Strategie & Management

Digitalisierung als Treiber für Innovation, Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz in der Chemieindustrie

Unbegrenzte (digitale) Möglichkeiten

17.02.2023 - Die digitale Transformation ist eine der tiefgreifendsten Veränderungen in der Geschichte unserer Gesellschaft und verändert auch die Wirtschaft in wesentlichen Bereichen. Dabei muss man verstehen, dass dies keine Entwicklung ist, die in der Zukunft stattfindet, sondern die bereits in vollem Gange ist – und der Prozess der Veränderung hat sich durch die Coronakrise in den letzten drei Jahren sogar noch deutlich beschleunigt.

Die digitale Transformation verändert auch Chemieunternehmen auf vielfältige Art und Weise, insbesondere durch die Einführung von neuen Technologien, Arbeitsweisen und Geschäftsmodellen. Es geht dabei um mehr als nur kostenoptimierte Produkte und Prozesse. Vielmehr steht die Interaktion mit Kunden und Partnern entlang der gesamten Wertschöpfungskette im Fokus. Daten sind das neue Gold. Ob Konzern oder Mittelständler, Produzent oder Distributor, integrierter Multi-User-Chemiepark oder kleiner Firmenstandort: an dem Thema Digitalisierung kommt keiner vorbei.

Sie ist aber nicht nur Auslöser für Veränderungen, sondern eröffnet Unternehmen auch neue Wege und beträchtliche Möglichkeiten, bspw.  zum Erreichen von Nachhaltigkeitszielen. Die Digitalisierung durchzieht alle Bereiche der modernen chemischen Industrie und ermöglicht u.a. auch eine schrittweise Annäherung an die Vision einer vollständig zirkulären Wirtschaft. Diese Megatrends sind zum Imperativ auf der Strategieagenda vieler globaler agierender und vernetzter Unternehmen geworden, und Digitalisierung dient somit auch der Existenzsicherung dieser Unternehmen.

„Digitalisierung und Nachhaltigkeit werden die Industriestrukturen fundamental verändern. Die Chemie- und Pharmaindustrie bildet hier keine Ausnahme, im Gegenteil: Die Transformationsgeschwindigkeit wird zukünftig noch zunehmen“, schreibt Christian Bünger, Experte für Digitalpolitik und Digitalisierung im Verband der Chemischen Industrie (VCI) in dem Buch „Digitale Chemieindustrie“.

Wo steht die Chemie bei der Digitalisierung?

Doch obwohl viele Unternehmensleiter überzeugt sind, dass Digitalisierung auf dem Weg zum nachhaltigen Erfolg hilft, wird nicht genug oder noch nicht digitalisiert – so zumindest die generelle Meinung. Die Frage „Wo steht die Chemie bei der Digitalisierung?“ lässt sich pauschal nicht beantworten. Kaum eine andere Industrie kann auf eine ähnlich vielfältige Produktpalette und einen so breiten Kundenstamm verweisen wie die chemisch-pharmazeutische Industrie. Dementsprechend unterschiedlich fällt auch der Grad der Digitalisierung aus.

„Die chemische Industrie macht doch mehr als ich selbst wahrnehme – woran hinter verschlossenen Türen gearbeitet wird, ist eben nicht für alle zugänglich“, sagt Carsten Suntrop, Herausgeber des Buchs „Digitale Chemieindustrie“. Bei seiner Recherche und den Gesprächen mit den Gastautoren verschaffte er sich detaillierte Einblicke in die digitale Reife der Chemiebranche und resümiert. „Es wird viel an der Digitalisierung gearbeitet, auf sehr vielen Ebenen und an sehr vielen Themen. Allerdings kann der Blick auch hier wieder trügen, denn der Digitalisierungsgrad zeigt die chemische Industrie klar im Mittelfeld der deutschen Branchen, wo ich sie auch vermutet hätte. Wir haben viel Kontakt zu größeren Chemieunternehmen gehabt. Hier passiert extrem viel, und es sind sehr viele schlaue Köpfe am Werk, aber das spiegelt nicht unbedingt die gesamte Branche wider.“

Und wie steht es inhaltlich um die digitale Reife der deutschen Chemieunternehmen? Carsten Suntrop erläutert: „Die Digitalisierung ist noch sehr klar Prozessoptimierung, was auch völlig okay ist. Der Prozess darf nur nicht mit der Funktion verwechselt werden, und bei der abteilungsübergreifenden Digitalisierung kommen wieder alle an ihre Grenzen. Es gibt noch eine Menge Potenzial bei den Themen der Vollautomatisierung der Supply Chain, der digitalen Marktbearbeitung und der Nutzung von künstlicher Intelligenz zur besseren Planung und Steuerung der Kapazitäten.“

Digitalisierung ist aber ein weiter Begriff. Daher macht es Sinn, die unterschiedlichen Ansatzpunkte der Digitalisierung in drei Kategorien einzuteilen, die verschiedene technische Schwerpunkte sowie einen zunehmenden digitalen Reifegrad voraussetzen: digitale Prozesse, datenbasierte Betriebsmodelle und digitale (datenbasierte) Geschäftsmodelle.

Neuere Studien erlauben einen tieferen Blick in den Stand der Digitalisierung. Der deutschlandweite Digitalisierungsindex aus dem Jahr 2020, in dem die Chemie- und Pharmaindustrie zusammen mit anderen Grundstoffindustrien betrachtet wird, bescheinigt der Branche, bei den ersten beiden Kategorien grundsätzlich gut aufgestellt zu sein. Digitale Prozesse und datenbasierte Betriebsmodelle finden heute bereits breite Anwendung. Die chemische Industrie verfügt bereits über eine starke digitale Komponente in der Produktion.

