Aus dem Reinraum auf den Teller
Immer mehr Lebensmittel entstehen mithilfe von Reinraumtechnik.
Warum sich neben Landwirten, Gärtnern und Veterinären zunehmend auch Reinraum-Ingenieure um Tiere und Pflanzen kümmern.
Wir sind umgeben von Fressfeinden. Sie haben es auf unser Essen abgesehen. Gemeint ist nicht die Wettbewerbssituation am Esstisch kinderreicher Großfamilien. Nein; es betrifft auch den Kühlschrank des Single-Haushalts, das Regal im Discounter und die Küche einer Betriebskantine. Was sich da befindet und bei uns auf dem Teller landet, das wollen nicht nur wir verzehren. Unsere Nahrungskonkurrenz ist zahlenmäßig überlegen, allgegenwärtig und allzeit bereit.
Es handelt sich um mikrobiologische Keime wie Bakterien und Pilze. Hinzu kommen größere Geschöpfe von der Laus bis zur Maus. Sie fallen, wenn man sie lässt, über alles her, was da auf Äckern wächst und gedeiht und auf Erden kreucht und fleucht. Manche dieser Fressfeinde schlagen schon auf dem Feld oder im Stall zu. Andere holen sich ihren Teil erst nach der Ernte oder Schlachtung, also irgendwo entlang der Verarbeitungs- und Lieferkette. Selbst im Handel und zu Hause fallen ihnen Lebensmittel zum Opfer, wie überfüllte Mülltonnen mit Schimmelbrot und Gammelfleisch bezeugen.
Noch leben wir im Zeitalter der Zusatzstoffe
Die Antwort der Menschheit auf diese Vergänglichkeit lautete über viele Jahrhunderte: Konservierung. Im Lauf der Küchengeschichte entwickelten findige Feinschmecker zahlreiche Methoden zu diesem Zweck, sei es Kühlung, Trocknung, Pökelung, Gärung oder Pasteurisierung. Napoleon lobte 1795 gar eine Prämie aus für den, der die für seine Armeen reservierten Speisen haltbar zu machen verstand.
Ein Pariser Konditor, Nicolas Appert, überzeugte mit der Erfindung des Einkochens: Im luftdichten Tontopf konnte er gar ein ganzes Schaf konservieren. Die bewährten Methoden gelten heute als traditionell, das heißt, als
Lebensmittel und Chemie
Im Industriezeitalter fingen die Menschen an, ihr Essen mit Mitteln der Chemie haltbar zu machen. Die freigiebige Zugabe von Konservierungsstoffen war über viele Jahrzehnte die unbestrittene erste Wahl. Ihre wichtigste Funktion ist es, den Keimen zuzusetzen, die über kurz oder lang alles Essbare auf ihre Art zersetzen. Die Gegenmittel verlangsamen diesen Abbauprozess. Im Prinzip handelt es sich um eine nachträgliche Sterilisation. Obst bspw. wird auch deshalb eifrig gespritzt, um es nach der Ernte haltbar lagern zu können. Auch sogenannte Stabilisatoren sind Konservierungsstoffe, die nur nicht so genannt werden. Der Verbraucher sagt ohnehin nur eines dazu: Chemie.
