Erfolgsformeln für die Chemische Industrie
27.07.2013 -
Erfolgsformeln für die Chemische Industrie – Welche Zukunftsperspektiven sehen westeuropäische Top-Manager?
Die Entscheider an der Spitze der europäischen Chemiekonzerne haben fünf Schwerpunktthemen auf dem Radar - so das Ergebnis einer Trendstudie.
- Die Bereinigung des Geschäftsportfolios allein wird kein hinlängliches Wachstum generieren - hierfür bedarf es ergänzender Strategien.
- Bislang standen alle BRIC-Länder im Fokus, künftig favorisiert man China und den Mittleren Osten für regionale Expansionen.
- Reach wird noch nicht als Chance für transparentes Marketing und effektive Wettbewerbsdifferenzierung wahrgenommen.
- Innovationen gelten zwar ausnahmslos als Schlüssel der Zukunftssicherung, doch werden die internen Potentiale bei weitem nicht ausgeschöpft.
- Nachholbedarf hat die Branche beim Komplexitätsmanagement. Hier können Erfahrungen aus der Automobil- und Konsumgüterindustrie wegweisend sein.
Die europäische Chemieindustrie hat reelle Chancen, auch im Zeitalter einer dynamischglobalen Marktentwicklung der Schrittmacher dieser Branche weltweit zu bleiben.
Historisch gewachsene Wettbewerbspositionen bieten hierfür aber bestenfalls eine Pole-Position. Das Rennen in der anstehenden Dekade ist grundsätzlich offen.
Den traditionellen Playern treten neue Konkurrenten zur Seite, und die Koordinaten der Branche verändern sich gravierend. Die Zukunft dieser Industrie ist ein „moving target".
Alles ist in Bewegung: Kosten und Kapazitäten, Portfolios und Potentiale, Standards und Standorte.
Die größte Herausforderung für das Management eines europäischen Chemieunternehmens besteht deshalb darin, die strategischen Trends der weltweiten Entwicklung präzise zu antizipieren und die zunehmende Komplexität der Produkte, Prozesse und Strukturen ganzheitlich und effizient zu managen. Was bewegt die führenden Köpfe dieser Schlüsselindustrie?
Welche Trends und Tendenzen prognostizieren sie? Was sehen sie selbstkritisch und wo herrscht begründetes Selbstbewusstsein? Management Engineers und die französische Business School Insead haben diese Fragen recherchiert und die gewonnenen Erkenntnisse analysiert. Interviewt wurden 47 Vorstände und Geschäftsführer von 34 großen Chemieunternehmen in Europa, deren Umsatz mindestens 1 Mrd. € beträgt.
Aus den Antworten und Kommentaren der befragten Meinungsbildner und Entscheidungsträger ergeben sich fünf Themen, die die unternehmerische Agenda des Top-Managements dieser Branche bestimmen:
Erstens: Optimierung des Geschäftsportfolios
Die große Mehrzahl der Vorstände und Geschäftsführer ist davon überzeugt, dass nur eine Fokussierung auf Kerngeschäfte die Profitabilität ihres Unternehmens steigern kann.
Aber das allein wird den hohen Erwartungen der Kapitalmärkte nicht gerecht. Strategien der gezielten Diversifizierung müssen parallel verfolgt und realisiert werden.
Geeignete und passende Übernahmekandidaten sind derzeit allerdings selten und teuer. So rechnet man erst einmal mit einer Konsolidierung der Branche.
Dabei werden Private Equity Unternehmen bei der kurzfristigen Trennung von Unternehmensteilen, die nicht optimal ins Geschäftsportfolio passen, Interesse zeigen. Mittelfristig - so die Erwartungen - wird organisches Wachstum maßgeblich über Produktinnovation und regionale Expansion realisiert.
Gezielte Akquisitionen von Wettbewerbern können diese strategische Ausrichtung ergänzen. Langfristig investieren Unternehmen dann wieder verstärkt in die Diversifizierung ihres Portfolios, um so neue Geschäftsfelder zu erschließen.
