Die millionste Tonne Dicyandiamid
Alzchem feiert Jubiläum für ein altes Produkt, das immer noch mit neuen Anwendungen überrascht
Das Trostberger Chemieunternehmen AlzChem feiert in diesem Jahr ein besonderes Jubiläum: Die Herstellung von 1.000.000 t Dicyandiamid (DCD). Die Produktionsmenge ist weltweit konkurrenzlos und wurde in einer Anlage hergestellt, die bereits in den frühen 1950er Jahren den Betrieb aufnahm. Dieser Meilenstein ist Anlass, das vielseitige Produkt hinsichtlich seiner Bedeutung als typischen Vertreter des NCN-Stammbaums des Unternehmens, seiner wechselvollen Industriegeschichte und seiner typischen Anwendungen vorzustellen.
DCD ist ein zentraler Bestandteil der NCN-Kette, die das Rückgrat von AlzChem darstellt. Das gesamte Produktportfolio leitet sich aus wenigen Kettengliedern ab, die jeweils in großen Monoanlagen hergestellt werden (Abb. 1). Den Startpunkt stellt Calciumcarbid dar, das seit über 100 Jahren unverändert mit den Rohstoffen Kohle, Kalk und Strom bei Temperaturen von mehr als 2.000°C mit Hilfe eines Lichtbogens kontinuierlich in thermischen Niederschachtöfen hergestellt wird. Ähnliches gilt für Calciumcyanamid, dessen Synthese wiederum kontinuierlich bei ca. 1.200°C mit Hilfe von Luftstickstoff in Drehrohröfen erfolgt. Durch Behandlung mit Säure wird Cyanamid freigesetzt, das in situ zu DCD dimerisiert.
Geschichte der DCD-Herstellung
Im 20. Jahrhundert existierte eine Vielzahl von Anlagen zur Herstellung von Calciumcarbid in Europa, da die gesamte synthetische Chemie überwiegend auf dem daraus freigesetzten Acetylen basierte. Der Siegeszug des Erdöls radierte den Großteil dieser Anlagen aus. AlzChem betreibt heute drei der wenigen verbliebenen Carbidöfen an den Standorten Hart in Deutschland und Sundsvall in Schweden. Parallel entstanden massive Calciumcarbid-Kapazitäten in China, da die Rohstoffe Kalk und Kohle in zentralen Provinzen reichlich vorhanden sind und fast die gesamte PVC-Herstellung über die Acetylenschiene erfolgt.
Es dauerte daher auch nicht allzu lange, bis bei fast allen Kettenprodukten auch in den angestammten Märkten in Europa die Konkurrenz aus China kam. Diese steigt mit der Wertschöpfung und konzentriert sich auf die Stufen ab DCD, da die Vorstufen aus Sicherheitsgründen nicht oder nicht wirtschaftlich transportiert werden können AlzChem kam das Alleinstellungsmerkmal zugute, alle Kettenprodukte in räumlicher Nähe produzieren zu können. So wurde schon früh der Aufbau einer Verbundstruktur ermöglicht. Bei der Carbid-Herstellung fällt als Nebenprodukt Kohlenmonoxid an, das bei der Produktion von Cyanamid und DCD thermisch und stofflich verwertet werden kann. Wertvolle Nebenprodukte aus der Herstellung der Guanidinsalze werden in früheren Synthesestufen einer stofflichen Verwertung zugeführt und damit die Rohstoffausbeute über die Gesamtkette optimiert.
Moderne DCD-Produktion
Die Produktionsanlage zur Herstellung von DCD am Standort Schalchen nahe Trostberg (großes Foto) wurde 1950 in Betrieb genommen und seitdem durchgehend betrieben. Sie gehört - als einzig verbliebene Anlage außerhalb von China - mit einer Jahreskapazität von 20.000 t zu den größten weltweit. Die Anlage arbeitet effizient und umweltfreundlich und erlaubt durch gezielte Steuerung die Herstellung unterschiedlicher Qualitäten mit einer Reinheit von bis zu 99,9% zur Verwendung in der Synthese pharmazeutischer Wirkstoffe. Zur Sicherung der Wettbewerbsposition wird der Prozess selbst nach vielen Jahrzehnten Erfahrung – jetzt unter Einsatz moderner statistischer Methoden – aktiv und kontinuierlich verbessert. Der Betrieb erfolgt generell nach ISO 9.000 Standard, zusätzlich werden Kundenanforderungen zur Herstellung einer direkten Vorstufe für einen Pharmawirkstoff erfüllt.
