Eine Branche mit langem Atem – zum Glück
Die Errungenschaften des produktionsintegrierten Umweltschutzes setzen sich weltweit durch
Die chemische Industrie hat einen langen Atem – kein Wunder bei Investitionszyklen von bis zu 30 Jahren. Prozesse und Produktlinien lassen sich hier nicht in wenigen Jahren vollständig verändern.
Die chemische Industrie hat einen langen Atem – kein Wunder bei Investitionszyklen von bis zu 30 Jahren. Wer im Wortsinne Milliardenbeträge in eine World-Scale-Anlage investiert, kann seine Prozesse und Produktlinien nicht wenige Jahre später vollständig verändern. Ähnliches gilt für die Pharmaindustrie – wenn vom Labor bis zur Zulassung nicht selten anderthalb Jahrzehnte vergehen, braucht man Durchhaltevermögen und darf sich nicht durch kurzfristige Entwicklungen beirren lassen.
Ein fundamentaler Wandel dauert etwas länger
Dieser Umstand sorgt einerseits dafür, dass die Chemie nach außen konservativ, ja manchmal geradezu statisch wirken kann. Grundlegende Umstellungen z. B. auf der Rohstoffseite benötigen viel Zeit; dazu kommen in vielen Fällen hochkomplexe Vernetzungen zwischen verschiedenen Prozessen, so dass von einer Änderung nicht nur eine Wertschöpfungskette betroffen ist, sondern möglicherweise viele. Änderungen in bestehenden Prozessen – Effizienzsteigerungen, Verbesserungen einzelner Schritte etc. – finden ständig statt, ein fundamentaler Wandel dauert etwas länger.
Andererseits führt dieses „verlangsamte Tempo“ aber auch zu einer gewissen Widerstandskraft gegenüber Hypes und Moden. Das kann gerade in der heutigen sehr sprunghaften Zeit sehr positiv wirken. Nicht nur die Trends auf Twitter ändern sich täglich; was heute die Presse hochkochen lässt, ist morgen schon ein alter Hut. Auch die politischen Leitlinien sind, gerade international, schwankender geworden. Das lässt sich momentan beim Klimaschutz beobachten, damit einhergehend bei Rohstofffragen, aber auch in der Handelspolitik. Demgegenüber steht glücklicherweise auf nationaler und EU-Ebene eine Wissenschaftspolitik, die langfristige Förderziele setzt und verfolgt – und das kann sich zukünftig auch international auszahlen.
Bestimmte Entwicklungen in der chemischen Industrie, die vor fünf oder zehn Jahren in die Spur gesetzt wurden, werden von kurzfristigen tagespolitischen Entscheidungen kaum beeinflusst werden. Dazu gehört der Trend hin zu Energieeffizienz, zu Ressourcenschonung generell, aber auch zu nachwachsenden Rohstoffen. Sicher haben der Shale-Gas-Boom und die niedrigen Ölpreise die Umstellung auf Biomasse verlangsamt; doch irgendwann wird man aus Klimaschutzerwägungen auf fossile Rohstoffe mehr und mehr verzichten, und dafür will man zumindest forschungs- und entwicklungsseitig gewappnet sein. So tut sich in den Laboren und Demoanlagen der großen Unternehmen einiges. Dass man nicht viel darüber hört, ist zum Teil auch einem Philosophiewechsel geschuldet: Biobasierte Produkte werben nicht unbedingt mit dem Attribut „biobasiert“, denn die Marktnische, in der Preisaufschläge für Umweltbewusstsein hingenommen werden, ist allen Lippenbekenntnissen der Verbraucher zum Trotz nach wie vor überschaubar. Stattdessen werden Produkte auf den Markt gebracht, die durch ihr Preis-Leistungs-Verhältnis wettbewerbsfähig sind und sich durch bessere Eigenschaften gegenüber ihren fossilen Konkurrenten behaupten können. Das macht die Bioökonomie leider zu einem gewissen Grad unsichtbar, andererseits aber auch selbstverständlich – und ist das nicht genau das Ziel?
Gute Geschäfte mit ressourcenschonenden Verfahren
Generell gilt, dass die Errungenschaften des produktionsintegrierten Umweltschutzes sich allmählich weltweit durchsetzen. Das ist nicht nur internationalen Abkommen geschuldet, sondern auch regionalen Erfordernissen. So wächst bspw. in China angesichts von Luftverschmutzung und Wasserknappheit das Bewusstsein, dass Umweltschutz kein Luxus, sondern Lebensnotwendigkeit für die eigene Bevölkerung ist. Wer in den letzten 20 Jahren Technologien für ressourcenschonende Verfahren entwickelt hat, kann heute auf dem wachsenden weltweiten Markt gute Geschäfte machen.
