Die Rolle von sauberem Wasserstoff für eine klimaneutrale Industrie
Über das Entstehen neuer Liefer- und Wertschöpfungsketten
In der öffentlichen Diskussion geht es vor allem darum, fossile Brennstoffe durch Strom aus erneuerbaren Quellen zu ersetzen. Dabei wird übersehen, dass Strom heute nur einen Bruchteil des Energieverbrauchs ausmacht.
In Deutschland stammt etwa ein Viertel des Endenergieverbrauchs aus Strom - und weniger als die Hälfte davon aus erneuerbaren Quellen. Auf der anderen Seite werden drei Viertel der verbrauchten Energie aus Molekülen gewonnen, meist Kohlenwasserstoffe aus fossilem Öl und Gas. Und wenn auch die Produktion von Stahl und Petrochemie klimaneutral gestellt werden soll, würde dies eine zusätzliche Energiemenge erfordern, die mit der heute aus erneuerbaren Energien erzeugten Energie vergleichbar ist.
Viele Bereiche des Energieverbrauchs können durch Strom aus erneuerbaren Quellen weitgehend klimaneutral gestellt werden, zum Beispiel die individuelle Mobilität durch Elektroautos und die Hausheizung durch Wärmepumpen. Voraussetzung ist allerdings, dass der Strom in ausreichender Menge aus erneuerbaren Quellen erzeugt und zu den Bedarfszentren transportiert werden kann.
Für andere, stärker industrialisierte Anwendungen sind fossile Kohlenwasserstoffe nur schwer auf direktem Weg durch Strom zu ersetzen. Der Schwerlastverkehr und die Luftfahrt benötigen einen Energieträger mit hoher Energiedichte für den Langstreckentransport. Die Stahlindustrie braucht eine Alternative zu Koks als Reduktionsmittel im Produktionsprozess. Auch für Kohlenwasserstoffprodukte der petrochemischen Industrie wird eine Alternative zum fossilen Öl als Rohstoff benötigt.
Klimaneutraler Wasserstoff spielt bei der Erfüllung dieser Anforderungen eine wichtige Rolle. Er dient nicht nur als Ersatz für fossile Energie, sondern auch als Rohstoff für industrielle Prozesse und Produkte.
Doch woher sollen die großen Mengen an klimaneutralem Wasserstoff kommen? Grüner Wasserstoff, der lokal durch Elektrolyse von Wasser mit rein erneuerbaren Energien, z. B. aus Windkraft, hergestellt wird, kann den Bedarf nicht decken. Es gibt viel zu wenig erneuerbare Energie in der Nähe der Industriecluster in Deutschland. Wie die Industrie große Mengen an klimaneutralem Wasserstoff gewinnen kann, ist Gegenstand verschiedener Ansätze und einiger Pionierprojekte.
Nicht jeder Wasserstoff kann als klimaneutral bezeichnet werden. Wie beim Strom kommt es auf die Quelle und die Produktionsweise an. Die Industrie nutzt heute fast ausschließlich grauen Wasserstoff. Er wird aus Erdgas gewonnen, meist über den Prozess der Dampfreformierung. Bei diesem Prozess wird CO2 an die Atmosphäre abgegeben. Bei sauberem, blauem Wasserstoff wird das CO2, das aus der Kohlenstoffkomponente im Erdgas entsteht, bei der Dampfreformierung von der Wasserstoffkomponente getrennt. Es wird unterirdisch dort gespeichert, wo zuvor der fossile Brennstoff gefördert wurde. Daneben wird durch thermisches Cracken von Erdgas unter Abtrennung von Kohlenstoff in fester Form so genannter türkisfarbener Wasserstoff erzeugt. Dieser Prozess kann unter zwei Bedingungen als kohlenstoffneutral angesehen werden: Der Prozess arbeitet mit Strom aus erneuerbaren Quellen und bindet den Kohlenstoff dauerhaft, zum Beispiel als Industrierohstoff.