Auch dabei dienen gezielte Akquisitionen dem Zugang fremder Technologien wie auch einer zeitnahen Ergebnisverbesserung, die dem Kapitalmarkt geschuldet ist.
Zweitens: Wachstumsregionen China und Mittlerer Osten
Obwohl der Schutz geistigen Eigentums in China noch nicht unseren Vorstellungen von Fair Play im Wettbewerb entspricht, (an)erkennt man in deutschen Chefetagen, dass die politischen Instanzen Chinas das Problem ins Visier genommen haben.
Gesetze und Sanktionen gegen IP-Verletzungen werden konsequenter verfolgt. So nehmen europäische Chemiekonzerne in Erwartung einer langfristig besseren Zukunft die aktuell riskante Situation in Kauf, denn das Zeitfenster für den Aufbau von Marktführerschaften wird eng.
Und wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich der Markt. Im Falle China ist es ein gigantischer Wachstumsmarkt - mit strategisch-logistischer Bedeutung für die asiatische Region insgesamt. Schließlich ist das Reich der Mitte auch ein idealer Brückenkopf nach Russland im Norden und nach Indien im Süden.
Insofern ist die Attraktivität Chinas wohl begründet. In fünf bis spätestens zehn Jahren, wenn die Rechtslage verlässlich und stabil sein sollte, wird man sogar in der Chemie das Offshoring von Forschung und Entwicklung zugunsten dieser Region wagen.
Einen vergleichbaren Standortvorteil bietet der Mittlere Osten: Dort werden 2008 und 2009 so genannte World-scale- Anlagen für Basischemikalien und Kunststoffe in Betrieb genommen, die gegenüber den Produktionsstätten hierzulande die doppelte Kapazität bieten. Nicht nur Asien ist dann als Absatzmarkt avisiert, sondern auch Europa.
Diese Entwicklung tangiert also die Exporte der europäischen Unternehmen als auch deren Marktpositionen vor der eigenen Haustüre.
So bleibt der hiesigen Chemieindustrie nur die Wahl, dem Zug der Entwicklung hinterher zu schauen oder als Weichensteller und Lokführer sowohl Richtung als auch Tempo mit zu bestimmen. Die Verantwortlichen haben diese Alternative klar erkannt – entweder sie bleiben die Spielmacher oder sie werden ein Spielball.
Drittens: Wettbewerbsvorteile durch Reach
Das Gesetz zur Registrierung von Chemikalien (Reach) ist existent, aber die Branche weiß nicht so recht, wie sie damit leben soll.
Auch in den Chefetagen hat man sich noch nicht zu der Einsicht durchgerungen, dass man aus Steinen, die einem in den Weg gelegt worden sind, durchaus etwas Konstruktives bauen kann.
Auflagen kann man als Aufwertung kommunizieren, weil Testate Differenzierung ermöglichen. So wird aus der bürokratischen Not eine Tugend der Transparenz, aus der ein Wettbewerbsvorteil entsteht.
Produkte, die mit Vorurteilen behaftet sind, können jetzt vom Kunden besser beurteilt werden. Registrierte Chemikalien erhöhen nämlich das Vertrauen in den Lieferanten und verbessern die Lieferbeziehung.
So wird aus dem „Made in Europe" ein weltweites Qualitätssiegel, um das uns Produzenten aus anderen Regionen der Welt beneiden. Der europäische Standard wird Schule machen, aber nicht jeder Wettbewerber in Fernost wird diesen neuen Numerus Clausus erfüllen. Gesetze können also durchaus hilfreiche Maßstäbe setzen, die dem eigenen Marketing zugute kommen.
Viertens: Innovationsmanagement
Es mangelt an Innovationen - nicht nur im Produktportfolio, sondern auch bei den Produktionsprozessen und beim Service. Obwohl schon vor Jahren so genannte Stage-gate-Prozesse zur systematischen Steuerung von Produktentwicklungsprojekten in den Unternehmen eingeführt wurden, ist das Top-Management höchst selbstkritisch:
Es konstatiert unumwunden, dass die Innovationskraft der westeuropäischen Chemiewirtschaft lahmt. Mag dieses Urteil sicherlich nicht auf alle Unternehmen gleichermaßen zutreffen, so kennzeichnet es doch die Verfassung der Branche insgesamt.