Bei den digitalen (datenbasierten) Geschäftsmodellen gibt es hingegen noch Potenzial, was nicht weiter verwundert, da im Zentrum des Chemiegeschäftsmodells die Herstellung chemischer Produkte steht. Im Zuge der Transformation verändern viele Unternehmen dennoch auch ihre Geschäftsmodelle schrittweise und gleichzeitig grundlegend. Die Verknüpfung von Produkten der Chemie- und Pharmaindustrie mit Dienstleistungen ist dabei ein Schlüssel für zusätzliche Wertschöpfung, wie das Beispiel der Präzisionslandwirtschaft (Digital Farming) zeigt. Digitalisierung bedeutet neben der Nutzung von internen und externen Daten zur Optimierung der betrieblichen Prozesse auch die Entwicklung neuer, digitaler Geschäftsmodelle. Rein digitale Produkte von Chemieunternehmen, deren Hauptaufgabe es ist, Moleküle in neue, bessere und innovative Stoffe sowie Produkte zu umzuwandeln, werden jedoch wohl auch zukünftig eher die Ausnahme bilden.

Beschleunigung von Forschung und Entwicklung

Für die Zukunft hat sich die Branche einiges vorgenommen. Neben der digitalen und zirkulären Transformation will sie bis 2050 ohne fossile Rohstoffe auskommen und treibhausgasneutral sein. Die Digitalisierung wird diese Transformation unterstützen. Dazu gehören auch Technologien, die aktuell noch am Anfang einer breiten Anwendung stehen wie das Quantencomputing. In der Chemieindustrie erwartet Quantencomputer ein breites Anwendungsspektrum, z.B. in Forschung & Entwicklung. So können zielgerichtet spezielle Moleküle, molekulare Prozesse oder Formulierungen für umweltfreundlichere Anwendungen entwickelt werden.

Überhaupt ist das Labor ein zentraler Ort, wenn es um Digitalisierung in der Chemie geht. Die Verknüpfung von Laboranalysengeräten mit Informationssystemen und digitalen Datenbanken ist seit langem Stand der Technik. Die Verwendung von Analysedaten zum Trainieren von Machine-Learning-Anwendungen führt zunehmend dazu, das IT-Systeme Vorschläge für neue Moleküle, Synthesen und Rezepturen machen oder helfen, Tierversuche bei der Entwicklung und Prüfung von pharmazeutischen oder kosmetischen Produkten zu vermeiden.

Datenbasierte Produktionsoptimierung

Die digitale Industrie-4.0-Prozessanlage ist nur noch einen Schritt entfernt. Unternehmen aus der Prozessindustrie konzentrieren sich vor allem auf Big-Data-Analysen, Maschine-zu-Maschine-Kommunikation und Augmented Reality, etwa um Wartungs- und Instandhaltungsarbeiten zu optimieren. Der digitale Zwilling (Digital Twin) dient im Industrie-4.0-Einsatz als Schnittstelle der physischen Industrieprodukte in die digitale Welt. Dadurch kann die durchgängige Datenverfügbarkeit entlang des gesamten Lebenszyklus – von der Produktplanung und Entwicklung über Produktion und Inbetriebnahme bis zur Nutzung und dem Recycling – abgebildet werden.

Aber um einen digitalen Zwilling zu erschaffen, müssen zunächst alle Anlagenkomponenten, ihre Lebenserwartung und auch Ersatzteile digital erfasst und in einem einheitlichen System verfügbar gemacht werden. Industrie 4.0 macht nur Sinn, wenn Unternehmen ganzheitlich agieren, also Prozesse, Organisation und Technologien miteinander verbinden.

Aber nur Unmengen an Daten zu erheben, Sensoren zu verbauen und die IT-Infrastruktur aufzurüsten, macht noch keine Industrie 4.0, sondern schafft bestenfalls die Voraussetzungen. Noch wichtiger ist die Entscheidung, welche dieser Daten genauer analysiert und welche Systeme sinnvoll miteinander vernetzt werden sollten, um effizienter und flexibler produzieren zu können. Das erhöht nicht nur die Sicherheit und Ressourceneffizienz im Anlagenbetrieb, sondern auch die ökonomische und ökologische Performance sowie die Resilienz des Unternehmens.

Denn nicht nur die Chemiebranche ist im Wandel, auch das Umfeld ändert sich fortlaufend und der globale Wettbewerb wird intensiver. Dies erfordert noch größere Anstrengungen seitens der Unternehmen, mit Prozess- und Produktinnovationen die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und auszubauen. Auch die Kunden der Chemie stehen ihrerseits in starkem Wettbewerb. Im Zuge dessen ändern sich die Anforderungen an die Lösungskompetenz der Branche stetig. Bei all diesen Punkten kann die Digitalisierung unterstützen, so VCI-Experte Bünger.

Welches Innovationspotenzial in den digitalen Möglichkeiten steckt, haben nicht nur die Verantwortlichen in der Chemie- und Pharmaindustrie erkannt: Prozesssimulation, -optimierung und -skalierung sind bereits vielerorts etabliert. Auch die Öffentlichkeit konnte eine Ahnung davon bekommen, als es der Pharmaindustrie vor zwei Jahren gelang, in nicht für möglich gehaltener kurzer Zeit einen Impfstoff gegen das Coronavirus zu entwickeln und schnell in großen Mengen zu produzieren. Ohne neue Ideen und den Möglichkeiten, die uns die Digitalisierung an die Hand gegeben hat, wäre das undenkbar gewesen.

Wer sich intensiv mit Aspekten der Digitalisierung in der Chemieindustrie befassen möchte, dem sei das gleichnamige virtuelle CHEManager-Event am 21. März empfohlen.

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