Biopharmazeutika für die Medizin von Morgen
Medikamente aus Zellen: Neue Biotechnologieanlagen von Teva und Boehringer Ingelheim im süddeutschen Biotech-Cluster
Deshalb sichern sich Pharmaunternehmen bei Großprojekten gerne durch die Kompetenz branchenspezifischer auf Bau und Immobilien spezialisierte Beratungsunternehmen ab – so auch Teva in Ulm und Boehringer Ingelheim in Biberach, die beide bei aktuellen Projekten auf die Unterstützung durch Drees & Sommer bauten.
Bei Biopharmazeutika handelt es sich um komplexe Proteine oder Peptide, die mit aufwändigen biotechnologischen Verfahren in lebenden Organismen hergestellt werden. Während chemische Arzneimittel aus einer vergleichsweise einfachen Struktur bestehen und durch standardisierte Prozesse repliziert werden können, werden Biopharmazeutika in lebenden Zellkulturen oder Mikroorganismen hergestellt. Dabei befinden sich die Werkzeuge bereits in den Zellen, z.B. von Hefen oder Bakterien, doch es bedarf einer Anleitung, um den gewünschten Wirkstoff zu produzieren. Die Zellen werden hierbei gentechnisch so verändert, dass sie die gewünschten Moleküle zur Herstellung des Medikaments abgeben.
Biopharmazeutika gehören derzeit zu den am schnellsten wachsenden Arzneimittelsegmenten in der Pharmabranche. Sie eröffnen Therapiemöglichkeiten bei schweren Erkrankungen wie Krebs oder Multipler Sklerose. Die neue Biotechnologieanlage von Teva in Ulm ist speziell für die Herstellung neuer innovativer Antikörper-Medikamente ausgelegt. Im neuen Entwicklungszentrum für Biotechnologie von Boehringer Ingelheim in Biberach werden Medikamente aus Zellkulturen entwickelt, die etwa zur Behandlung von Krebs oder Immunerkrankungen eingesetzt werden.
Teva und das Projekt Genesis
Die Ratiopharm-Mutter Teva investiert am Standort Ulm rund 1 Mrd. EUR in die biotechnologische Produktion. Ab 2025 sollen im Ulmer Donautal in riesigen Bioreaktoren Biopharmazeutika produziert werden. Diese Medikamente werden bei komplexen, teils lebensbedrohlichen Erkrankungen eingesetzt, etwa zur Behandlung von Krebs- oder Tumorerkrankungen oder bei Schmerzpatienten. Das auf Bau und Immobilien spezialisierte Beratungsunternehmen Drees & Sommer unterstützt Teva während der anspruchsvollen Bau- und Inbetriebnahmephase.
Die hochmoderne Biotechnologieanlage von Teva in Ulm ist ein Meilenstein für die Medizin von Morgen und speziell für die Herstellung innovativer Antikörper-Medikamente ausgelegt. Von außen sieht das Gebäude mit dem Projektnamen „Genesis“ schon ziemlich fertig aus. Im Inneren laufen die letzten Vorbereitungsarbeiten, um die Anlagen abzunehmen und die Beschäftigten einzuarbeiten. Hier wird auch schnell klar, warum Planung und Bau so herausfordernd sind: „Die Herstellung von Biopharmazeutika ist sehr komplex und technologisch anspruchsvoll und unterscheidet sich grundsätzlich von der Herstellung pharmazeutischer Arzneimittel“, erklärt Stefan Fügenschuh, der bei Teva Deutschland die Biotechnologiesparte verantwortet. Biopharmazeutika sind biotechnologisch hergestellte Medikamente, für deren Produktion lebende Zellen oder Organismen eingesetzt werden.
