Effizienz dank Automatisierung
Evonik: PIMS und modellbasierte Regelung steigern Produktivität
Mit modernen Automatisierungsverfahren ist es möglich, ein signifikant höheres Leistungspotential in Produktionsanlagen der chemischen Industrie zu erreichen. Diese Ziele können im Allgemeinen innerhalb eines kurzen Zeitraums und zu moderaten Kosten verwirklicht werden. Für gewöhnlich ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis hervorragend.
Im Steuerungsbereich bietet die Verwendung eines modellbasierten Konzepts viele Vorteile gegenüber PID-Reglern (Proportional-Integral-Derivative-Controller). Im Managementbereich gewinnen die PIMS (Plant Information Management Systems / Werksinformationsmanagementsysteme) an Bedeutung.
Modellbasierte Konzepte vs. PID
Zu den "normalen" Funktionen eines Prozessleitsystems (PLS) gehören Feedback (Regelung mit Rückführung) und Feedforward Control (Regelung mit Störgrößenaufschaltung). Dies beinhaltet Verriegelungen (Interlocks) und Ablauffunktionen (Sequential Functions). Sicherheitsfunktionen, Alarmfunktionen, Prozessabläufe und ihre Sichtbarmachung sowie Möglichkeiten der Prozessbeeinflussung sind ebenso ein Bestandteil des grundlegenden Funktionssets eines PLS. Um in der Lage zu sein, Verbesserungspotential auf dieser Ebene zu ermitteln, ist ein fundiertes Verständnis der Produktionsprozesse erforderlich.
Das Team muss imstande sein, die richtigen Werkzeuge auszuwählen, das Optimum der relevanten Produktionsprozesse zu finden und die Robustheit der installierten Anwendungen zu beurteilen. Des Weiteren ist es von großer Wichtigkeit, dass Mitarbeiter aus dem Produktionsumfeld in praktisch jeden Schritt des Implementierungsprozesses involviert sind. Falls dieser Punkt nicht ausreichend beachtet wird, wird das gesamte Projekt fehlschlagen. Das klingt vielleicht trivial, ist es jedoch nicht. Modellbasierte Herangehensweisen existieren im industriellen Umfeld bereits seit ca. 15 Jahren, PID-Regelungen gibt es jedoch schon seit mehr als 50 Jahren.
Es gibt zwei Ziele, die wir erreichen wollen. Prozessschwankungen sollten stark reduziert werden. Prozessübergänge - das heißt, vom Betriebspunkt A nach B - sollten ohne Verletzung gegebener Prozessbeschränkungen beschleunigt werden. Ein PID zu verwenden ist so, als ob man in einem Auto mit undurchsichtiger Windschutzscheibe fahren würde. Der Fahrer kann das Seitenfenster benutzen und versuchen, das Auto in der Spur zu halten, indem er einen ausreichenden Abstand zu den Leitplanken oder anderen Straßenbegrenzungen einhält. Wenn sich die Straßenführung ändert, dann kann das der Fahrer nur daran erkennen, dass sich dieser Abstand verändert. Mit Sicherheit ist dies eine komplizierte Art und Weise Auto zu fahren. Im Gegensatz dazu ist die Verwendung eines modellbasierten Steuerungskonzepts so, als ob man durch eine frisch gereinigte Windschutzscheibe sehen würde. Der Fahrer sieht, was sich vor ihm befindet und kann früh genug reagieren. Dies ist mit Sicherheit die bessere Alternative zur Durchführung dieser vorgegebenen Aufgabe.
Modellbasierte Steuerung
Das Beispiel der Temperatursteuerung in einem Fermentationsprozess zeigt die Vorteile modellbasierter Herangehensweisen für die chemische Industrie auf. In regelmäßigen Abständen muss Wasser in verschiedene Fermentationstanks injiziert werden. Damit das Wasser steril bleibt, muss es auf ungefähr 90°C erhitzt werden. Da diese Temperatur die Biomasse in den Fermentierungsreaktoren abtöten würde, muss die Flüssigkeit vor ihrer Injektion auf 30°C herunter gekühlt werden. Je schneller dieser niedrigere Sollwert erreicht wird, d.h. je schneller das Regelungskonzept diese Aufgabe erfüllt, desto früher kann das Wasser injiziert werden. Dadurch wird Produktionszeit gespart.
Nach Implementierung der modellbasierten Regelung wird der niedrigere Sollwert mindestens fünf Minuten früher erreicht. Da es bei dem betrachteten Prozess insgesamt 60 Injektionen pro Charge gibt, summiert sich die gesamte eingesparte Produktionszeit auf mindestens 300 Minuten. Die durch dieses Automatisierungsprojekt gemachten Einsparungen sind außerordentlich hoch.
