Chemielogistik - gefragt sind anpassungsfähige Logistiknetze
Interview mit Michael Kriegel, Department Head Dachser Chem Logistics
Offensichtlich nimmt die chemische Industrie aufgrund der Erfahrungen der letzten beiden Jahre die Logistik auch zunehmend als geschäftskritischen Erfolgsfaktor wahr. Michael Kriegel, Department Head Dachser Chem Logistics erläutert im Interview, wie sich die Covid-19-Pandemie auf die Chemielogistik ausgewirkt hat und welchen Einfluss Digitalisierung und Nachhaltigkeit auf die Lieferkette haben. Die Fragen stellte Sonja Andres.
CHEManager: Herr Kriegel, wie hat sich die Chemielogistik in den letzten Jahren entwickelt?
Michael Kriegel: Sehr positiv, was das Segment Stückgut, das heißt verpackte und palettierte Ware angeht. Wir können das konkret an stetig wachsenden Sendungszahlen festmachen. 2021 haben wir bei Dachser rund vier Millionen Sendungen mit chemischen Produkten bewegt. Darunter waren rund 1,25 Millionen Gefahrgutsendungen.
Diese Entwicklung verläuft im Gleichschritt mit der chemischen Industrie, die ja bekanntlich zu den erfolgreichsten und wettbewerbsfähigsten Industrien überhaupt zählt.
Trotz der positiven Entwicklung haben Störungen in den Lieferketten, Materialknappheit und Kapazitätsengpässe die Chemielogistik in den letzten beiden Jahren stark gefordert. Es gilt, diese Engpässe in den globalen Supply Chains vorausschauend zu managen, um die Lieferketten der chemischen Industrie unterbrechungsfrei am Laufen zu halten.
Ist dies nur eine Momentaufnahme – auch durch Covid-19 getrieben – oder sehen Sie darin eine langfristige Entwicklung?
M. Kriegel: Durch die Pandemie sind viele Gewissheiten ins Wanken geraten. Immer wieder kommt es zu Störungen in den weltweiten Lieferketten. Aktuell sind es See- und Flughäfen in China, die aufgrund der rigorosen Coronamaßnahmen ihren Betrieb für eine bestimmte Zeit einschränken oder sogar ganz einstellen müssen. Das führt zu Kapazitätsengpässen, die nicht ohne Weiteres aufgeholt werden können. Dazu kommen dauerhafte, strukturelle Probleme wie der Fahrer- und Fachkräftemangel, die sich in der aktuellen Lage besonders deutlich bemerkbar machen und die Logistiker und Verlader gemeinsam angehen müssen.
Die verminderte Planbarkeit in Bezug auf die Lieferketten wird zumindest in diesem Jahr noch anhalten und die Unternehmen werden ihre Supply Chains in einem gewissen Maße darauf abstimmen. Der Stellenwert des Lieferkettenmanagements ist in diesem Zusammenhang gestiegen – das Thema wird mittlerweile bei vielen Kunden bis auf Vorstandsebene diskutiert. Die Logistik wird dadurch, auch in der chemischen Industrie, zunehmend als geschäftskritischer Erfolgsfaktor wahrgenommen.
Stellen Sie fest, dass Chemieunternehmen ihre Supply Chains umstrukturieren? Wenn ja, welchen Einfluss hat dies generell auf das Verhältnis von Verlader zu Logistikpartner?
M. Kriegel: Die Unternehmen agieren derzeit im Krisenmodus. Ihr ganzer Fokus liegt darauf, Kapazitäten zu bezahlbaren Raten zu beschaffen und gemeinsam mit dem Logistikpartner Lösungen zu finden, um die Lieferketten aufrecht zu erhalten. Mittel- oder langfristig werden die Unternehmen aber eine strukturelle Veränderung ihrer Supply Chains anstoßen. Eine interne Umfrage, die wir im vergangenen Sommer durchgeführt haben, hat gezeigt, dass 70 % der befragten Kunden über eine Regionalisierung der Lieferketten nachdenken.
Generell erkennen wir, dass erste Chemieunternehmen die Fertigung in die Region der größten Absatzmärkte verlagern. Allerdings benötigt das ausreichend Zeit und ein Ende der Globalisierung ist auch das nicht. Eine komplette Nationalisierung oder Regionalisierung der Lieferkette wäre ebenso suboptimal wie risikoreich.
Entscheidend ist aber nicht rein die Regionalität. Um die Stabilität logistischer Netzwerke und unterbrechungsfreie Supply Chains zu sichern, sind flexibel strukturierte Logistiknetzwerke gefragt. Als Logistikdienstleister müssen wir reagieren, Alternativen aufzeigen und auch eigene Transportkapazitäten, zum Beispiel über Luftfracht-Charter, aufbauen.
Im Jahr 2021 sind an vielen Stellen Lieferengpässe aufgetreten – vielfach durch unterbrochene Lieferketten. Das betraf und betrifft auch Chemikalien. Wie unterstützen Sie im Bereich Dachser Chem Logistics Ihre Kunden dabei, Lieferketten aufrecht zu erhalten?
M. Kriegel: Wir agieren in dieser Situation als zuverlässiger Partner und Lösungsanbieter. Entscheidend dafür ist ein robustes und ausbalanciertes Transportnetzwerk, das auch unter den extremen Stressbedingungen der Pandemie jederzeit leistungs- und steuerungsfähig bleibt und entsprechende Transportkapazitäten aktivieren kann.
