Chemie & Life Sciences

Chemieindustrie geht in ein anspruchsvolles Jahr 2020

Verschiedene Trends halten die Branchenplayer auf Trab

20.01.2020 -

Das Jahr 2019 war ein schwieriges Jahr für die Chemieindustrie. Und auch der Ausblick auf 2020 ist kein Grund zum Aufatmen. Denn gewachsene Geschäftsfelder müssen kritisch unter die Lupe und die Restrukturierung der Organisation oben auf die Management-Agenda genommen werden. Inwiefern auch Trendthemen wie Geschäftsmodelle für die Kreislaufwirtschaft und digitale Handelsplätze die Player im neuen Jahr auf Trab halten, soll im Folgenden geklärt werden.

Die chemische Industrie tritt im neuen Jahr erneut den Beweis ihrer Signalwirkung als Frühindikator für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung an: Viele große Unternehmen haben nach der langen Boom-Phase in den Krisenmodus geschaltet. Fast alle Chemieunternehmen im DAX und MDAX kombinieren strikte Sparprogramme mit einer Reorganisation, um schlanker und schlagkräftiger aufgestellt zu sein. Einsparungen zwischen 3-10 % der Organisationskosten definieren hier die Spanne der quantitativen Ziele. Angesichts vereinzelter Ergebniseinbrüche im zweistelligen Prozentbereich gegenüber dem Vorjahr, sind diese Maßnahmen aber nicht ausreichend. Notwendig ist auch ein kritischer Blick auf die Geschäftsfelder: Was sind profitable Wachstumsfelder, die auch mit gezielten Akquisitionen gestärkt werden? Welche Bereiche gilt es im Geschäftsfeldportfolio konsequent durch Desinvestitionen zu bereinigen? Diese Aktivitäten zeigten sich bereits im ersten Halbjahr 2019, in dem das Transaktionsvolumen in der Chemieindustrie (ohne Pharma) um den Faktor drei gegenüber 2018 stieg. Dieser Trend dürfte anhalten.

Doch wie reagiert das Gros der mittelständischen Unternehmen in der Fein- und Spezialchemie auf die Krise? Eine starke Verflechtung von Geschäftsbereichen und der Supply-­Chain-Struktur machen es meist schwierig, ganze Bereiche zu schließen oder abzuspalten. Trotzdem müssen auch hier die gewachsenen Geschäftsbereiche in zukunftsfähige Gewinnbringer und margenschwache, Commodity-Geschäfte unterschieden werden. Gerade in den vielen Familienunternehmen sind diese strategischen Diskussionen zum Geschäftsfeldportfolio die Königsdisziplin. Pointierte Analytik, Vollkostenbetrachtungen und konkrete Einsparungsziele sind mit unternehmerischer Weitsicht zu verbinden. Gleichzeitig gilt es, Komfortzonen in der Organisation sowie Reibungsverluste und Blindleistungen zu beseitigen. Für viele mittelständische Unternehmen gilt in 2020: Ein ertragsorientiertes Management, und wenn nötig eine konsequente und schnelle Restrukturierung des Unternehmens, sind die Chance zur Zukunftssicherung und zur Sanierungs- und Insolvenzvermeidung gleichermaßen.
Ein weiteres Thema, das auf der Management-Agenda nach oben wandert:

Geschäftsmodelle für die Kreislaufwirtschaft
Reduce-Reuse-Recycle, NaWaRo, End-of-Life-Design, Up- & Down­cycling, Greta, … Das Buzzword-­Bingo ist im vollen Gang und jeder scheint zu gewinnen, wenn er mitmacht. Doch wenn es darum geht, tragfähige Geschäftsmodelle in der Kreislaufwirtschaft zu etablieren, wird es eng, bedeutet es doch für viele Unternehmen und ganze Wertschöpfungsketten nicht weniger als eine komplette Disruption. Gefordert sind hier vor allem Kunststoffproduzenten, aber auch Produzenten von Bauchemikalien, Farben und Lacken. Dem beherrschenden Schlagwort „Circular Economy“ auf der K-Messe in Düsseldorf und zuvor der European ­Coatings Show in 2019 folgend, sind nun unternehmerische Lösungen gefragt. Viele Unternehmen setzen dazu bei den eigenen Produkten und ihrem „Carbon Footprint“ an. Sie entwickeln bio-basierte Lösungen, nutzen nachwachsende Rohstoffe oder setzen auf chemisches Recycling zur Wiedergewinnung von Grundstoffen. So richtig die Ansätze sind, sie treffen noch nicht die Idee der Kreislaufwirtschaft, da die vor- und nachgelagerten Nutzungsstufen nicht integriert werden.