Trotz steigender CO2-Preise ist grauer Wasserstoff derzeit günstiger als grüner Wasserstoff. Langfristig werden sich die Unternehmen aber anpassen müssen. Der regulatorische Druck wächst - und damit auch das Risiko weiterer oder höherer Abgaben. Deshalb müssen sich die Unternehmen selbst um H2-Quellen und Produktionswege kümmern. Eine Möglichkeit ist die Beteiligung an einem Wasserstoff-Ökosystem, das aus Energielieferanten, Wandlern und Verbrauchern besteht. Es verbindet ökonomische und ökologische Interessen.
Eines der ersten Ökosysteme dieser Art ist das Projekt "Reallabor Westküste 100" an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste - einer Region mit hohem Windaufkommen. Hier haben sich Stromerzeuger, Technologieanbieter, eine Raffinerie, ein Zementwerk und die Landesregierung zusammengeschlossen. Die Allianz nutzt Strom aus Windparks, um durch Elektrolyse von Wasser Wasserstoff zu erzeugen. Die Raffinerie verarbeitet den grünen Wasserstoff, um den Kohlenstoff-Fußabdruck ihrer Produkte zu reduzieren. Das Zementwerk könnte in Zukunft den als Nebenprodukt anfallenden Sauerstoff nutzen, um seine Stickoxidemissionen zu reduzieren. Das CO2 aus der Zementherstellung könnte dann abgetrennt und von der Raffinerie mit Hilfe des grünen Wasserstoffs zu Flugbenzin für den Hamburger Flughafen weiterverarbeitet werden.
Ökosysteme wie "Westküste 100" befinden sich noch im Projektstadium. Derzeit und in absehbarer Zukunft kann grüner Wasserstoff in Deutschland nicht wettbewerbsfähig produziert werden - zumindest nicht in dem Maßstab, den die hiesige Industrie benötigt. Die Verfügbarkeit von Strom aus erneuerbaren Quellen ist zu gering. Daher muss der Import von Wasserstoff in Betracht gezogen werden, nicht nur von grünem Wasserstoff, sondern auch von alternativen Formen. Eine Option ist der Import von Wasserstoff, der mit Strom aus Photovoltaikanlagen in Südeuropa und Nordafrika hergestellt wird. Im Januar wurde das Projekt "HyDeal" gestartet. Ziel ist es, bis 2030 in Spanien 67 Gigawatt Elektrolysekapazitäten für grünen Wasserstoff aufzubauen. Der Wasserstoff soll über umgenutzte Fernleitungen für Erdgas nach Deutschland transportiert werden.
In Nordafrika, dem Nahen Osten und Südamerika kann grüner Wasserstoff mit Solarstrom kostengünstig produziert werden. Dieser Wasserstoff könnte vor Ort zu Ammoniak, Methanol oder Kraftstoffen verarbeitet werden. Die hohe Energiedichte der Wasserstoffprodukte im Vergleich zu gasförmigem Wasserstoff und die einfachere Handhabung ermöglichen einen wirtschaftlichen Transport per Schiff. So können auch weiter von Deutschland entfernte Regionen zu Lieferanten von klimaneutraler Energie und Rohstoffen werden.
Transnationale Partnerschaften und eine starke Infrastruktur sind notwendig, um das Potenzial des klimaneutralen Wasserstoffs zu realisieren
Um die Potenziale des klimaneutralen Wasserstoffs für die Dekarbonisierung der Industrie in Deutschland zu realisieren, bedarf es stabiler, länderübergreifender Partnerschaften und einer starken Wasserstoffinfrastruktur. Unternehmen sollten bei der Politik darauf drängen, diese aufzubauen. Nur dann wird die Energiewende in energieintensiven Unternehmen, wie z.B. der chemischen Industrie, umgesetzt werden. Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette von klimaneutralem Wasserstoff können Fördertöpfe in Anspruch nehmen. Die Kunst besteht darin, die nationalen und internationalen Programme zu kennen, sie zu kombinieren und überzeugende Konzepte für eine erfolgreiche Transformation zu erarbeiten.