Anders als früher hat das heute einen negativen Klang. Immer mehr Produkte werden damit beworben, keine Konservierungsstoffe zu enthalten. Manche Zusatzstoffe gelten als Auslöser allergischer Reaktionen und Unverträglichkeiten. Auch die zunehmenden Intoleranzen, etwa gegenüber Gluten, Fruktose und Laktose, werden in Zusammenhang mit dem Konsum von Lebensmittelchemikalien gebracht. Das Deutsche Zusatzstoffmuseum in Hamburg hat sich der Aufklärung über die Tausenden an Aromen, Verdickungsmitteln, Emulgatoren und Additiven verschrieben, die wir alle mitessen. Die Betreiber fordern Transparenz und den verringerten Einsatz der zugefügten Mittelchen. Aus Verbrauchersicht kommen diese zu den Rückständen der rund 800 Pestizide hinzu, die im Pflanzenanbau eingesetzt werden, sei es zur Schädlingsabwehr, Unkraut- oder Pilzbekämpfung, während die Viehzucht massiv Antibiotika beisteuert. Das geschieht nicht nur aus Gesundheitsgründen, sondern früher oft auch als Masthilfe. Da kommt einiges zusammen. Die Bedenken werden noch größer, wenn diese Zusätze in besonders kleiner Dimension eingesetzt werden, nämlich als Nanopartikel. Antibakterielle Silberbeschichtungen sind zwar inzwischen seltener anzutreffen. Dass sie bei Kühlschränken und Verpackungen keinen positiven Effekt haben, stellte die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) schon vor 15 Jahren fest. In anderer Kombination kommen Nanopartikel weiter zum Einsatz. Nanopartikuläres Siliziumdioxid ist besser bekannt als „Rieselhilfe“ in Pulvern und Salz. Andere Nanopartikel zum Mitessen und -trinken verabreicht die Industrie in Form von Weißmachern (Titandioxid). Wenig erforscht, stellen die Partikel für Beschäftigte in der Lebensmittelindustrie und für Verbraucher ein Risiko dar, das sich in Organen anreichern kann.
Verbraucher und Gesetzgeber verändern die Lebensmittelbranche
Die Produktionsverfahren der Lebensmittelbranche sind ins Gerede geraten. Eine Rolle dabei spielen Lebensmittelskandale, die immer wieder ein erschreckendes Schlaglicht darauf werfen, wie manche Lebensmittel hergestellt werden. Kontrollen in den Betrieben haben amtlichen Charakter. Bei aller Kritik an der Prüffrequenz und -strenge der aufsichtführenden Behörden holt mangelnde Hygiene früher oder später jeden Hersteller ein. Die Konsequenzen sind Betriebsschließung, gar Insolvenz.
Das schlägt sich zum einen in strengeren Lebensmittelstandards nieder. Zum anderen ändert sich das Einkaufsverhalten von Verbrauchern, die höhere Qualität verlangen, also nicht allein auf den Preis achten. Dieses veränderte Marktumfeld fördert die Suche nach alternativen Produktionsmethoden. Natürlich hergestellte Biolebensmittel, die weitgehend auf Zusatzstoffe verzichten, sind nur ein kleiner Teil der Antwort. Bei industriell hergestellter Nahrung ist es der Einsatz von Reinraumtechnik, der Lebensmittelchemie überflüssig macht. Für immer mehr Produkte gibt es solche Lösungen. Einiges davon ist auf dem Weg zum Standard, wie im Folgenden gezeigt wird. Anderes hingegen hört sich sehr nach Zukunftsmusik an: Salat aus dem Reinraum (Vertical Farming), essbare Verpackungen, biologisch abbaubare Kunststoffe auf Basis von Milchproteinen, Nahrung in Pillenform. Pure Science-Fiction ist all das jedoch nicht mehr.
Lebensmittel werden von Menschen gemacht – auch in der Fabrik
Frische, haltbare Speisen benötigen eigentlich keine Konservierungsstoffe. Um diese einzusparen, ohne dass die „Regallebensdauer“ leidet, ist die Produktion umzustellen. Dabei gilt als neues oberstes Prinzip: Lebensmittel sind die ganze Zeit vor Keimen und Fremdstoffen zu schützen – im gesamten Verarbeitungsprozess von der Herstellung bis hin zum Verbraucher. Genau hier kommen die Erfahrungen der Reinraumtechniker ins Spiel. Sie haben bereits für andere Produkte Lösungen gefunden, um störende Partikel und Keime fernzuhalten.