Besser machen es Unternehmen, die mit Investitionen ihre Zukunft in profitablen Wachstumsfeldern gestalten. Es gibt schon Beispiele, die eine gesamte Wertschöpfungskette integrieren: von der Wertstoffsammlung und Aufbereitung über den Wiedereinsatz in neuen Produkten und deren Rückführung in den Kreislauf zum End-of-Life. Der wesentliche Gestaltungshebel ist hier der Grad der Vernetzung. Dieser reicht von eher losen Kooperationen bis hin zu Buy-and-Build-Strategien für eine vollständige Integration in einem Unternehmensverbund.
Um im industriellen Maßstab tragfähig und skalierbar zu sein, gehen beide Ansätze weit über normale Lieferanten-Kunden-Beziehungen hinaus. So müssen neben den Wertstoffen auch die Informationen fließen. Spätestens auf diesem Weg schleicht sich auch die Digitalisierung in die Unternehmen – schließlich geht es um die Steuerung einer vernetzten Beschaffungs-, Vertriebs- und Produktionsplanung.
Damit wird deutlich: Ein Warten auf politische oder Verbandslösungen kann unternehmerische Initiativen in 2020 nicht ersetzen. Pioniere setzen Standards – die Nachfolgenden hingegen werden etablierten Spielregeln folgen müssen.

Digitale Handelsplätze – die Revolution bleibt aus
Bei all den Herausforderungen gibt es aber auch beruhigende Nachrichten für das kommende Jahr. Nach dem Flop in den Nullerjahren bleibt auch diesmal die Revolution durch Online-Handelsplätze für die Chemie­industrie aus. Das große Versprechen von liquiden, transparenten und transaktionskostenminimalen Märkten trifft auf die harte Realität von teilweise oligopolistischen Anbieterstrukturen und seit Jahrzenten gewachsenen Handelsbeziehungen. In Europa und den etablierten globalen Märkten der Chemie- und Kunststoffindustrie gilt: „Man kennt sich“. Zwar sind allein im deutschsprachigen Netz in den letzten drei Jahren sieben neue Marktplätze online gegangen, doch im Gegensatz zu Asien mit weit höherer Online-Affinität und Wettbewerbsdynamik scheint diese Zahl gering. In Gänze betrachtet finden sich für die verschiedenen Varianten von Marktplätzen, offene und geschlossene Plattformen, Matchmaker und Ausschreibungsplattformen, sowie herstellergebundene und -ungebundene eShops, bisher zwei Use-Cases.

Das erste basiert tatsächlich auf einem Kostenvorteil in der Transaktionsabwicklung. Dies gilt für weitgehend planbare Bedarfe an austauschbaren Me-Too-Rohstoffen, den klassischen Commodities. Gleiches gilt für das Kleinmengengeschäft dieser Produkte, das gerade einige der deutschen Big Player in Asien auf diese Weise etablieren. Doch gerade für mittelständische Unternehmen im Segment der Spezial- und Feinchemikalien liegt in der direkten Kundebeziehung ein entscheidender Erfolgsfaktor: Individuelle Beratung, Rezepturservice, anwendungstechnischer Support, Flexibilität, Reaktionsfähigkeit und Schnelligkeit sind das A und O. Diese Kompetenzen und Servicebausteine lassen sich nur schwer automatisieren – zumindest, bis der anwendungstechnische Support über Chatbots und Künstliche Intelligenz die Kundenbetreuung übernommen wird.

Das Use-Case von Plattformen für diese Unternehmen liegt in der Transparenz über neue und eta­blierte Marktteilnehmer; in Einzelfällen auch in der Verfügbarkeit von Vergleichspreisen. Aber selbst dann bestehen als Einkaufsbarriere meist starre Abnahmemengen und Liefer­optionen. Nichts also für Produzenten mit einer flexiblen Batchfertigung und nur wenigen Tagen Vorlaufzeit in der Produktionsplanung bis zur Frozen Zone.
Fazit für das Top-Management? Plattformen sind für den absoluten Standard hocheffizient – doch für den Spezialfall nicht geeignet. Ohne Revolution also ist die Auseinandersetzung mit Plattformen somit in die Fachfunktionen zu delegieren. Für den Vertrieb gilt es, diesen Vertriebskanal soweit sinnvoll aufzubauen und zu bedienen. Für den Einkauf ist es im Einzelfall eine Ergänzung im Lieferantennetzwerk, in jedem Fall aber eine Informationsplattform zum Beschaffungsmarkt. Ob dieser Nutzen als Auskunftei aber dem Geschäftsmodell der Plattformbetreiber und Investoren entspricht, bleibt abzuwarten.

 

ZUR PERSON

Stephan Hundertmark ist Mitglied der Geschäftsleitung bei der Dr. Wieselhuber & Partner und leitet den Bereich Chemie und Kunststoffe. Vor seinem Einstieg in das Unternehmen im Jahr 2011 war er u.a. als Projektmanager, Lehrbeauftragter und Management-Trainer tätig. Seinem Abschluss als Dipl.-Kfm. an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg folgte ein Master-Abschluss sowie die Promotion an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

 

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