Die Energiewende betrifft alle
Evonik-Chef Engel: Energiewende braucht Rückhalt in der Bevölkerung, Kapital und Spitzenforschung
Es steht viel auf dem Spiel, denn es geht um das größte deutsche Projekt nach der Wiedervereinigung: die Energiewende. Unter welchen Voraussetzungen kann sie gelingen? Dr. Andrea Gruß befragte dazu Dr. Klaus Engel, Vorstandsvorsitzender von Evonik Industries.
Die Energiewende wird heute in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft so kontrovers diskutiert wie kaum ein anderes Thema. Warum?
Dr. K. Engel: Dies hat aus meiner Sicht zwei wesentliche Gründe: Erstens: Sie betrifft uns alle. Und zweitens: Sie bereitet uns allen Sorgen, dem einen mehr, dem anderen weniger. Denn die fundamentalen Fragen zur Umsetzung und zur Finanzierung der ehrgeizigen Ziele dieses Jahrhundertprojekts sind bis heute offen. Die einzige Frage, die wir heute nicht mehr diskutieren müssen, ist die nach der Energiewende selbst: Deutschland hat sich dieses weltweit bislang beispiellose und sehr ehrgeizige Projekt vorgenommen - und jetzt setzen wir es auch um.
Wie kann es gelingen?
Dr. K. Engel: Das gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Megaprojekt Energiewende kann uns nur gelingen, wenn es von den Menschen, die unmittelbar betroffen sind, mitgetragen wird. Dass die Menschen die Energiewende zunehmend kritisch sehen, sollte uns daher zu denken geben. Gegen diese Kritik, gegen die Unsicherheit und gegen den Widerstand aus der Gesellschaft kann es weder der Politik, noch der Industrie gelingen, die Energiewende erfolgreich zu gestalten und die gesteckten Ziele zu erreichen. Wir müssen die Menschen mitnehmen und sie von der Notwendigkeit und den langfristigen Vorteilen dieses Projekts überzeugen.
Welche Vorteile sind dies?
Dr. K. Engel: Tatsächlich sind die Chancen, die mit der Energiewende einhergehen, riesig: weniger Abhängigkeit von schwankenden Rohstoffpreisen und politisch labilen Exporteuren, weniger Emissionen und neue Technologien, die wir, wenn sie in Deutschland einmal funktionieren, in die ganze Welt exportieren können. Doch der Weg dorthin wird noch ein langer, steiler und sehr kostspieliger Weg.
Wie hoch schätzen Sie die Kosten?
Dr. K. Engel: Ein Gutachten des Westfälischen Energieinstituts kam zu dem Ergebnis, dass sich die Gesamtkosten allein durch die EEG-Umlage bis Ende 2014 bereits auf 110 Mrd. € summieren werden. Bis zum Jahr 2050 werden wir insgesamt rd. 500 Mrd. € investieren müssen, um die von der Politik gesteckten Ziele der Energiewende tatsächlich erreichen zu können.
Es wird also teuer...
Dr. K. Engel: Ja. Doch nur Klarheit und Offenheit schaffen Vertrauen. Und ohne Vertrauen wird es auch keine ausreichende Unterstützung geben. Deshalb sollte die politische Führung in Bund und Ländern Klartext sprechen. Wir, die Industrie, wollen und werden unseren Beitrag leisten: Wir werden wie bereits heute auch in Zukunft einen Teil der Kosten tragen, denn auch als große Stromkunden sind wir keinesfalls vollständig von der EEG-Umlage befreit. Gleichzeitig werden wir weiter in Forschung und Entwicklung investieren, um all das technologisch möglich zu machen, was heute politisch und gesellschaftlich gewünscht wird. Denn hier entstehen neue, attraktive Märkte für eine saubere, sichere, effiziente und bezahlbare Energieversorgung. Was wir dabei nicht brauchen, sind billige Polemik und regionales Kirchturmdenken. Emotionale Debatten über steigende Strompreise und Energiearmut, über vermeintlich so dreckige Kohlekraftwerke und das versuchte Ausspielen der Verbraucher gegen die Industrie haben wir genug geführt. Jetzt ist es Zeit für sachliche Argumente und ökonomische Fakten.
Welches sind die ökonomischen Fakten?
Dr. K. Engel: Das Westfälische Energieinstitut hat in einer aktuellen Studie untersucht mit welchen finanziellen und ökonomischen Belastungen die Energiewende für Gesellschaft und Branchen einhergeht. Die Ergebnisse sind bemerkenswert: So soll nach dieser Analyse die große Mehrheit der deutschen Haushalte durchaus imstande sein, die finanzielle Mehrbelastung durch das EEG zu stemmen. Das gleiche gilt für die große Mehrheit der Unternehmen. Auch der Vorwurf, die Energiewende würde unsere Volkswirtschaft insgesamt überfordern, lässt sich durch die Studie nicht per se belegen - im Gegenteil: Natürlich könnte eine wohlhabende Volkswirtschaft wie Deutschland die erforderlichen Mittel dafür aufbringen. Die deutsche Volkswirtschaft wird in diesem Jahr einen Überschuss von rd. 280 Mrd. € erwirtschaften. Davon werden nach den Prognosen lediglich rd. 80 Mrd. € wieder im eigenen Land investiert. Das bedeutet: 200 Mrd. € bleiben übrig bzw. fließen ins Ausland ab. Wäre es nicht schön, wenn künftig zumindest ein Teil davon im Land bliebe und in unsere Zukunft investiert würde?