Verglichen mit den Reinheitsgraden in Mikrochipfabriken, Operationssälen oder pharmazeutischen Herstellbereichen, stellt die Lebensmittelbranche niedrigere Anforderungen. Auch wenn es weniger streng zugeht, hängt auch hier der Erfolg an einer hohen Personaldisziplin. Das ist schon deswegen der Fall, weil der Mensch selbst als größte Keimschleuder zu betrachten ist. Unvermeidlich verbreitet er Schuppen von Haut und Haar, Staphylokokken (Hautbewohner), Entero- und E.-coli-Bakterien (Darmbewohner). Um diese Quelle in den Griff zu kriegen, sind Schulungen und Reinigungsroutinen nötig. Kaum ein Unternehmen geht dabei so weit wie einst ein großer Händler von Meeresfrüchten. Dieser testete sein überraschtes Personal per Abklatschtest im Genitalbereich, um etwas über die private Hygiene zu erfahren. Wer sich nicht wäscht, bringt schließlich mehr Keime mit als andere.
Die Beschäftigten sind auch deswegen von zentraler Bedeutung, weil sie diejenigen sind, die die Oberflächen im Lebensmittelbetrieb reinigen. Reinraumtechnische Anlagen kontrollieren vor allem das thermo- und strömungsdynamische Verhalten von Luftströmungen und können hier nur bedingt helfen. Der starke Fokus auf die Reinigungsfähigkeit ist eine Besonderheit des Sektors „Food“. Besonderes Augenmerk verdient zudem der starke Einfluss auf die Produktqualität, für welche Schwankungen von Temperatur und Luftfeuchtigkeit verantwortlich zeigen. Hinzu kommt die enorme Vielfalt möglicher Konzepte, die im Folgenden vorgestellt werden. Ohne maßgeschneiderte Lösungen gelingt nämlich nichts.
Je sauberer die Produktion, desto länger ist die Haltbarkeit
Ziel des Einsatzes von Reinraumtechnik in Lebensmittelbetrieben ist es, Essen in der Verarbeitung gar nicht erst zu kontaminieren und es anschließend sauber zu verpacken. Es geht also um den Schutz des Produkts. Grundlage für das Design der kontrollierten Produktionsbereiche sind AFMS: Approved Food Manufactoring Systems.
Technisch betrachtet gehören dazu drei grundlegende Maßnahmen:
- Personal und Produkt sind durch Barrieren – etwa Luftströmungen – voneinander zu trennen. Hier kommen meist Folienbarrieren und FFU-Filtersysteme mit Kältespirale zum Einsatz (Clean Cloud System). Das heißt, von der Decke fällt gereinigte und gekühlte Luft auf die kritischen Bereiche.
- Reinraumbereiche der ISO-Klasse 5 sind dort einzurichten, wo das Pro-dukt offen liegt. Die Klasse steht hier nicht nur für eine partikuläre Reinheit, sondern auch für eine Luftreinheit von koloniebildenden Einheiten je m³. Das sind etwa Schimmelpilze, Sporen oder Bakterien. Bei offenen Anlagen schützt eine Luftströmung das Produkt. Bei geschlossenen Anlagen wird es in einer abgetrennten Atmosphäre verarbeitet, die durch Überdruck von der Umgebung isoliert ist. Meist handelt es sich um kleinere isolierte Bereiche, sogenannte Mini-Environments. Sie haben sich in der Branche als offene Inselsysteme oder geschlossene Kabinenkonzepte bewährt und werden nach dem Reinraum-Standard “GMP“ zertifiziert.
- Innerhalb der Anlagen sind die wiederholte Reinigung und integrierte Dekontamination elementar. Wo gehobelt wird, da fallen Späne – und die sind im Fall der Lebensmittelindustrie prima Futter für Keime. Diese Wiederverkeimung muss verhindert werden, sonst verderben komplette Chargen. Zur Kontrolle stehen mit Mikrobiom-Analysen Verfahren zur Verfügung, die bislang unerreicht genaue Details über mikrobielle Belastungen in der Lebensmittelproduktion liefern. Vorherige Verfahren zielten in ihrer Erkennungsmatrix ab auf kultivierbare Keime, die jedoch nur 3 % aller Mikroorganismen ausmachen.