In der neuen Anlage ist alles perfekt aufeinander abgestimmt, das gesamte Gebäude ist nahezu vollständig digitalisiert und automatisiert. Genesis dient damit als Vorreiter und Blaupause für die nächste Stufe der Automatisierung bei Teva. Über 26.000 Messgeräte überwachen den Betrieb aufs Genaueste, insgesamt 16 km Edelstahlleitungen und rund 300 km Kabel ziehen sich durch die acht Stockwerke.
Stefan Göstl, Associate Partner und Head of Life Sciences & Chemicals, Drees & Sommer (©Drees & Sommer / Christian Back)
„Wir setzen auf ein integriertes Projektmanagement, das Planung, Bau und Prozesstechnik als Einheit definiert.“
Einstieg im laufenden Projekt
Seit Ende 2019 unterstützen die Life-Sciences-Experten von Drees & Sommer für einen effizienten Bauablauf und managen seither eine Reihe von Herausforderungen. In einem ersten Schritt prüften die Bauexperten in einer detaillierten 360-Grad-Analyse das Projekt auf Herz und Nieren. Dafür wurden sämtliche Planungen, Prozesse und die gesamte Organisation durchleuchtet. Basierend auf dieser Analyse erarbeitete das Team Optimierungsvorschläge. „Für einen reibungslosen Bauablauf ist grundsätzlich ein klares Anforderungsprofil wichtig. Gemeinsam mit dem Bauherrn haben wir in einem ersten Schritt klare Entscheidungswege definiert und realistische Ziele vorgegeben, in welchem Zeit- und Kostenrahmen der Neubau fertiggestellt werden kann“, erklärt Jannik Grünenbaum, Projektteamleiter bei Drees & Sommer.
Dazu gehörte auch eine professionelle und transparente Organisation der Abläufe für über 1.000 Untersysteme – etwa Fassade, Feuerwehraufzug oder Blitzschutz. „Außerdem haben wir den Informationsfluss zwischen den einzelnen Gewerken hergestellt, damit diese aufeinander abgestimmt werden können. In den Hochphasen hatten wir auf der Baustelle 16 verschiedene Unternehmen, über 100 Equipment-Lieferanten und über 1.400 Mitarbeitende die koordiniert werden mussten – das geht nicht ohne transparente Planung“, so Grünenbaum weiter. Gerade während der Coronapandemie war diese Koordination besonders wichtig.
Boehringer Ingelheim baut Europas größtes Entwicklungszentrum für Biotechnologie
Ein Labor so groß wie fünf Fußballfelder und Investitionen in Höhe von 350 Mio. EUR: Boehringer Ingelheim, Deutschlands zweitgrößter Arzneimittelhersteller, hat im baden-württembergischen Biberach ein neues Entwicklungszentrum für Biotechnologie eröffnet. Drees & Sommer begleitete das Unternehmen von der Ausführungsplanung bis zur Inbetriebnahme.
Der Standort Biberach ist weltweit das größte Forschungs- und Entwicklungszentrum von Boehringer Ingelheim. Im neuen Gebäudekomplex, dem Biologicals Development Center, stellen künftig rund 500 Mitarbeitende Wirkstoffe vom Labormaßstab bis zur klinischen Studie her.
Um optimale Arbeitsbedingungen zu schaffen, setzt das Unternehmen auf ein Reinraumkonzept, das sowohl Büro- als auch Labor- und Produktionsflächen integriert. „Das Gebäude stellt dem Bereich Development Biologicals modernste Infrastruktur und flexibles Equipment zur Verfügung. Durch das Gebäudekonzept bringen wir Mitarbeitende, die Prozesse entwickeln, Wirkstoffe herstellen und die Moleküle verstehen, in einen sehr offenen Austausch. Sie werden hier zukünftig eng zusammenarbeiten und Entwicklung auf höchstem Niveau betreiben“, erklärt Ralf Schumacher, Leiter der biotechnologischen Entwicklung bei Boehringer Ingelheim.
