Digital hat Zukunft
Digitalisierung wird zunehmend zum Wettbewerbsfaktor in der Chemieindustrie
Noch weist die Chemieindustrie einen geringeren Digitalsierungsgrad auf als z.B. die Automobilindustrie, der Maschinenbau oder die Pharmaindustrie; doch die Vorstandschefs der großen Konzerne haben die Bedeutung der Digitalisierung für ihre künftige Wettbewerbsfähigkeit erkannt. Für den „Digital Chemicals Survey" befragte die Unternehmensberatung Accenture über 150 Topmanager in der Chemieindustrie zu den Trends bei der Digitalisierung. Matthias Hegele, Geschäftsführer des Bereichs Chemieindustrie für Deutschland, Österreich und die Schweiz bei Accenture, berichtet über die Ergebnisse der Studie. Die Fragen stellte Dr. Andrea Gruß.
Welcher Bedeutung messen die Entscheider der Chemieindustrie dem Thema Digitalisierung bei?
M. Hegele: Die Digitalisierung ist endgültig in der Chemieindustrie angekommen und wird uns die nächsten Jahre sogar noch viel stärker beschäftigen. Der hohe Stellenwert von ‚Digital' ist mittlerweile Konsens unter den Chemiemanagern, so ein Ergebnis unserer globalen Umfrage. 94% von ihnen sind überzeugt, dass die Digitalisierung einen ähnlich großen Einfluss auf ihr Unternehmen haben wird, wie damals das Internet in den neunziger Jahren. Wer diesen digitalen Weckruf nicht versteht, droht im Wettbewerb zurückzufallen, so die Einschätzung von 87% der Befragten. Es mag abgedroschen klingen, aber die Digitalisierung ist auch für die chemische Industrie wie für viele andere Branchen alternativlos.
Demnach müsste die Bereitschaft für Investitionen hoch sein. In welche Technologien wird bevorzugt investiert?
M. Hegele: Die Digitalisierung ist das große Zukunftsthema und die Bereitschaft zu investieren entsprechend hoch. 94% der von Accenture befragten Entscheider aus der Chemiebranche planen insgesamt höhere und 54% sogar deutlich höhere Ausgaben für digitale Technologien. Besonders große Hoffnungen sind dabei mit dem Cloud Computing und Big Data verbunden. Zum einen glauben die Verantwortlichen, dass die Ausgaben für diese Technologien sich besonders schnell amortisieren werden. Zum anderen erhoffen sie sich davon effizientere Prozesse und bessere Entscheidungsgrundlagen durch Datenanalytik. Zudem erhöhen diese Technologien die Agilität der Unternehmen, was in einer so konjunkturabhängigen Branche wie der Chemieindustrie ein großer Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz ist. Wer sein Geschäft schneller an neue Gegebenheiten anpassen und Innovationen früher auf den Markt bringen kann, ist den anderen einen Schritt voraus.
Wie bewerten Topmanager zurückliegende IT-Investitionen?
M. Hegele: Die Investitionen in digitale Technologien und die Transformation der IT-Landschaft haben sich fast immer gelohnt, so die einhellige Meinung unter den befragten Managern. So glaubt eine große Mehrheit von 94%, dass sich diese Ausgaben bezahlt gemacht und insgesamt positiv auf das Geschäft ausgewirkt hätten.
Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass die zukünftigen IT-Investitionen einen ganz anderen Charakter haben werden als bisher. Früher ging es bei Investitionen in die IT-Landschaft fast immer nur um die Optimierung von Prozessen. Wir haben digitale Technologien als Werkzeug genutzt, um damit an der Effizienzschraube zu drehen und so den Austausch von Informationen zu beschleunigen, die Buchhaltung zu vereinfachen oder die Logistik besser zu planen.
Heute geht es vielmehr darum, digitale Technologien zur eigentlichen Geschäftsgrundlage zu machen, dadurch neue Wachstumsfelder zu erschließen und die Wertschöpfung zu verlängern. Das bedeutet für Unternehmen, die eigenen Produkte digital zu veredeln und mit dem Internet zu verbinden. Die so in Echtzeit gewonnenen Betriebsdaten werden zur Grundlage neuer Geschäftsmodelle. Das gilt auch für die chemische Industrie. Denken Sie nur an die vielen Projekte der Agrarchemiehersteller bei der vernetzten Landwirtschaft. Ich glaube, dass viele Chemieunternehmen diese Herausforderungen verstanden haben und sie erfolgreich annehmen werden.