Joghurt und Käse
Wie das Produktionsdesign in der Praxis aussieht, hängt vom jeweiligen Lebensmittel ab. Die für Joghurt und Käse nötige Hygiene kann theoretisch jeder bei sich zu Hause herstellen. Oma weiß, wie es geht, und die Utensilien findet man in jeder Küche. Im großen Stil ist dafür aber Reinraumtechnik notwendig. Alle industriell gefertigten Milchprodukte entstammen einem Reinraum. Die Enzyme der Milchkulturen sind nämlich hochreaktiv. Wird in einem Raum Edamer und in einem anderen Camembert hergestellt, sollten sich die Käsekulturen nicht mischen. Die Bereiche sind abzutrennen, Maschinen gründlich zu reinigen. Mischen sich dort die Kulturen der für die Käseherstellung nötigen Bakterien und Pilze, beeinträchtigt das erheblich das Produkt. Die Folgen sind Stillstand, Produktionsausfall, Säuberungsaktion. Solche Kreuzkontaminationen entstehen bei einer irregeleiteten Querströmung. Partikel aus einem Prozess in der Betriebshalle finden so den Weg in einen anderen Prozess. Auch die mangelhafte Reinigung von Maschinen ist ein Grund dafür. Passende Strömungs-technik verhindert zumindest die luftgestützte Eintragung fremder Substanzen.
Brot
Die industrielle Herstellung von Brot ist anspruchsvoller, als man denkt. Das liegt – ähnlich auch bei der Wurstherstellung – an der Kaskade wechselnder Temperatur und Feuchte. Brot benötigt, nachdem es im Ofen gebacken wurde, drei verschiedene saubere Umgebungen, die jeweils andere Anforderungen stellen und entsprechend technisch umgesetzt werden. Aus dem heißen und damit keimunverdächtigen Ofen gelangt Brot zuerst in einen Kühltunnel. Dort bildet sich oft Schimmel, da dauerhaft ein feuchtes warmes Klima herrscht. Dann folgt die Schneidesektion. Wenn die Messer nicht regelmäßig gründlich gereinigt werden, gelangen bei jedem Schnitt Bakterien hinein und die Saat fürs Verderben ist gelegt.
Anschließend kommt die Brotscheiben in die Verpackungseinheit. Auch hier kann es zu mikrobiologischer Kontamination kommen.
Für diesen Prozess die richtige Abstimmung zu finden, ist eine Herausforderung, an der manche Brotfabrik scheitert.
Finden Lebensmittelkontrolleure wiederholt Schimmel und Verkrustungen an Maschinen oder gar tote Tiere, machen sie den Betrieb erst mal dicht. Beispiele dafür aus den letzten zehn Jahren sind etwa Müller-Brot aus Neufahrn oder Biendl und Weber aus der Oberpfalz. Wer streng auf Hygiene setzt und Reinraumtechnik gezielt einsetzt, vermeidet das. Auch einfache technische Lösungen bringen viel, etwa wenn Backwaren auf Fließbändern von Station zu Station transportiert werden und UV-Licht auf kostengünstige Art die nötige Keimabwehr sichert. Wo diese photodynamische Desinfektion im Einsatz ist, darf natürlich kein Mitarbeiter zugegen sein.
Eier
Lebensmittelskandale gibt es – Beispiel Bayernei – auch bei Verarbeitern von Eiern. Flüssigei wird zwar unter Reinraumbedingungen hergestellt. Das Gallert ist jedoch ein so günstiger Nährboden, dass der Kampf gegen Bakterien nie in einen echten Sieg münden kann. Eine weitgehende Konservierung ist Illusion. Ein zeitweiliger Waffenstillstand ist alles, was sich erreichen lässt. Mit anderen Worten: Lange haltbares Flüssigei wird es nicht geben.
