der International Maritime Dangerous Goods Code (IMDG-Code) für den Seeverkehr und die Dangerous Goods Regulations der International Air Transport Association (IATA) für den Luftverkehr dar. Fast alle Staaten, die Gefahrgut im internationalen See- und Luftverkehr befördern, haben diese Regelwerke ratifiziert. Dazu gehört auch die Volksrepublik China.
Für die weiteren Verkehrsträger wie Straße, Schiene oder Binnenschiff kommen andere Gefahrgut-Regelwerke mit einem begrenzteren Geltungsbereich in Betracht. So gilt z. B. das Europäische Übereinkommen über die internationale Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße (ADR: Accord européen relatif au transport international des marchandises Dangereuses par Route) in allen Ländern der europäischen Union und darüber hinaus in weiteren Staaten, wie der Türkei, der Russischen Föderation, Marokko oder Nigeria. Die nähere Betrachtung zeigt, dass es bei der Gefahrgutbeförderung auf der Straße nicht auf gemeinsame Grenzen ankommt, um das ADR anzuwenden. Auf eine Betrachtung der Verkehrsträger Schiene und Binnenschiff an dieser Stelle verzichtend, kann man resümieren, dass anscheinend der Inhalt und die Struktur des ADR bei immer mehr Staaten dieser Erde als praxisnahe und regelungstiefe Vorschrift gesehen wird und damit das ADR als zentrales Regelwerk für den Gefahrguttransport im eigenen Land, durch Ratifizierung desselben, eingeführt wird.
Gefahrgutbeförderung in China
In der Volksrepublik China hat in den letzten Jahren und vor allem Monaten eine Bewegung zur Weiterentwicklung der gefahrgutrechtlichen Vorschriftenlandschaft stattgefunden und ist noch nicht abgeschlossen. Aufgrund der Vielzahl der bestehenden Regelungen, vor allem im Bereich der sog. nationalen Standards (GB-Standards) und verkehrstechnischen Standards (JT-Standards), und der damit verbundenen Komplexität und teilweise auch Unvollständigkeit des Regelsystems, sah man Handlungsbedarf zu Änderungen.
Diese Entwicklung fand mit dem Inkrafttreten des Standards JT/T 617 – Vorschriften für den Straßentransport gefährlicher Güter (Regulations concerning Road Transportation of Dangerous Goods), dem sog. „Chinesischen ADR“ zum 1. Dezember 2018 ihren ersten Höhepunkt. Einen zweiten Meilenstein stellen die Verwaltungsmaßnahmen für die Sicherheit der Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße (Administrative measures for safety of the carriage of dangerous goods by road) dar, die zum 1. Januar 2020 in Kraft gesetzt wurden.
Der rechtliche Rahmen
Der rechtliche Rahmen für die Gefahrgutbeförderung setzt sich aus insgesamt vier Ebenen zusammen:
Die erste und höchste Ebene bilden die Regularien der internationalen Konventionen und Modellvorschriften. Sie dienen u. a. als Grundlage für Chinas nationale Regelungen und Standards. Auf dieser Ebene befinden sich auch der IMDG-Code und die IATA-DGR, die unmittelbar in China angewendet werden.
Auf zweiter Ebene finden sich die u. a. vom Volkskongress verabschiedeten Gesetze. Eine für den Gefahrguttransport wichtige Regelung dieser Ebene stellt die Decree 591 – Vorschriften zur Kontrolle der Sicherheit von gefährlichen Chemikalien (Regulations on the Control over Savety of Hazardous Chemicals) vom 1. Dezember 2011 dar. Sie listet Regeln und Verantwortlichkeiten für das sichere Management von gefährlichen Chemikalien auf und besteht aus insgesamt acht Kapiteln mit 102 Artikeln. Sie gibt die Regelungsinhalte der auf den nachfolgenden Ebenen dargestellten Vorschriften wieder und legt in Kapitel fünf „Transportsicherheit“ die in nachfolgenden Vorschriften zu regelnden Inhalte fest.
Die dritte Ebene stellt die Plattform für alle Regularien der Ministerien und staatlichen Verwaltungen dar. Hier sind aktuell die oben aufgeführten Verwaltungsmaßnahmen für die Sicherheit der Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße zu nennen, die seit Anfang des Jahres 2020 verpflichtend gelten.
Auf der vierten und damit untersten Regelungsebene finden sich nationale „GB“-Standards und verkehrstechnische „JT“-Standards, die ohne Schrägstrich mit Buchstaben „ /T “ als verpflichtend gelten, mit „ /T “ in ihrer Anwendung empfohlen werden, wie z. B. das JT/T 617. Es existieren ca. 124 nationale (GB) und verkehrstechnische (JT) Standards in verpflichtender und empfohlener Form, die den Transport von Gefahrgütern und der damit einhergehenden Bereiche wie u. a. Klassifizieren, Verpacken, Betrieb von Tankfahrzeugen etc. regeln.
T/T 617, das „Chinesische ADR“?
