Strategie & Management

Elektroschrott – von der Umweltbelastung zur Goldgrube

So können Chemieunternehmen von der Kreislaufwirtschaft profitieren

10.04.2019 -

Edelmetalle im Smartphone gelten als Beispiel dafür, wie lukrativ Recycling sein kann. Ausrangierte Elektrogeräte bestehen jedoch zum Großteil aus Kunststoff – und der wird trotz Elektroschrottverordnung, EU-Kunststoffstrategie sowie dem verstärkten Einstieg in die Kreislaufwirtschaft weiterhin überwiegend verbrannt. Hier eröffnen sich neue Chancen für Chemieunternehmen: Wer seine Kunden beim Design for Recycling berät, Plattformen für zirkuläre Wertschöpfungsketten organisiert oder neue Geschäftsmodelle etwa zum Kunststoff-Leasing entwickelt, kann zum Schrittmacher der Kreislaufwirtschaft werden und so seine Marktposition stärken.

Für manche Unternehmen ist Elek­troschrott eine Goldgrube. Urban Mining – die stoffliche Wiederverwertung ausrangierter Unterhaltungselektronik, veralteter Bürotechnik oder defekter Küchengeräte mit dem Ziel, darin steckende (Edel-)Metalle und seltene Erden zu recyceln – kann sehr lukrativ sein. Pro 50 Smartphones lässt sich etwa 1 g Gold zurückgewinnen. In Deutschland dürften inzwischen 100 Mio. Stück unbenutzt herumliegen, mit einem Goldgehalt im Wert von 75 Mio. EUR.

EU-Kommission will Kreislaufwirtschaft für Kunststoffe
Neben Umweltverschmutzung sowie CO2-Zielen haben auch Daten zum ökonomischen Wert solchen Mülls die EU-Kommission darin bestärkt, den Einstieg in die Kreislaufwirtschaft zu forcieren. Das Ziel: Abfall vermeiden und ihn verstärkt dem Recycling zuführen. Wichtige Instrumente dafür sind die EU-weit geltende WEEE-Richtlinie (Waste of Electrical and Electronic Equipment), hierzulande bekannt als Elektroschrottverordnung – danach sollen 2020 zwei Drittel der erwarteten 12 Mio. t Elektroschrott wiederverwertet werden. Außerdem soll die „Strategie für Kunststoffe“ die Vermüllung der Umwelt verringern sowie Wachstum und Innovation fördern. Dies soll die Grundlage für eine neue Kreislaufwirtschaft für Kunststoffe schaffen und Investitionen mobilisieren.

Kunststoff im Elektroschrott wird zu wenig recycelt
Klingt, als könnte der Kunststoff im Elektroschrott für die Chemiebranche ein Zukunftsfeld werden – zumal immer mehr davon anfällt, denn dazu zählen neben Smartphones auch Produkte wie blinkende Kinderschuhe oder Elektrotretroller. Für Metall im Elektroschrott existieren bereits Recyclingnetzwerke mit Spezialisten sowie aufwändige, aber funktionierende und wirtschaftliche Verfahren zur Rohstoffrückgewinnung. Hier erreicht die Recyclingquote bis zu 99 %. Die Kunststoffe dagegen lassen sich nur zum kleinen Teil durch komplizierte Verfahren trennen sowie als ABS, HIPS oder Polystyrol wiederverwenden. Insgesamt werden in Deutschland 46 % des Kunststoffabfalls stofflich verwertet. Weil Elektrogeräte aber diverse Kunststoffmixturen enthalten und mit teils giftigen Flammschutzmitteln ausgestattet sind, bleibt für den Großteil des Plastiks im Elektroschrott nur eine Alternative: die Müllverbrennung. Das entzieht den Kunststoff der Kreislaufwirtschaft, er muss durch frische Rohstoffe ersetzt werden.

Auch technische Kunststoffe sollen in die Wiederverwertung
Neue Ideen sind gefragt, wie mehr Kunststoff zum Bestandteil der Kreislaufwirtschaft wird. Verschiedene europäische Organisationen und Verbände wollen Kreislaufplattformen mit der Europäischen Kommission aufbauen, die bis 2040 werkstoffliches Recycling von 50 % der Kunststoffabfälle sowie 70 % Recycling und Wiederverwendung von Verpackungen erlauben. Dazu soll die ganze Wertschöpfungskette betrachtet werden, von Produktion über Design und Verarbeitung bis zum Sammeln und Recyceln. Doch um technische Kunststoffe wirklich in die Kreislaufwirtschaft zurückzuführen, braucht es handlungsfähige Allianzen und auch viel Mut zur Innovation.

Chemieunternehmern bieten sich neue Geschäftsmodelle
Durch die Kreislaufwirtschaft steht die Branche vor tiefgreifenden Veränderungen. Doch sie bietet Chemie­unternehmen auch die Chance auf mehr Wachstum und den Aufbau neuer Geschäftsmodelle, so ein Fazit der Accenture-Studie „Taking the European Chemical Industry Into the Circular Economy“. Sie müssen die Möglichkeiten nur frühzeitig erkennen und nutzen. Interessante Perspektiven bieten sich für jene Chemieunternehmen, die auf die Veränderungen reagieren, indem sie bei Nachhaltigkeit und Recycling neue Wege beschreiten: Durch engere Kooperation mit Partnern entlang der Wertschöpfungskette, neue Geschäftsmodelle sowie innovative Lösungen zum Ersetzen von Öl und Gas durch Kunststoffrezy­klat. Das gilt insbesondere für Elek­troschrott, der viel wertvoller sein könnte, wenn der Kunststoffeinsatz mit Blick auf späteres Recycling neu gedacht würde.