Steuerung der Produktqualität
Man hat sehr früh erkannt, dass qualitativ hochwertige Anwendungen von Cyanamid und DCD über die Qualität von Calciumcarbid gesteuert werden können. Da das Know-how über die gesamte Kette bei AlzChem in einer Hand liegt, können spezielle Qualitäten der beiden Produkte über die Auswahl der Carbid-Rohstoffe gezielt hergestellt werden. Die Herstellung der Kettenprodukte Calciumcarbid und Cyanamid stellt auch unter Sicherheitsaspekten eine Herausforderung dar. Cyanamid ist eine hochreaktive Substanz, die unter Energiefreisetzung mit hohen Ausbeuten zu DCD dimerisiert. Beim Verkaufsprodukt Cyanamid muss diese Reaktion deshalb effektiv gehemmt werden. Es wird daher nur entsprechend stabilisierte Ware in den Handel gebracht, wobei sich die Auswahl des Stabilisators an den Anforderungen des Kunden orientiert. Cyanamid ist weiterhin ein kritischer Rohstoff für die Synthese von Kreatin und Guanidinoessigsäure, die unter den Markennamen Creapure® und Creamino® vermarktet werden.
Eigenschaften von DCD
DCD ist ein weißes, sicherheitstechnisch harmloses Pulver - es zeigt sich jedoch in chemischen Systemen als sehr reaktionsfreudig; entsprechend sind die Anwendungen von vielfältiger Natur. Die Produktion wurde ursprünglich zur Herstellung des Folgeproduktes Melamin etabliert. In der Zwischenzeit existiert eine Palette von Alternativen, die eine Diversifizierung ermöglichen. Die Umsetzung mit unterschiedlichen Nitrilen führt zur Substanzklasse der Guanamine, die mit dem Hauptvertreter Benzoguanamin zur Modifizierung von Kunststoffoberflächen Verwendung finden.
Charakteristisch für DCD und die über Schmelzreaktion mit Ammoniumsalzen hergestellten Guanidinsalze ist die hohe Stickstoffkonzentration, die beide Substanzklassen für Endanwendungen prädestiniert, die über die Freisetzung inerter flüchtiger Stickstoffverbindungen funktionieren. So findet DCD selbst Anwendung als Flammschutzmittel in Leiterplatten oder Spezialpapieren. Guanidinnitrat ist die aktive Komponente zur Gaserzeugung in Airbags.
Anwendungsvielfalt von DCD
Zu einem Schwerpunkt der Anwendungen für DCD und Folgeprodukte hat sich zwischenzeitlich der Life-Sciences-Sektor entwickelt. Durch Umsetzung mit Dimethylaminhydrochlorid entsteht ein substituiertes Biguanid, das unter dem Namen Metformin Patienten verabreicht wird, die unter Typ-2-Diabetes leiden. Vor allem wegen der Umstellung der Ernährungsgewohnheiten in den sich entwickelnden großen Volkswirtschaften wie Indien und China wächst diese Anwendung mit mehr als 10% pro Jahr. Von der zunehmenden Beliebtheit biologisch hergestellter Pharmawirkstoffe profitiert das Guanidinhydrochlorid. Es kann die Faltung von Proteinen verändern und wird daher als Chaotropikum bei der Isolierung von biologisch erzeugten Wirkstoffen eingesetzt.
In großen Mengen wird DCD auch bei der Stabilisierung von Harnstoff als Nitrifikationsinhibitor eingesetzt. Dabei hemmt es das Enzym, das den Aminstickstoff zu Nitrat oxidiert, verlängert damit die Wirkzeit des Düngers und verhindert das umweltschädliche Auswaschen von Nitrat aus gedüngten Böden. Auch in der Synthese von Pflanzenschutzwirkstoffen wird DCD benötigt: Am bekanntesten ist die Klasse der Neonicotinoide mit den prominentesten Vertretern Imidacloprid und Thiamethoxam, die auf dem DCD-Folgeprodukt Nitroguanidin aufsetzen.