Ähnliches gilt für den Energiesektor. Bei der Energieeffizienz sind in den letzten 20 Jahren gewaltige Fortschritte gemacht worden, und sie werden auch nicht rückgängig gemacht werden Für die chemische Industrie ist der Energiesektor aber immer stärker nicht nur Lieferant von Elektrizität und Wärme, sondern Kooperationspartner bei der Umsetzung neuer Konzepte, die die Energiewende zwingend notwendig macht. Wo die Stromerzeugung fluktuiert, sind entweder Speicher oder ebenso flexible Abnehmer gefragt. Batterietechnik, Wärmespeicher und der Einsatz von Strom als Energielieferant für chemische und möglicherweise auch biotechnologische Prozesse sind Felder, auf denen intensiv geforscht wird. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei momentan auf der Mobilität: Nachdem auch die Bundesregierung das einst ausgerufene ehrgeizige Ziel von 1 Mio. Elektroautos bis 2020 kassiert hat und Diesel angesichts immer neuer Skandale in Misskredit geraten ist, fragt sich, womit der Verkehr von morgen rollt?
Eine mögliche Lösung könnten E-Fuels sein – synthetische Kraftstoffe wie bspw. Oxymethylenether, die mit Hilfe von regenerativem Strom und CO2 hergestellt werden. Sie lassen sich mit wenig zusätzlichem Aufwand in gebräuchlichen Motoren einsetzen, verbrennen deutlich ruß- und stickoxidärmer als konventioneller Diesel und könnten nicht nur eine Übergangslösung zwischen Erdöl und Elektro sein, sondern auch eine Dauerlösung für Schwerlastverkehr, Schiffe und Baumaschinen. Die Voraussetzung für eine positive CO2-Bilanz ist allerdings, dass der Strom auch wirklich regenerativ gewonnen wird. Die Kapazitäten innerhalb Deutschlands reichen dafür kaum aus. Aber Anlagen an der Küste könnten dazu beitragen, den Strom aus den Offshore-Windanlagen ortsnah sinnvoll zu nutzen. Und Solarfarmen in Südeuropa könnten als Keimzellen für neue Industriestandorte dienen.
Denn E-Fuels wären wohl keine Dauerlösung; der Wirkungsgrad von batteriebetriebenen Fahrzeugen ist deutlich höher, so dass mittelfristig die flächendeckende Elektromobilität mit Ausnahme von Schwerlast-, Flug- und Schiffsverkehr deutlich sinnvoller erscheint. Was passiert aber dann mit den E-Fuel-Anlagen, in die in den kommenden Jahren erhebliche Beträge investiert werden müssten? Hier kommt wieder die Beharrlichkeit der Chemie ins Spiel. Denn Konzepte für „E-Chemicals“, also die Herstellung von Chemikalien mit Hilfe von Strom und CO2, befinden sich ebenfalls in der Erforschung. Wenn die Nachfrage nach E-Fuels nach mehreren Jahren nachlässt, weil eine flächendeckende Infrastruktur etabliert ist und E-Fahrzeuge mit entsprechender Reichweite und zu günstigen Preisen verfügbar sind, wird parallel die Nachfrage nach Chemikalien auf nicht-fossiler Basis steigen. E-Fuels können insofern nicht nur eine Brückentechnologie für den Verkehrssektor sein, sondern auch für die chemische Industrie. Lerneffekte lassen sich nutzen, und weil die Chemikalienproduktion in der Regel mit einer höheren Wertschöpfung einhergeht, sollten sich hier auch kurzfristig erste Erfolgsgeschichten darstellen lassen.
Europaweite Mobilitätsinfrastruktur
Die Voraussetzung dafür ist, dass chemische Industrie, Energieerzeuger, Mineralölwirtschaft und Automobilindustrie von vornherein zusammenarbeiten, um die Weichen langfristig richtig zu stellen. Auch die Unterstützung der Politik wird unverzichtbar sein, um die Rahmenbedingungen zu definieren. Dabei ist angesichts der Standortfrage eine EU-weite oder mindestens multilaterale Initiative sinnvoll. Ohnehin ist die Energiewende und auch die Frage, womit wir unsere Kraftfahrzeuge betreiben, nur europäisch lösbar. Eine Mobilitätsinfrastruktur, die an den Landesgrenzen endet, ist nicht sinnvoll.
Die Gesprächskanäle dafür müssen zum Glück nicht komplett neu aufgebaut werden. Institutionen wie die Dechema sind seit vielen Jahren aktiv, um Branchen miteinander zu vernetzen und gemeinsame Projekte zu entwickeln und zu bearbeiten. Auch hier zahlt sich der lange Atem aus, aber der ist der chemischen Industrie ja inhärent – und oft ist das durchaus sehr vorteilhaft.