Diese Investitionen werden sich auch durch zusätzliches Wachstum viel direkter in der Bilanz bemerkbar machen, als das bei den bisherigen Effizienzsteigerungsprogrammen der Fall war.
Welche Funktionen in einem Unternehmen können von der Digitalisierung am stärksten profitieren?
M. Hegele: Digitalisierung fällt nicht in den Verantwortungsbereich einer einzelnen Facheinheit, wie etwa der IT-Abteilung, und betrifft auch nicht nur bestimmte Teile eines Unternehmens. Sie betrifft alle Bereiche und ist heute die treibende Kraft der Veränderung in der Branche. Wer Digitalisierung als isoliertes Phänomen betrachtet und diesem Thema keine strategische Bedeutung beimisst, sollte schnellstens umdenken.
Sie müssen nur einmal die einzelnen Schritte der Wertschöpfungskette durchgehen, um den Einfluss der Digitalisierung auf die Chemieindustrie zu verstehen. Das fängt bei der Produktentwicklung an, wo digitale Simulation eine wichtige Rolle spielt, geht über die Organisation der Produktion - Stichwort intelligente Fabrik - bis hin zur besseren Bedarfsplanung durch Echtzeitdatenanalyse. Weiterhin entstehen durch digital vernetzte Produkte neue integrierte Angebote, die sich am konkreten Lösungsbedarf des Kunden orientieren.
Können Sie uns ein Beispiel für solch ein Angebot nennen?
M. Hegele: Ein gutes Beispiel dafür ist die vernetzte Landwirtschaft, die ich ja schon angesprochen hatte. Für Agrarchemieunternehmen geht es heute nicht mehr allein darum, einen möglichst hohen Absatz von Pflanzenschutz- oder Düngemitteln zu erzielen, sondern den Ertrag des Landwirts zu steigern. Das ist ein Perspektivwechsel. Dieser Ansatz verlangt eine enge Kooperation mit Unternehmen aus anderen Branchen, aber auch das Denken in integrierten Lösungen. Letztlich geht es um das Verknüpfen von Daten und Leistungen aus sehr verschiedenen Quellen zu einem kompakten und individualisierten Angebot für den Bauern.
Hier sind zunehmend Mitarbeiter gefragt, die in branchenübergreifenden Zusammenhängen denken und eine hohe Datenkompetenz mitbringen. Nicht jeder wird in Zukunft einen Algorithmus programmieren müssen, aber die Frage, wie man welche Daten geschickt miteinander verknüpfen kann, um neue Einsichten zu bekommen, gewinnt an Bedeutung. Es ergeben sich aber auch neue Berufsbilder, wie etwa das des Data Scientist. Dieser Experte für die Datenanalyse hilft dabei, aus der Masse von Daten die wirklich relevanten Informationen zu gewinnen.
Welche Wettbewerbsvorteile erhoffen sich Chemieunternehmen durch eine verstärkte Digitalisierung?
M. Hegele: Digitalisierung trägt auf drei Ebenen zu mehr Wettbewerbsfähigkeit bei. Erstens, lassen sich bessere Entscheidungen treffen, die auf der Echtzeitanalyse eines riesigen digitalen Datenbestands basieren. Dadurch können Unternehmen viel schneller und viel genauer auf Markveränderungen reagieren. Zweitens, entstehen durch Digitalisierung neue Geschäftsfelder, die auf innovativen und individualisierten Services rund um die Auswertung von Nutzerdaten basieren. Drittens, gewinnen die Unternehmen durch die Vernetzung auch immer mehr Daten über den Einsatz eines Produktes beim Kunden. Diese Einsichten sind sehr wichtig für die Weiterentwicklung des eigenen Angebots und einer stärkeren Ausrichtung am Kundenbedarf.
Das Potenzial der Digitalisierung ist jedenfalls riesig. Laut dem IT-Branchenverband Bitkom beträgt die zusätzliche Wertschöpfung durch Digitalisierung allein für die hiesige chemische Industrie 3,4 Mrd. EUR pro Jahr.