Welche Anreize müssten dafür geschaffen werden?
Dr. K. Engel: Zum Beispiel steuerliche Vorteile für Investitionen in Netze oder endlich auch für Forschung und Entwicklung. Denn wir brauchen nicht nur Investitionen in neue Netze, sondern auch in die Entwicklung und Weiterentwicklung dieser Anlagen und Netze - und vor allem der Speicher. Die ganze Energiewende steht und fällt mit der Entwicklung effizienter Stromspeicher. Nur wenn wir technisch im Stande sind, überschüssigen Strom jederzeit zu speichern und ihn später jederzeit wieder abzurufen, können wir die Netzstabilität trotz volatiler Erzeugung gewährleisten. Und wenn wir unseren Ökostrom künftig in nennenswerter Menge speichern können, lassen sich unsere stetig wachsenden Kapazitäten auch vernünftig auslasten, ohne dass wir unsere Nachbarn in den Niederlanden oder in Polen weiter dafür bezahlen müssen, dass sie uns unseren Strom in Spitzenzeiten kostenlos abnehmen.
Rund 20 Mrd. € investiert unser Land in diesem Jahr in die Energiewende. Wenn wir davon lediglich 10 % konsequent in die Entwicklung neuer Speicher stecken würden, wäre ich sehr zuversichtlich, dass unsere Unternehmen und unsere Ingenieure jene Lösungen finden werden, auf die wir für die nächste Ausbauphase so dringend angewiesen sind. Die Energiewende braucht nicht nur den politischen Willen, den Rückhalt in der Bevölkerung und das nötige Kapital. Sie braucht auch die Spitzenforschung und die Entwicklung neuer Technologien, ohne die wir heute weder Kraftwerke noch Windräder und Sonnendächer hätten.
Braucht sie auch neue Kohlekraftwerke?
Dr. K. Engel: Moderne Kohle- und Gaskraftwerke sind nach wie vor das Rückgrat unserer Stromversorgung. Ohne den Beitrag unserer konventionellen Kraftwerke wird in unserem Land auf lange Sicht gar nichts gehen. Sie liefern immer, unabhängig von Wind und Wetter, und sichern zugleich die Stabilität der Netze. Die Frage lautet daher nicht, ob wir Kohlekraftwerke in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch brauchen werden. Sie lautet: Wie stellen wir den Betrieb von Kraftwerken sicher? Und wie wird er finanziert? Auch hier ist wieder an erster Stelle die Politik gefragt. Sie muss verlässliche Rahmenbedingungen schaffen, die den Erhalt und den Betrieb von Kraftwerken über einen Investitionszyklus wirtschaftlich sichern. Wenig hilfreich erscheint es mir in diesem Zusammenhang, die Restlaufzeit moderner Kohlekraftwerke und die künftige Nutzung der Braunkohlefelder bereits heute verbindlich festsetzen zu wollen. Schließlich kann niemand schon heute seriös berechnen, wie viele Kraftwerke wir in Zukunft noch benötigen werden - und für wie lange.
Sind die Chancen und Lasten der Energiewende gerecht verteilt?
Dr. K. Engel: Die Kluft zwischen den Profiteuren der Energiewende und denen, die für die anderen die Rechnung zahlen, geht quer durch unser Land, quer durch die Bevölkerung und quer durch die Industrie. Es gibt Bundesländer wie Bayern und Schleswig-Holstein, die besonders von der Förderung der Solar- und Windenergie profitieren. Und es gibt die Stromkunden in Nordrhein-Westfalen, die Jahr für Jahr Milliarden dafür zahlen. In den vergangenen vier Jahren haben die Stromkunden in NRW im Durchschnitt über die EEG-Umlage 1,8 Mrd. € mehr gezahlt als die Ökostromerzeuger in NRW erhalten haben. Zugleich kommt allein Bayern in diesen vier Jahren auf ein jährliches Plus von 1,1 Mrd. €. Es gibt wohlhabende Privatleute, die mit garantierten Renditen in Wind- und Solaranlagen investieren. Gleichzeitig gibt es einkommensschwächere Familien, die bereits heute Schwierigkeiten haben, ihre ständig steigende Stromrechnung zu bezahlen. Alle diese Beispiele zeigen: Das EEG ist eine riesige Umverteilungsmaschine. Politik und Wirtschaft müssen gemeinsam daran arbeiten, diese Umverteilungsmaschine zu bändigen und neu zu justieren. Damit unser Land und seine Menschen insgesamt eines Tages als Gewinner der Energiewende hervorgehen wird.