Nicht zuletzt kommt es aufs saubere Verpacken an
Fürs Verpacken gibt es bei vielen Lebensmitteln vor allem zwei Lösungen. Entweder deaktiviert ein unschädliches Gas die anhaftenden Keime oder das Produkt wird luftleer verpackt. Im ersten Fall, dem Modified Atmosphere Packaging (MAP), wird die Verpackung mit Stickstoff, Kohlendioxid oder Sauerstoff aufgeblasen und verkauft. In ihr herrscht eine Schutzatmosphäre. Das Wirkungsprinzip solcher Packgase ist bekannt von Lageräpfeln, die in Hallen mit Stickstoff überwintern. Das Gas hält den Reifeprozess an, aber nicht völlig. Wer bspw. eine Packung Wurst öffnet, findet die Spuren dieses Abwehrkampfs in Form von Schmiere an Händen und Folie. Abwaschen ist angeraten. Sobald die luftdichte Brot-, Nudel- oder Wurstverpackung geöffnet wird, setzt der Verfallsprozess sofort ein. Einmal in Gang gekommen, bleiben die Lebensmittel nicht lange essbar.
Voraussetzung für sauberes Verpacken ist die vorherige Sterilisation der Verpackungen. Sie werden etwa durch ionisierende Gamma- oder Betastrahlen sterilisiert und nach dem Befüllen luftdicht versiegelt. Im Fall von hitzeempfindlichen Waren geht das schonend mit Ultraschallwellen. PET-Flaschen kommen schon hochrein auf die Welt, da bei hohen Temperaturen gefertigt. Hier muss nur darauf geachtet werden, dass sie bis zur Abfüllung nicht verschmutzt werden. Säfte und Mineralwasser werden in räumlich getrennten Bereichen abgefüllt. Die Abfüllstation ist ein kleines, stark kontrolliertes Mini-Environment innerhalb eines größeren, weniger streng ausgelegten Reinraums. Die Vorkehrungen sind dringend geboten. Stilles Wasser kippt nämlich um, wenn es nicht sauber in die Flaschen gefüllt und verschlossen wurde.
Sprudelwasser hingegen wird durch sein Kohlendioxid konserviert.
Fleisch und Fleischersatz
Schlachtbetriebe sind Kühlhäuser, in denen Menschen körperlich hart arbeiten. Die Arbeitsumstände sind durch die Corona-Ausbrüche wie jene bei Tönnies-Fleisch bundesweit ins Bewusstsein gelangt. Weniger bekannt ist, dass man die Arbeitsplätze der Zerleger so gestalten kann, dass nicht nur das Fleisch und die Wurst vor Keimen geschützt wird, sondern auch die Mitarbeiter. Diese besondere Philosophie zeigt die Firma Ernst Sutter in Gossau, Sankt Gallen-Winkeln, Schweiz. Auch bei der weiteren Fleischverarbeitung kommt Reinraumtechnik zum Einsatz. Da man Tiere jedoch nicht im Reinraum züchten kann, richten sich hier die Blicke eher auf alternative Formen der Proteingewinnung, besser bekannt als Fleisch aus dem Labor. Auch der Fleischersatz, zu dem Veganer greifen, ist hochgradig verarbeitet und kommt eher aus der sterilen Fabrik als vom herzhaft nach Tier riechenden Bauernhof.
Auch wenn noch viel geforscht werden muss, lässt sich als Ziel formulieren, mithilfe von Hygienemaßnahmen die Antibiotikabelastung von Nutztieren zu reduzieren. Sehr verbreitet sind Antibiotika in der Mast von Schweinen und Hühnern. Das nordrhein-westfälische Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz stellte 2011 für das Bundesland fest: 92 % der gemästeten Hühner erhielten in den wenigen Wochen ihrer Lebenszeit Antibiotika – im Durchschnitt drei, manchmal sogar acht verschiedene Wirkstoffe. Bei Schweinen ist die verabreichte Menge in den letzten Jahren in Deutschland gesunken, bei Hühnern kaum. Die Massentierhaltung auf engstem Raum bringt die Probleme mit sich, die Mäster standardmäßig mit den Medikamenten behandeln. Der häufige prophylaktische Einsatz gilt als einer der Gründe für die zunehmenden Resistenzen. Die Welternährungsorganisation FAO warnt längst vor über-mäßigem Antibiotikaeinsatz.
