Chemieverbände kritisieren europäische Gefahrenkennzeichnung für Farben
„Einstufung sinnlos und irreführend“
Der Ausschuss für Risikobeurteilung (RAC) der Europäischen Chemikalienbehörde ECHA hat am Donnerstag empfohlen, das Weißpigment Titandioxid als einen Stoff „mit Verdacht auf krebserzeugende Wirkung beim Menschen“ durch Einatmen einzustufen. In einer ersten Stellungnahme zeigt sich die Farbenindustrie bestürzt über diese Empfehlung: „Ohne ausreichende wissenschaftliche Grundlage wird hier einer der wichtigsten Rohstoffe unserer Industrie zu Unrecht stigmatisiert. Titandioxid wird seit Jahrzehnten erfolgreich und sicher für die Produktion von Lacken, Farben und Druckfarben eingesetzt – für uns ist Titandioxid schlicht unverzichtbar“, begründet Dr. Martin Engelmann, Hauptgeschäftsführer des Verbandes der deutschen Lack- und Druckfarbenindustrie (VdL), die Kritik an der Empfehlung.
Die Farbenindustrie ist mit einem Anteil von 57% der Hauptabnehmer von Titandioxid. Das Weißpigment ist der mit Abstand wichtigste Rohstoff dieser Industrie und in den meisten Farben enthalten. Gleichwertige Alternativen gibt es nicht: Pigmente wie Calciumcarbonat, Zinkoxid, Zinksulfid und Bariumsulfat haben technisch und coloristisch schlechtere Eigenschaften, beispielsweise hinsichtlich Deckkraft und Witterungsbeständigkeit.
Hintergrund für die Ausschuss-Empfehlung ist die Befürchtung, dass Arbeiter an Lungenkrebs erkranken könnten, wenn sie bei der industriellen Herstellung und Verarbeitung Staubemissionen u.a. von Titandioxid ausgesetzt sind. „Titandioxid wird Farben als Pigment zugegeben und ist danach fest in die Bindemittel-Matrix eingebunden. Es kann daher gar nicht eingeatmet werden. Eine Gefahrenkennzeichnung für Farben ist daher nicht nur sinnlos, sondern auch irreführend für den Verwender“, erläutert Engelmann.
Um Arbeitnehmer vor Staub-Erkrankungen zu schützen, hätten die meisten EU-Mitgliedsstaaten bereits Staubgrenzwerte am Arbeitsplatz eingeführt, erklärt er weiter. Deutschland sei hier international Vorreiter. Zudem hätten Untersuchungen über mehrere Jahrzehnte hinweg an circa 24.000 Arbeitern in 18 Titandioxid-Fabriken, u.a. in Deutschland, keine negativen Auswirkungen von Titandioxid auf die Gesundheit festgestellt.
Eine Einstufung von Titandioxid würde erheblichen Druck auf die Hersteller ausüben, ihre Farbrezepturen zu verändern. So sind beispielsweise 95% der RAL-Farbtöne mit Titandioxid hergestellt. Die allermeisten Hersteller von Farben und Lacken sind mittelständische Unternehmen, die keine eigenen Forschungs- und Entwicklungsabteilungen haben und die deshalb eine solche umfassende Rezepturänderung nicht durchführen können. Ihr Überleben am Markt wäre akut gefährdet.
„Das Einstufungsverfahren führt schon jetzt zu einer großen Verunsicherung in vielen Industriebranchen und deren Abnehmern. Wir fordern von der Politik, dass sie bei der Entscheidungsfindung auf EU-Ebene die wissenschaftliche Begründung des Vorschlags kritisch überprüft und die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen einer Einstufung im Blick behält“, erklärt Engelmann.
VCI kommt zu anderem Ergebnis
Auch der Verband der Chemischen Industrie (VCI) kommt nach eigener Einschätzung zu einem anderen Ergebnis: „Die Bewertung ist aus toxikologischer Sicht nicht nachvollziehbar und führt zu einer großen Verunsicherung der Verbraucher. Außerdem hat die Bewertung gravierende Auswirkungen auf die betroffenen Industriebranchen“, sagte Gerd Romanowski, VCI-Geschäftsführer Technik und Umwelt.
Frankreich hatte bei der ECHA eine Einstufung von Titandioxid als krebserzeugend angeregt. Der französische Vorschlag stützt sich dabei auf Studien an Ratten, die extrem hohe Konzentrationen an Titandioxid-Staub inhaliert hatten. Dies führte zu sogenannten Lungenüberladungen (lung overload) durch das Einatmen von Staubpartikeln.
Alle relevanten Leitlinien der ECHA, der OECD und des Europäischen Zentrums für Toxizität und Ökotoxizität stellten jedoch übereinstimmend fest, dass Ergebnisse aus derartigen Lung-overload-Studien an Ratten nicht auf den Menschen übertragbar seien. Darauf wies Romanowski nachdrücklich hin. Auch epidemiologische Studien zeigten keinen Zusammenhang zwischen der Exposition von Titandioxid-Staub am Arbeitsplatz und einem Risiko für Krebs. Außerdem sei in Deutschland die Staub-Exposition am Arbeitsplatz bereits durch den allgemeinen Grenzwert für Staub besonders streng geregelt. „Entzündungsprozesse in der Lunge können durch das Einatmen von Staubpartikeln entstehen, die nicht vom Körper abgebaut werden. Sie sind daher keine spezielle Eigenschaft von Titandioxid, sondern charakteristisch für Stäube“, erläuterte Romanowski. Weiter ergänzte er: „Stäube treten vor allem am Arbeitsplatz auf. Die vorhandene Regelung im Arbeitsschutz über den allgemeinen Staubgrenzwert ist daher das geeignete Instrument, die Gesundheit des Menschen zu schützen.“
Und auch der Pigment-Verband kritisiert Empfehlung der ECHA. „Die Bewertung steht aus unserer Sicht auf wackeligen Füßen und ist toxikologisch nicht gerechtfertigt. Die Auswirkungen wären unverhältnismäßig hoch auf allen Gebieten, in denen das Weißpigment eingesetzt wird“, sagt Dr. Heike Liewald, Geschäftsführerin des VdMi.