Große Mengen Chemikalien von A nach B zu transportieren, ist ein elementarer Bestandteil des Logistikgeschäfts. Hier die Frage nach Ideen und Umsetzungen, Dachser-Transporte nachhaltiger zu gestalten?
M. Kriegel: Dachser investiert dezidiert in die Forschung und Entwicklung in diesem Bereich und hat bereits einige E-Fahrzeuge im Innenstadtverkehr im Einsatz. Allerdings sind bisher nur wenige emissionsfreie schwere Lkw am Markt verfügbar, die für die Stückgutdistribution von chemischen Gütern im Hauptlauf benötigt werden.
Deshalb ist heute nach wie vor die optimale Auslastung der Transporte der größte Hebel, um die Chemielogistik klimaschonender zu gestalten. Am Ende des Tages ist nichts klimaschädlicher als Leerfahrten. Weiter stellen wir zum Beispiel unseren Fuhrpark aktuell auf sogenannte Megatrailer um. Diese haben bei gleicher Länge und Breite einen größeren Laderaum und sind somit vor allem auf der Langstrecke – Hauptlauf – wirtschaftlicher und ressourcenschonender als konventionelle Trailer.
Als Logistikdienstleister bietet Dachser die Lagerung von Chemikalien an. An die Lager werden dabei spezielle Anforderungen gestellt, die unter anderem auch einen hohen Energiebedarf nach sich ziehen. Wie geht Dachser in Zeiten, die Nachhaltigkeit zunehmend zur obersten Prämisse erheben, damit um?
M. Kriegel: Wir haben langjährige Erfahrung im Warehousing, auch in energieintensiven Branchen – und mit unserer internen Bauabteilung die Expertise im Haus, um Erweiterungen und Neubauten energiesparend zu gestalten.
Gleichzeitig setzen wir verschiedene Projekte wie die europaweite Umstellung auf Flurförderzeuge mit energiesparender Lithium-Ionen-Batterietechnologie oder den Einsatz von energiesparender LED-Beleuchtung um.
Seit 2022 beziehen wir weltweit ausschließlich regenerativ erzeugten Strom und bauen unsere Erzeugung von erneuerbaren Energien deutlich aus. Dazu investieren wir in die Erweiterung und den Neubau von Fotovoltaikanlagen auf den Dächern unserer europäischen Logistikanlagen und Bürogebäude.
In vielen Bereichen hat die Erhöhung des Digitalisierungsgrades zu einer besseren allgemeinen Performance geführt. Wo sehen Sie deren Stärken für die Logistik?
M. Kriegel: Die Digitalisierung und damit die Nutzung von „Big Data“ wird die Arbeit in der Logistik entlang der gesamten Supply Chain leichter, effizienter und weniger störanfällig machen. Allerdings sehen wir bei Dachser die besondere Stärke digitaler Technologien in erster Linie darin, die Menschen bei Entscheidungsprozessen zu unterstützen oder sie von Routinetätigkeiten zu entlasten, um damit die Motivation zu erhöhen und ihnen Raum für anspruchsvollere Aufgaben zu geben.
Weniger störanfällig werden Supply Chains, indem wir Waren- und Datenströme verbinden, und damit Transparenz und Qualität über alle Prozessschritte hinweg schaffen. Weiter nutzen wir zum Beispiel bereits heute Machine-Learning-Anwendungen für Daten aus dem operativen Tagesgeschäft, um die Eingangsmengen besser prognostizieren zu können. Zudem ersetzen wir – wo immer möglich – Papier durch digitale Prozesse, nehmen Sie beispielhaft das altbewährte Klemmbrett bei der Gefahrgut-Fahrzeugkontrolle.
Kann die zunehmende Digitalisierung in Kombination mit entsprechend ausgerüsteten Fahrzeugen am Ende auch das Problem „Fahrermangel“ lösen oder ist das doch ein bisschen zu viel Science-Fiction?
M. Kriegel: Ich war noch nie ein Freund von Science-Fiction. Logistik wird von Menschen gemacht – das wird auch noch einige Zeit so bleiben. Insbesondere gilt das für die Fahrerinnen und Fahrer, die im Straßenverkehr unterwegs und im direkten Kontakt mit unseren Kunden sind. Während sich unserer Meinung nach autonome Fahrzeuge in kontrollierten Umgebungen, wie zum Beispiel auf dem Speditionshof, in internen Werksverkehren oder auch in den Warehouses in naher Zukunft verbreiten werden, tut man mittel- und langfristig sicher gut daran, weiter in die Ausbildung und Wertschätzung der Menschen hinter dem Lkw-Lenkrad zu investieren.
Und noch ein Blick in die Zukunft: Welche Themen werden für die Chemielogistik in den kommenden Jahren von höchster Bedeutung sein?
M. Kriegel: Neben den bereits angesprochenen Themen Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Fahrermangel wird uns das Thema Resilienz der Lieferketten und der damit verbundene Netzwerkgedanke maßgeblich beschäftigen. Für viele Unternehmen sind die aktuellen Engpässe ein Weckruf. Sie wollen und müssen sich resilienter aufstellen, um ihre Lieferketten besser gegen potenzielle Gefahren zu wappnen. Höchste Bedeutung werden ebenfalls IT-Security und IT-Resilienz haben, da sichere Daten und deren Austausch die physische Lieferkette am Laufen halten.