700.000 Menschen sterben demnach weltweit an den Folgen antibiotikaresistenter Infektionen. Eine der Ursachen ist die große Rolle, die Antibiotika in der Massentierhaltung der Schweine- und Geflügelzucht spielen.
Aquakultur ohne Antibiotika
Auch Fische, die in Aquakulturen großgezogen werden, leiden unter Stress und Platzmangel. Das macht sie anfällig für Krankheiten und Verletzungen. Geschwächt sind sie zudem, weil sie auch dort gehalten werden, wo sie in der Natur nicht leben würden. Wie andere Tiermäster haben die Aquakulturbetreiber deswegen über viele Jahre Antibiotika mit dem Futter verabreicht. Was nicht gefressen wird, sinkt zu Boden. Unter den Fischfarmen sammelt sich Fäkalienschlamm, durchtränkt mit Antibiotika. Darin lebt, außer antibiotikaresistenten Kulturen, nichts mehr.
In der Fischzucht sind in den letzten Jahren jedoch große Fortschritte erreicht worden. Anstelle von Antibiotika erhalten viele Fische Impfungen. Die Lachsfarmen in Norwegen impfen seit 1987 und 1990 gegen die zwei verbreitetsten Krankheiten Vibriose und Furunkulose. Darum hat sich die Antibiotikamenge – 1987 waren es ca. 50 t Antibiotika auf 2x10³ t Fisch, 2012 nur noch ca. 2 t Antibiotika auf 1.100x10³ t Fisch – sehr stark verringert, trotz etwa einer 85-fachen produzierten Fischmenge. Anders verhält es sich in Asien oder Lateinamerika. In Chile, zweitgrößter Lachsproduzent der Welt, kam noch vor wenigen Jahren je Tonne Fisch rund 1.500 mal mehr Antibiotika ins Futter als in Norwegen. Ganz darauf verzichten kann aber auch Marktführer Norwegen nicht. Das wäre aber möglich – mithilfe von Reinraumtechnik. Die Lösung besteht im Einsatz maßgeschneiderter, autogener Impfstoffe, die vor Ort in den Aquakulturen dosiert und gespritzt werden. Es handelt sich um ein Flüssigmedikament wie bei einer Grippeschutzimpfung. Die Verabreichung an Zehntausende im Käfig gehaltene Fische ist noch das kleinste Problem: Mit Förderbändern werden die Tiere von einem Becken ins nächste befördert und dazwischen unter Schutzumgebung maschinell gespritzt.
Schwieriger ist die Herstellung des Impfstoffs und dessen Zulassung. Das Problem: Es kann keinen einheitlichen Impfstoff für alle Züchtungen geben. Vielmehr braucht es jeweils nur kleine Mengen spezieller Substanzen für jede Aquakultur, Region und Fischart. Der Impfstoff variiert zudem mit dem Futter und der Lebensphase der wechselwarmen Tiere. Das Immunsystem von Warmwasserfischen reagiert schneller als das von Kaltwasserarten. Aufgrund der kleinen Mengen ist das kein lohnendes Geschäftsfeld für Pharmariesen. Aquakulturbetreiber müssten selbst für die Herstellung und Zulassung sorgen. Sie haben damit zwar keine Erfahrung, werden aber etwas unternehmen müssen, spätestens, wenn Umweltgesetze die Antibiotikafütterung gänzlich verbieten. Das wäre ein wichtiger Schritt zur Renaturierung der Meere.