Hohe Anforderungen an das Projektmanagement
Das Pharmaunternehmen stellte dabei hohe Anforderungen an den Neubau: „Die Qualitätsansprüche in Life-Sciences-Projekten sind enorm, der Zeitdruck bei Super-Fast-Track-Projekten extrem“, erläutert Stefan Göstl, Associate Partner und Head of Life Sciences & Chemicals bei Drees & Sommer. „Die pharmazeutischen Qualitätssicherungssysteme müssen bereits in der Planungs- und Bauphase berücksichtigt werden, ansonsten lassen sich Termin- und Kostenrahmen nicht halten. Wir setzen daher auf das sogenannte integrierte Projektmanagement, das Planung, Bau und Prozesstechnik als Einheit definiert und optimal aufeinander abstimmt.“
Bei Boehringer Ingelheim startete Drees & Sommer mit einer 360-Grad-Analyse des laufenden Projekts, um einen genauen Überblick über den Status quo zu erhalten und daraus die weiteren Schritte abzuleiten. Im Anschluss übernahm das Team diverse Leistungen im Bereich Projekt Management Office (PMO), unterstützte bei der Durchführung der Lean Systeme, beim Auftragnehmer-Management sowie der Inbetriebnahme-Unterstützung und wirkte beim Umzugsmanagement und der Steuerung des Pendenzenmanagements mit.
Stefan Fügenschuh, Site General Manager Teva Biotech (© Teva)
„Die Herstellung von Biopharmazeutika unterscheidet sich grundsätzlich von der Herstellung pharmazeutischer Arzneimittel.“
Geführte Inbetriebnahme – Qualität von Anfang an
Noch vor dem Abzug der letzten Gewerke stand die Inbetriebnahme des neuen Entwicklungszentrums an. Laut den Erfahrungswerten von Stefan Göstl ist diese letzte Phase vor dem Handover nicht nur zeitlich signifikant, sondern auch finanziell: „Die enorme Komplexität der Branche, hohe Sicherheitsstandards und die im Rahmen der Inbetriebnahme einzuhaltenden Regularien führen dazu, dass sich die Inbetriebnahme von Neuanlagen auf 8 bis 15 % der Gesamtinvestitionen beläuft. Mangelnde Kenntnisse oder falsche Entscheidungen schlagen dabei schnell sehr teuer zu Buche. Denn jede Inbetriebnahme ist anders und erfordert spezielle Kenntnisse und individuelle Lösungen.“ Die Ursache dafür liegt hauptsächlich in der Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Qualitäten, Ressourcen und nicht zuletzt der neuen Projektbeteiligten, die in dieser Phase eines Projekts mitunter erstmals einzubinden sind. Damit treffen unterschiedliche, teils divergierende Interessen sowie differierende Wissensstände und Kompetenzen von Projektbeteiligten, Nutzern und Stakeholdern aufeinander, die es zu berücksichtigen gilt.
Zentrales Project Management Office gibt Struktur
Um die Transparenz der tatsächlichen Projektstände zu erfassen, wurden ein stringentes Reporting und diverse Tracking-Tools mit einem klar strukturierten Schnittstellenmanagement implementiert. Aus gutem Grund: In der Regel greifen die Vielzahl an involvierten Firmen und deren individuell vertraglich vereinbarten Lieferumfänge nicht 1:1 ineinander. Hier ist es besonders wichtig, Lücken rechtzeitig aufzudecken und zu schließen. Ein spezielles Progress Tracking & Reporting Tool stellt den ursprünglich geplanten und den tatsächlichen Projektfortschritt gegenüber. Es fungiert als Frühwarnsystem, das es erlaubt, aufkommende Herausforderungen früh zu erkennen und aktiv zu verringern. Neben den richtigen Tools kommt es aber auch auf die Erfahrungswerte an: Jede noch so vermeintlich kleine falsche Entscheidung kann sich negativ auf das Gesamtprojekt auswirken und teure Verzögerungen oder Nachträge zur Folge haben.