Bei AlzChem gibt es zwei weitere bedeutende Einsatzgebiete für DCD: Unter dem Markennamen Dyhard wird das Produkt zur Anwendung in heißhärtenden Epoxysystemen vertrieben. Es wird in Verbundwerkstoffen für Sportartikel (z.B. Tennis- oder Golfschläger) oder als Versiegelungswerkstoff im Automobilbau verwendet. Durch Reaktion von DCD mit Formaldehyd entstehen Polykondensate, die in der Papier- und Lederherstellung zur Abwasserbehandlung dienen. Parallel zur Verschärfung der umweltpolitischen Diskussion weltweit steigt auch das Interesse an diesen Produkten, die unter dem Markennamen Melflock verfügbar sind.
Rasch wachsende Neuentwicklung
Eine rasch wachsende Neuentwicklung basierend auf Cyanamid entsteht durch die Umsetzung mit Glycin: Guanidinoessigsäure (GAA). Diese ähnelt strukturell sehr stark dem am Energiestoffwechsel des Menschen beteiligten Kreatin. In zahlreichen Studien konnte nachgewiesen werden, dass diese Verbindung die Futtereffizienz in der Hähnchenmast steigert. Durch die reduzierte Futtermenge verbessert sich weiterhin die Ressourceneffizienz. GAA wird unter dem Markennamen Creamino vertrieben und ist aufgrund des wachsenden Fleischkonsums der Weltbevölkerung stark nachgefragt. Erst 2015 hat AlzChem eine weitere GAA-Produktionsanlage in Betrieb genommen.
Nachgefragt
Alter schützt vor Neuheit nicht
Seit den frühen 1950er Jahren produziert das Trostberger Chemieunternehmen AlzChem Dicyandiamid (DCD) in seiner Anlage in Schalchen. Nun erreichte die Produktionsmenge die millionste Tonne. Dr. Georg Weichselbaumer, bei AlzChem für das Produkt verantwortlich, erläutert die Bedeutung von DCD für das Unternehmen.
CHEManager: Herr Dr. Weichselbaumer, die NCN-Kette bildet das chemische Rückgrat von AlzChem. Welche Bedeutung hat die langjährige Erfahrung für Ihre Wettbewerbsposition?
Dr. G. Weichselbaumer: Wie der Stamm einer Eiche bildet die NCN-Kette die solide Basis von AlzChem. Die einzelnen Produkte sind wirtschaftlich optimiert und synergistisch aufeinander abgestimmt. Auf diesem Fundament können wir sehr schnell NCN-Derivate hinsichtlich ihres technologischen und wirtschaftlichen Potentials einschätzen. Die technologische Vielfalt der unterschiedlichen Kettenprodukte erlaubt es uns, Neuentwicklungen schnell umzusetzen und deren Kosten zu optimieren.
Sie arbeiten weiter an der Prozessoptimierung. Welche Rolle spielt Innovation im Zusammenhang mit einem solch „alten“ bzw. „erforschten“ Produkt?
Es ist immer wieder erstaunlich, was durch Anwendung moderner Analyse- und Auswertesysteme möglich wird. Neue analytische Methoden liefern zusätzliche Erkenntnisse bezüglich der Zusammensetzung von Reaktionslösungen und Nebenprodukten, die Auswertung der anfallenden Flut an Messdaten per Computer bringt Korrelationen zwischen unterschiedlichsten Prozessparametern ans Tageslicht. Dies führt in Summe zu Ausbeutegewinn, Durchsatzsteigerungen und zur Verbesserung der Produktqualität.
Die Anwendungsvielfalt von DCD ist immens und reicht von Arzneimitteln bis zu Sportartikeln. Welches sind die neuesten und welches die für Sie „überraschendsten“ Einsatzgebiete?
Die modernste Anwendung von DCD findet sich sicherlich im Bereich der Verbundwerkstoffe, die im Automobilbau – Stichwort: Kleben statt Schweißen -, in der Luft- und Raumfahrttechnik und bei den erneuerbaren Energien zum Einsatz kommen. Anwendungen wie Abwasserbehandlung und Nitrifikationshemmung sind Themen, die sehr stark von der Umweltgesetzgebung getrieben werden. Dabei ist durchaus überraschend, wie stark diese von Kontinent zu Kontinent variieren.
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AlzChem AG
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