Frugale Innovation und Unternehmergeist – was wir von Indien lernen können
15.07.2014 -
Die rasante wirtschaftliche Entwicklung Indiens wird häufig mit der seines regionalen Rivalen China verglichen. Dabei schneidet das Land bei Investitionsentscheidungen ausländischer Unternehmen zumeist schlechter ab. Die immense Bürokratie, die mangelnde Infrastruktur und stark dezentralisierte Märkte verstärken dieses Image noch. Doch gerade diese Probleme haben die lokalen Unternehmen dazu gezwungen, nach neuen Wegen der Innovation und Unternehmensführung zu suchen.
Westliche Unternehmen, die erfolgreich in solche Wachstumsmärkte einsteigen wollen, tun gut daran, sich diese neuen Lösungsansätze genauer anzusehen. Vielleicht sollten sie sich sogar fragen, ob ihnen diese neuen Erkenntnisse helfen, in den immer anspruchsvolleren westlichen Märkten zu bestehen, in denen die Verbraucher immer mehr für ihr Geld fordern, der Wettbewerb immer härter wird und die Unternehmen infolgedessen ihre Geschäftsmodelle überdenken müssen.
Einfache und bezahlbare Innovationen
In den meisten westlichen Unternehmen zielt die Innovation auf die Entwicklung von Produkten mit besseren Eigenschaften, die teurer verkauft werden können. In den Wachstumsmärkten dagegen müssen sich die Unternehmen auf Kunden mit geringerer Kaufkraft einstellen. Hier kommt es darauf an, bezahlbare Produkte bei gleichbleibender Qualität zu entwickeln. Die sog. „frugale Innovation" münzt Ressourcenknappheit - ob finanziell, institutionell oder materiell - in einen Wettbewerbsvorteil um. Indem sie den Einsatz knapper Ressourcen minimiert und optimiert sorgt die frugale Innovation für kostengünstige Produkte und Dienstleistungen ohne Abstriche bei der Qualität. Daneben legt sie großen Wert auf Nachhaltigkeit und Umweltschutz und erfüllt zudem oft einen sozialen Zweck.
Beispiel für eine frugale Innovation in Indien ist der Wasseraufbereiter Swach von Tata Chemicals, der ohne Strom oder fließend Wasser funktioniert. Das Swach-Filtersystem besteht aus nanogroßen Silberpartikeln, die auf ein Trägermedium aus faseriger Reisschalenasche - einem Nebenprodukt des Reisanbaus - aufgebracht sind und Bakterien im Trinkwasser abtöten. Eine Abschaltautomatik nimmt das Gerät außer Betrieb, wenn die Filterkraft nicht mehr ausreicht. Das Filtersystem im eleganten Gehäuse hat bereits mehrere nationale und internationale Innovations- und Designpreise erhalten, darunter den ICIS Best Product Innovation Award 2010. Zudem ist es ein Beleg für das gesellschaftliche Engagement und die Werte des Unternehmens. Denn Tata Swach ermöglicht es Millionen von Menschen, insbesondere in Afrika, Südostasien und Lateinamerika, Wasser kostengünstig aufzubereiten. Weltweit könnte das System fast 900 Mio. Menschen mit Trinkwasser versorgen.
Der Verkaufspreis des Geräts liegt mit rd. 20 US-$ fast 50 % unter dem Preis des stärksten Konkurrenten. Trotzdem ist es noch immer nicht für alle bezahlbar. Tata arbeitet daher daran, den Verkaufspreis weiter zu senken und den Marktzugang in Indien und Südostasien zu vergrößern.
Personalentwicklung als Schlüssel zum Erfolg
Neben Produktinnovation bietet Indien auch Lehrreiches in der Organisation und im Führungsstil. Eine Studie, veröffentlicht im Harvard Business Review im Jahr 2010, zeigt, dass erfolgreiche indische Führungskräfte mehr Zeit für interne Prozessen wie Strategieentwicklung und Veränderungsmanagement investieren als ihre US-Kollegen, die sich stärker mit externen Prozessen wie Beziehungen zu Shareholdern oder Regulierungsfragen befassen. Dies ist allerdings teils auch der Vielzahl von Familienunternehmen und dem anderen Regulierungsumfeld in Indien geschuldet.
Strategieentwicklung umfasst in vielen führenden indischen Unternehmen den Aufbau der notwendigen Kompetenzen, Übernahme sozialer Verantwortung und die Anregung der Mitarbeiter sowohl pragmatisch als auch langfristig zu denken. Strategieentwicklung in Indien ist dynamisch, erfordert weniger Planung und Detailanalyse und ist stärker auf die Umsetzung gerade auch angesichts eines schnelllebigen Marktumfelds gerichtet. Dies zeigt sich auch in einem stärkeren Unternehmergeist, der selbst in größeren indischen Unternehmen vorherrscht.
Indische Spitzenmanager investieren im Schnitt mehr Zeit und Ressourcen auf die Mitarbeiterschulung als ihre westlichen Kollegen. Neben dem Kompetenzaufbau gilt die Personalentwicklung als Schlüssel zur Mitarbeiterbindung und zum Aufbau der Unternehmenskultur. Ganz anders als im Westen: Laut Studien erhalten nur 25 % der neu eingestellten Mitarbeiter in den ersten zwei Beschäftigungsjahren ein Training. Der American Society für Training and Development zufolge halten nur 4 % der Personalchefs in den USA Schulungen und Mitarbeiterentwicklung für einen wichtigen Baustein zum Aufbau von Wettbewerbsvorteilen. Dagegen geben über 80 % ihrer indischen Kollegen an, dass Weiterbildungen enorm wichtig für ihr Unternehmen sind.
Mehr Unternehmergeist
Aus den Herausforderungen, die indische Firmen im Laufe der Geschichte bewältigt haben, lassen sich einige Lehren für den Umgang mit komplexen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ziehen. Indische Unternehmen können dem Rest der Welt zeigen, wie man anspruchsvollen Kunden mit zweckmäßigen, nicht übertechnisierten Produkten begegnet. Indische Unternehmen zeigen ihren westlichen Pendants zudem, wie effektiv ein anderer Organisations- und Führungsstil sein kann.
Auch wenn sich Unternehmen nicht von bestehenden Geschäftspraktiken wie dem Shareholder Management lossagen können, sollten sie doch einige indische Praktiken näher in Betracht ziehen, bspw. die Mitarbeitermotivation oder die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung. Angesichts der zunehmenden Marktkomplexität und der von den Unternehmen geforderten Flexibilität sind westliche CEOs aufgefordert, ihre eigene Agenda und die Effektivität ihrer Organisation zu prüfen - um so vielleicht den Unternehmergeist, den viele indische Unternehmen zeigen, neu bei uns zu entfachen.