Das JT/T 617 ist seit dem 1. Dezember 2018 in Kraft und besteht aus insgesamt sieben Teilen. Im Vergleich der Inhalte der sieben Teile mit den entsprechenden neun Teilen des europäischen ADR kommt es zu wesentlichen Übereinstimmungen mit dem ADR von 2015. Die Teile eins bis fünf beider Vorschriften (Allgemeine Vorschriften, Klassifizierung, Güterverzeichnis, Freistellungs- und Sondervorschriften, Verwendung von Verpackungen und Tanks, Versandvorschriften) entsprechen sich im Wesentlichen. Der Teil sechs des JT/T entspricht dem Teil sieben (Beförderungsvorschriften) des ADR, der Teil sieben des JTT/T dem Teil acht (Fahrerschulung, Ausrüstung und Betrieb der Fahrzeuge) des ADR. Die Teile sechs (Bau und Prüfung von Verpackungen und Tanks) und neun (Vorschriften für den Bau und die Zulassung der Fahrzeuge) des ADR wurden nicht in das JT/T übernommen. Neben dem JT/T 617 sind auf gleicher Ebene weitere chinesische Standards, wie z. B. zur Klassifizierung, zu Verpackungen oder zu Fahrzeugen zu finden. Das JT/T 617 umfasst parallel dazu einige Inhalte der bereits vorhandenen Standards, ist aber zum jetzigen Zeitpunkt als Einzelvorschrift noch in der freiwilligen Anwendung, worauf das „/T“ nach dem Schrägstrich hinweist.
Weitere Entwicklung
Mit der Inkraftsetzung der JT/T 617 setzte das chinesische Ministerium für Transport (MOT) einen Standard zur Gefahrgutbeförderung, der für die Unternehmen bisher nicht verpflichtend ist. Ein weiterer Schritt in der Fortentwicklung der Regularien bestand in der Inkraftsetzung der aus sieben Kapiteln und insgesamt 79 Artikeln bestehenden Verwaltungsmaßnahmen für die Sicherheit der Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße zum 1. Januar 2020. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des JT/T 617 befand sich diese Verwaltungsmaßnahme noch in einem Neuentwurfsstadium. Mit der neuen genannten Verwaltungsmaßnahme ändert sich vieles, da ihr Regelungsbereich weiter gefasst ist und von den an der Gefahrgutbeförderung in China beteiligten Unternehmen verbindlich angewendet werden muss. Aus der Nennung der Vorschriften und Standards in der Maßnahme ergibt sich die Schlussfolgerung, dass u. a. die bisher unverbindliche Anwendung des „Chinesischen ADR – JT/T 617“ in den in der Richtlinie genannten Teilen nun als verbindlich gilt. Ein Novum stellt auch die Auflistung bußgeldbewährter Tatbestände dar.
Mit dieser Regelung nähert sich die Gefahrgutbeförderung in China immer stärker der für die ADR-Staaten geltenden europäischen Vorschrift an und ebnet damit weiter den Weg für eine mögliche Ratifizierung des ADR durch die Volksrepublik China.
Fazit
Auf der einen Seite gewinnt die Gefahrgutbeförderung in China durch die Orientierung an europäischen Regelungen mehr an Transparenz, auf der anderen Seite bleiben dennoch vorerst viele wesentliche Unterschiede. Diese Abweichungen können offensichtlich oder auch versteckt sein. Ein reines Verlassen auf bisher bekannte Prozesse und Regelungen, auch im Hinblick auf die „Nur-Anwendung“ von IATA- oder IMO-Gefahrgutvorschriften, ist nicht zu empfehlen. Vielmehr ist es sinnvoll, die Rechtsentwicklung in China zu verfolgen und gemachte Praxiserfahrung mit anderen europäischen Versendern auszutauschen. Über den Tellerrand hinausblickend spielen auch weitere Rechtsvorschriften, wie z. B. aus dem China GHS oder chinesischen Zollvorschriften, eine wichtige Rolle, wenn es um die Gefahrgutbeförderung geht. Gefahrgüter sind in vielen Fällen von ihrem Wesen her ein Gefahrstoff und es gelten andere Gesetze und Verordnungen, die eine Transportverzögerung bei Nichtbeachtung auslösen könnten.
Autor: Willi Weßelowscky, Leiter Team Gefahrgut, UMCO Umwelt Consult GmbH, Hamburg
ZUR PERSON
Willi Weßelowscky berät seit Anfang 2001 als externer Gefahrgutbeauftragter im Namen der UMCO viele Kunden, die weltweit Gefahrgüter befördern, leitet Gefahrgutseminare und hält Vorträge bei nationalen und internationalen Fachveranstaltungen. Seit 2014 beschäftigt er sich mit der Beratung zum chinesischen Gefahrgutrecht. Als Teilnehmer des deutsch-chinesischen Projekts „Erhöhung der Transportsicherheit in China“ beobachtet er die weitere Entwicklung des Gefahrgutrechts in der Volksrepublik.