Auf diese Zukunft bereitet sich ein langfristig angelegtes Forschungsprogramm des griechischen Staates vor. Am Hellenic Centre for Marine Research in Heraklion funktioniert das Konzept im Laborversuch. Jetzt läuft ein Feldversuch, an dem sich bis zu fünf Aquakulturen beteiligen. Das Prinzip: Nach der biochemischen Analyse ihrer Fische in kleinen Reinräumen vor Ort übermitteln Aquakulturbetreiber die Messwerte an eine Universität, die mit dem Wirkstoffrezept antwortet. Eine zulassende Behörde gibt den Impfstoff frei für die spezifische einzelne Aquakultur. Die Analyse und anschließende Dosierung des individuell angepassten Impfstoffs können wandernde Pharmakologen übernehmen, die heute hier, morgen dort ihren Dienst verrichten. Für diese spezifische küstennahe Impfstoffherstellung eignen sich stationäre oder mobile Reinräume.
Salat lokal: Gemüse wächst im Reinraum nebenan
Über den modernen Gemüseanbau ist den Verbrauchern wenig bekannt. Landläufigen Vorstellungen nach wachsen Pflanzen nur auf Äckern oder im Gewächshaus in der Erde. Doch die nutzbare Fläche für die Landwirtschaft wird kleiner. Durch Monokulturen, Einsatz von Chemikalien, Überweidung und Versiegelung geht fruchtbarer Boden verloren. Dürreperioden führen zu unterdurchschnittlichen Ernteerträgen. Die traditionelle Landwirtschaft verbraucht viel Wasser und ist außerdem für 30 % der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. Zwischen Anbau und Verzehr liegen weite Strecken, entsprechend transportintensiv ist die Logistik.
Darum hat die Suche nach Alternativen begonnen. In hochtechnisierten Gewächshäusern, wie sie in den Niederlanden zu finden sind, wachsen viele der Pflanzen gar nicht mehr im Boden, sondern auf einem Substrat oder in Nährlösung. Der künstliche Untergrund verringert den Kontakt zu Krankheitserregern und Schädlingen. Einen konsequenten Schritt weiter gehen kompakte, fensterlose Gewächshäuser, die unter dem Trend „Vertical Farming“ zusammengefasst werden. Ob Licht, Feuchte, Nährstoffzufuhr, Temperatur: Die Einrichtungen bieten eine komplett kontrollierte Umgebung und damit ideale Wachstumsbedingungen. Es gibt keine fremdbiologische Eintragung, Pestizideinsatz wird überflüssig.
Jahreszeitenunabhängig nah am Verbraucher produzierend, gibt es keine langen Anfahrtswege. Betreiber werben damit, ihre Kosten seien unterm Strich nur wenig höher als beim Freilandanbau. Der Absatz von Gewächshäusern wächst jährlich um 8 % – der von Vertical Farms gar um 30 %.
Je nach Anbautechnik unterscheidet sich das Innere von Vertical Farms:
- Hydroponics ist die älteste und verbreitetste Anbaumethode. Die Pflanzenwurzeln hängen in einer Nährlösung.
- Aeroponics kommt ohne Wasserbecken aus. Frei in der Luft hängende Wurzeln ziehen aus einem Sprühnebel Wasser und Nährstoffe. Die Pflanzen wachsen aus Samen, die in Trays gesetzt werden, das sind Behälter mit einer mineralhaltigen Knochenstruktur. Die Trays durchlaufen auf einer Art dreidimensionalem Fließband verschiedene Klima- und Lichtzonen. Auch Tag und Nacht wird simuliert. Diese Methode, an der auch die US-Raumfahrtagentur NASA forscht, lässt Pflanzen noch schneller wachsen als in Hydroponics-Kultur und verbraucht auch viel weniger Wasser.
- Aquaponics ist eine Kombination aus Gewächshaus und Aquakultur. Wurzeln hängen in einem Wasserbecken, in dem Fische schwimmen. Deren Ausscheidungen dienen als Nährstoff.