Kunden im Design for Recycling beraten
Genau das ist Kernelement einer neuen Kunststoffstrategie. Chemie­unternehmen sollten nicht nur Material mit der gewünschten Eigenschaft liefern. Sie sollten ihre Kunden schon während der Produktentwicklung so mit technischem Know-how unterstützen, dass diese gleich die spätere Demontage mitdenken. Beim Design for Recycling wird etwa gefragt, ob sortenreiner Kunststoff verwendbar ist. Oder wie sich die unterschiedlichen Fraktionen trennen lassen. Das erfordert einen engen Austausch unter Chemiespezialisten, damit der Einsatz von Kunststoff, Kleber und Lösemitteln aufeinander abgestimmt ist, stets mit Blick auf möglichst umfassendes Recycling. Forscher des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) arbeiten etwa an einem thermolabilen Klebstoff, der sich bei einer bestimmten Temperatur auflöst. Verklebte Smartphone-­Teile wären so demontierbar, ohne zu brechen. Mit Lösungen wie diesem „Debonding on demand“ können Chemieunternehmen das Design for Recycling erleichtern. Und sie steigern ihren Wert als Partner, vom reinen Lieferanten zum gut vernetzten Entwicklungsberater, was Chancen für Wachstum bietet.

Chemiekonzerne können selbst Recycling organisieren
Als neues Geschäftsmodell könnten Chemieunternehmen auch Recycling-Plattformen betreiben, über die sie mit Partnern bestimmte Kunststoffe in der Kreislaufwirtschaft zirkulieren lassen. Noch ist die Infrastruktur zur Entsorgung, Trennung und Wiederverwertung gerade für Kunststoffe im Elektroschrott wenig leistungsfähig. Hier könnten Konzerne das Recycling interessanter Kunststoffe forcieren und ihre Produktion mit aufbereitetem Rohstoff versorgen. Die stoffliche Verwertung ist ebenso sinnvoll wie chemisches Recycling. Verhindern Verunreinigungen und Mischkunststoffe die Gewinnung von sortenreinem Granulat, wird Plastik­müll durch thermochemische Verfahren etwa in Synthesegas für die Kunststoffproduktion umgewandelt. Ebenfalls ein neues Geschäftsmodell mit dem Seitenaspekt der Selbstversorgung mit Rohstoffen sind Leasingangebote: Chemieunter­nehmen könnten ihre schon bei der Entwicklung durch Design for Recycling optimierten Kunststoffe an Hersteller von Elektrogeräten verleihen und anschließend zurücknehmen.

Geschäftsmodelle funktionieren nur über Digitalisierung
Solche Geschäftsmodelle eröffnen Perspektiven. Sie erfordern jedoch, dass Chemiekonzerne massiv ihre Digitalisierung vorantreiben. Die Fähigkeit zum Sammeln sowie Auswerten von Daten ist entscheidend. Wer verstärkt Design for Recycling anbieten will, braucht die IT-technischen Fähigkeiten, um den Einsatz und die Wechselwirkung verschiedener Materialien zu simulieren, statt nur Eigenschaften eines Kunststoffs zu berechnen. Die Verfolgung von Stoffströmen als elementarer Bestandteil der Kreislaufwirtschaft erfordert ebenfalls entsprechende Investitionen. Egal, ob ein Chemiekonzern sich im Recycling engagiert oder mit Spezialisten kooperiert – wer nicht weiß, welcher Kunststoff in welchen Elektrogeräten steckt und in welchem Teil des Lebenszyklus ein bestimmtes Produkt gerade ist, kann kein zielgerichtetes Recycling unterstützen, geschweige denn davon profitieren. Kennzeichnungs- oder Trackingsysteme leisten hierbei wertvolle Dienste. Auch die Blockchain könnte dabei als dezentrales, transparentes Register zum Einsatz kommen.

Unternehmen sollten weiterer Regulierung zuvorkommen
Noch konzentrieren sich Öffentlichkeit und Politik in der Diskussion um Kunststoffe auf Plastiktüten, To-Go-Becher oder Einwegbesteck. Aber insbesondere der Elektroschrott dürfte in den Fokus rücken, da hier relativ wenig Kunststoff verwertet wird und die Altgeräte für jeden gut sichtbar im Keller stehen oder in der Schublade liegen. Statt auf weitere regulatorische Eingriffe zu warten, sollten Chemiekonzerne Wege suchen, wie sie ihre Produkte in die Kreislaufwirtschaft integrieren und dabei ökonomisch profitieren. Eine verschärfte Elektroschrottverordnung oder eine CO2-Steuer würden nur das Wirtschaften teurer machen. Echte organisatorische oder technische Lösungen für eine wirkungsvolle Kreislaufwirtschaft müssen aus der Industrie und Wissenschaft kommen, die alle Facetten des Themas kennen.

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