Auch für die Inbetriebnahme war das PMO wesentlicher Bestandteil des Leitungsteams. Es implementierte eine maßgeschneiderte Projektstruktur, erstellte Reportings, koordinierte Kosten sowie Termine und garantierte eine vollständige Dokumentation für Boehringer Ingelheim.
Ralf Schumacher, Head of Development Biologicals, Boehringer Ingelheim (© Boehringer Ingelheim)
„Gen- und Zelltherapien sowie virale Therapeutika sind momentan in der Entwicklung oder bereits am Markt.“
Versorgung gut geplant
Die Einblicke in die Komplexität der Biopharmazeutika und der damit verbundenen Laborarbeit und Fertigungsprozesse ist faszinierend. So dient Genesis als Vorreiter und Blaupause für die nächste Stufe der Automatisierung bei Teva. In der neuen Anlage ist alles perfekt aufeinander abgestimmt, das gesamte Gebäude ist nahezu vollständig digitalisiert und automatisiert. Über 26.000 Messgeräte überwachen den Betrieb aufs Genaueste, insgesamt 16 km Edelstahlleitungen und rund 300 km Kabel ziehen sich durch die acht Stockwerke, in denen Bioreaktoren mit einem Fassungsvermögen von bis zu 15.000 l untergebracht sind.
Der zentrale Versorgungsschacht im Produktionsbereich von Genesis eröffnet die Möglichkeit, alle Geschosse unabhängig voneinander und zentral zu bedienen, egal von welcher Ebene die Versorgung stattfindet. Grundsätzlich führt die Schachtanordnung zu einem hohen Koordinationsaufwand in der Belegungsplanung sowie in der Ausführung mit sich. Bei der Verteilung in den Geschossen selbst ergibt sich auf Grund der zentralen Anordnung ein meist wiederkehrendes Grundleitungsschema. Aus baurechtlicher Sicht sind die Schnittstellen zu angrenzenden Geschossen und vertikalen Brandbekämpfungsabschnitten im Besonderen zu berücksichtigen. Die zentrale Trassenführung ermöglicht einen unabhängigen Zugang für Wartungszwecke und sonstigen Tätigkeiten mit komfortablen Breiten.
Boehringer Ingelheim besitzt eine kleine Technikzentrale in der Ebene 02 über den GMP-Reinräumen der Ebene 01, verbunden über Deckenöffnungen und eine große Technikzentrale im Dachgeschoss (E08), welche über fünf vertikale Schächte die unten angrenzenden fünf Laborebenen (E03 bis E07) versorgt. Insgesamt ist das Projekt vergleichbar mit Tevas vertikalem Zentralschacht. Der wesentliche Unterschied ist die kleinteiligere Anordnung der fünf vertikalen Schächte, die aus der Technikzentrale im Dachgeschoss die einzelnen Ebenen versorgen. Hierbei sind die Querschnitte der Versorgungskanäle/-leitungen im Vergleich zum Zentralschacht geringer, da die Versorgungsmenge aufgeteilt wird. Der Vorteil der direkt dem GMP-Bereich zugeordneten Lüftungszentrale ist, dass diese gesondert gewartet werden kann ohne die anderen Bereiche zu beeinträchtigen und umgekehrt.
Faszination Biotechnologie
Last but not least: Fasziniert hat mich die Begeisterung aller Beteiligten, die ich bei meinem von Drees & Sommer organisierten Besuch bei Teva und Boehringer Ingelheim sprechen konnte. Hochmotivierte Teams, die forschen, entwickeln, Labortests und schließlich die Fertigung planen, die interagieren und so den medizinischen Fortschritt vorantreiben. Eine tolle Perspektive, die das Potenzial hat, das Leben von Patienten auf der ganzen Welt zu verbessern und den Forschungs- und Industriestandort Deutschland zu stärken.
Autor: Volker Oestreich, CHEManager