Alles wissen, was es zu wissen gibt
Mittels PIMS kann ein Wertzuwachs auf Ebene des MES (Manufacturing Execution System) erreicht werden. Allgemein bedeutet dies, dass prozessbezogene Daten und Informationen zum Ermitteln von Optimierungspotenzial verwendet werden. Dies bezieht sich auf die "Puzzleteile" der internationalen Norm (ISA 95), wie z. B. Leistungsanalyse, Prozessmanagement sowie reine Datenbeschaffung. Dies beinhaltet keine Optimierung des Workflows. PIMS ermöglicht Ingenieuren, Prozesszusammenhänge oder versteckte Informationen zu finden, welche als Ausgangpunkt für Optimierungsbemühungen herangezogen werden können. Neben dem Auffinden und Verstehen von Prozesskontexten spielt auch das Ermitteln von Ursache-/Wirkungsbeziehungen eine wichtige Rolle.
Eine Fallstudie soll dies belegen: In einer Trennkolonne in einem Werk in Asien schwankte von Zeit zu Zeit die Temperatur. Trotz intensiver Nachforschungen konnten die Mitarbeiter die Ursache nicht finden. Daraufhin half ein Team aus Europa, und zwar ohne nach Asien reisen zu müssen. Mittels Computernetzwerken hatten die Teammitglieder Zugriff auf alle Prozessdaten. Sie nahmen diese Daten um die Kolonne herum auf - mehr als 35 Datenpunkte über einem Zeitraum von mehreren Tagen. Anschließend gaben sie die Daten in ein statistisches Programm ein, um herauszufinden, welche Prozesspunkte auf dynamische Weise mit der untersuchten Temperatur zusammenhingen.
Nach einigen Minuten hatten sie die ersten Ergebnisse. Es gab nur einen bedeutenden Zusammenhang: der Stand des Einspeisungstanks. Aufgrund der Konstanz des Einspeisungsflusses war sofort klar, dass das Temperaturproblem irgendwo in einem vorgelagerten Anlagenteil verursacht wurde. Nach einigen Stunden zusätzlicher statistischer Auswertungen wurde die Ursache drei oder vier Prozessschritte vorgelagert gefunden, dort wo sie niemand bisher vermutet hatte. Nach Auffinden der Ursache war es leicht, das Problem zu lösen. Seitdem ist die Temperatur in der Trennkolonne gleichmäßig geblieben.
Auffinden von Hauptursachen
Evonik verwendet PIMS auch, um sein Alarmmanagement noch weiter zu verbessern. Nur zur Erinnerung: Ein Alarm ist eine Nachricht an den Anlagenfahrer, die anzeigt, dass eine Prozessvariable von ihrem Sollwert abweicht und ein Eingreifen seitens des Betreibers umgehend erforderlich ist. In einigen Fällen kann es schwierig werden zu beurteilen, welche Alarmfunktionen die dringendsten sind und welche eine niedrigere Priorität haben.
Um dieses Problem zu lösen, hat die internationale Interessengemeinschaft der Automatisierungstechnik der Prozessindustrie NAMUR ein Arbeitsblatt für Errichter und Betreiber chemischer Produktionsanlagen herausgegeben, die NA 102 „Alarm Management". Diese Anleitung hilft, die Konzeption, Verwendung und Wartung von Alarmsystemen zu verbessern. Eines der Ziele besteht darin, eine sinnvolle Prioritätensetzung von Alarmfunktionen zu erreichen. Alle diese Maßnahmen verbessern natürlich auch die Verfügbarkeit von Produktionsanlagen, da wichtige Alarme bei gut abgestimmten Systemen nicht mehr übersehen werden. Das Alarmmanagement basiert oft auf Häufigkeitsverteilungen. Die Fokussierung auf die Top Five oder Top Ten bringt gute Ergebnisse bei angemessenem Aufwand. PIMS hilft dabei, dieses Ziel zu erreichen.
Herausforderungen für die Zukunft
Es gibt immer noch ein großes Potenzial für die Optimierung von Produktionsanlagen in der chemischen Industrie. Automatisierungstechnologien können zur Ermittlung von Potenzialen und zur Optimierung der Anlagen verwendet werden. Für gewöhnlich sind die Kosten niedrig und der Nutzen groß. Die erforderlichen Maßnahmen können innerhalb eines kurzen Zeitraums eingeleitet werden. Bei der Implementierung von Automatisierungstechnologien sollte auch „über den Tellerrand" hinaus geschaut werden. Häufig werden in interdisziplinären Diskussionen zusätzliche Ideen konkretisiert, die zu einer weiteren Steigerung der Effizienz führen können.
Trotz dieser Vorteile gibt es immer noch viele große Herausforderungen. Die meisten davon sind allerdings nicht technischer Natur. So besteht die wichtigste Aufgabe darin, ein Vertrauensverhältnis zu den "Prozesseigentümern" aufzubauen, das heißt zu Anlagenbetreibern und ihren Mitarbeitern. Sie sind diejenigen, die die jeweilige Produktionsanlage am besten kennen und die Implementierung von Optimierungsvorhaben effizient unterstützen können. Eine enge Zusammenarbeit zahlt sich immer aus.
Dieser Artikel basiert auf dem Vortrag „Benefits of Automation: How can automation improve the efficiency of production plants?", den Wolfgang Albert am 28. Februar 2011 auf dem „European Chemical Manufacturing Masters 2011" in Berlin gehalten hat.