Eine Reihe von Anbietern ist in dem Markt aktiv, einige davon sind börsennotiert. Manche bauen alte Werkhallen oder Bürogebäude zu Indoor-Gewächshäusern um, andere rüsten 40-Fuß-Schiffscontainer um.
Mit dem Modul Shellbe gibt es eine weitere Option. Dieses mobile, zerlegbare Modul hat das Adriatic Institute of Technology (AIT) im italienischen Ancona mit Unterstützung von Dittel Engineering aus Schlehdorf entwickelt. Ursprünglich für den Krankenhaussektor als Labor, OP-Saal oder Krankenstation vorgesehen, kam der Erstkunde im Jahr 2020 aus der israelischen Vertical-Farming-Szene. Er will in drei mobilen Modulen, mit je etwas 40 m², verschiedenste Salate anbauen. Ob für Mensa, Kantine, Supermarkt oder Schnellrestaurant: Wo immer viel frischer Salat gebraucht wird, könnte, mit Hilfe solch eines Moduls, vor Ort produziert werden.
Keineswegs sind die Reinraum-Gewächshäuser nur aus der lokalen Perspektive sinnvoll. Gerade mit Blick auf andere Weltregionen sind sie eine echte Option. Die Golfstaaten auf der arabischen Halbinsel bspw. stellen mit der Ausnahme von Nüssen und Pistazien fast keines ihrer Lebensmittel selbst her. Weniger als 1 % der Fläche der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) ist für die landwirtschaftliche Produktion geeignet. Da verwundert es nicht, dass der Wüstenstaat mehr als 80 % seiner Lebensmittel aus dem Ausland importiert. Das soll sich ändern. Wegen falscher Ernährungsgewohnheiten und Bewegungsmangel leiden viele Golfstaatenbewohner unter Diabetes. Laut dem Atlas der International Diabetes Foundation haben in den VAE fast drei von vier Todesfällen (72 %) unter 60 Jahren einen Diabetesbezug. In Deutschland sind es nur rund 32 %. Auch das ist ein Grund, warum die Länder danach streben, vitaminhaltiges Frischgemüse selbst herzustellen. Das ist aber in ihrer Klimazone schwierig. Die Lösungen, in welche am Golf und in großen Ballungszentren (Singapur, Tokio, New York, …) massiv investiert wird, sind Vertical-Farms.
Den Vorteilen dieser Anbautechnologie stehen natürlich auch Nachteile gegenüber. Es lassen sich nicht alle Nutzpflanzen gleich gut anbauen. Fremdbestäubung lässt sich nur manuell bewerkstelligen, das heißt mit hohem Aufwand. Als größtes Hindernis gelten die hohen Energiekosten, welche sich aus der Beleuchtung ergeben, sowie die Wartungskosten. Gab es anfangs in der Szene viele Experimente und Eigenbau, gibt es inzwischen aber erste Anfänge von Standardisierung. Die Stoßrichtungen der Weiterentwicklung sind klar: mehr Automatisierung und weniger Energieverbrauch bei der Beleuchtung durch immer effizientere LED´s und Nutzung von Solarenergie.
Für die Vermarktung der Ware bleibt als Nachteil: Die Ernte gilt, da sie nicht aus Erde hervorgegangen ist, nicht als „Bio“, auch wenn sie so viel kostet wie Gemüse mit Bio-Label. Die Vorstellung, dass gesunde, unbelastete Lebensmittel nur vom Bauernhof, nicht aber aus einer hochtechnisierten Umgebung stammen können, mag sich bei vielen Verbrauchern halten. Sie ist jedoch überholt, wie die Beispiele aus der Lebensmittelbranche zeigen.
Die Idee von heiler Welt und Reinraumtechnik gehören längst zusammen.
Die technologischen Lösungen helfen uns beim schonenden Umgang mit den knappen Ressourcen unseres Planeten.
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