Woran liegt das, und was ist zu tun? Innovation wird immer noch allzu oft mit Produktinnovation gleichgesetzt. Innovation wird weit weniger als eine kreative, kontinuierliche Optimierung aller Wertschöpfungsprozesse wahrgenommen. Neuerungen im Service und bei der Marktpositionierung beispielsweise entsprechen nicht dem traditionellen Innovationsverständnis der Branche.
Folglich werden Innovationsprozesse nicht „gelebt", was dazu führt, dass das Innovationspotential der Unternehmen nur partiell realisiert wird. Hier muss sich das Bewusstsein wandeln. Es gilt, eine Innovationskultur zu entwickeln und zu fördern, die alle Bereiche und Ebenen des Unternehmens erfasst. Dabei ist es sinnvoll, das Wissensmanagement als strategische Funktion und Pflicht des Managements zu definieren.
Wissen ohne Transfer schafft ja nur eine Topografie von Inseln mit einsamen Experten. Wissensaustausch hingegen potenziert das kollektive Know-how, führt zur Interaktion und resultiert in Entwicklungsdynamik.
Aus der Biologie kennen wir das Phänomen, dass eins plus eins die Chance enthält, drei zu ergeben.
Fünftens: Komplexitätsmanagement
Wachstum auf der Basis von Internationalisierung und Diversifizierung bedeutet ein Mehr an Kosten und Komplexität. Umso wichtiger ist es, die Organisationsstrukturen nicht einfach zu klonen und zu multiplizieren.
Es muss nicht überall in jeder Landesgesellschaft und Produktionsstätte ein kleiner Blueprint des heimischen Corporate-Centers entstehen. Gerade in neuen Regionen hat man die Chance, die Firmenarchitektur unorthodox zu gestalten.
Und das Neue darf sehr wohl schlanker und flexibler sein als das Traditionelle. Solche strukturellen Innovationen können einem Unternehmen Flügel verleihen; die Duplizität heimischer Stäbe und Ablaufprozesse hingegen, fordert einen hohen Synchronisierungsaufwand und fördert nur die Selbstverwaltung. Das Gleiche gilt auch für das Produktportfolio. Manchmal bedeutet weniger mehr.
Wer den Mut hat, Sortimente zu bereinigen, schafft nicht nur Platz im Regal, er erhöht auch die Effizienz und Gewinnmargen seines Produktportfolios. Und last but not least:
Was in Europa oder Nordamerika sinnvoll und effizient sein mag, kann in Asien das Gegenteil bewirken, weil die Infrastruktur der Industrie und die Mentalität der Menschen schlichtweg nicht vergleichbar sind.
Andere Branchen haben da bereits Lehrgeld bezahlt und Erfahrungen gesammelt. Das gilt insbesondere für die deutsche Automobilindustrie wie auch für den deutschen Maschinen und Anlagenbau.
Deren Exportstärke basiert nicht nur auf höchst attraktiven Produkten, sondern auch auf höchst wettbewerbsfähigen Prozessen und Servicestrukturen vor Ort. Die Kompetenz, Komplexitäten effizient zu managen, ist in diesen Branchen sehr ausgeprägt.
Gewiss lassen sich nicht alle Erfahrungswerte und Lösungsformeln eins zu eins auf die chemische Industrie übertragen, aber eine adaptierte Anwendung bietet sich fast immer an.
In jedem Fall steigert ein Blick über den Zaun nicht nur die Neugierde, sondern auch die Lernkurve und konsequenterweise die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Unternehmens.
Kontakt:
Dr. habil. Hanno Brandes
Management Engineers, Düsseldorf
Tel.: 0211/5300-187
Fax: 0211/5300-42187
Hanno.Brandes@managementengineers.com
Dr. Isolde Bachert
Management Engineers, Düsseldorf
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Isolde.Bachert@managementengineers.com
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