Auftakt der Chemie-Tarifrunde 2022 in Hessen
Standort und Beschäftigung sichern, Kostendruck durch gestiegene Energie- und Rohstoffpreise
Die Vorzeichen für die Tarifrunde 2022 waren schon vor Beginn der Gespräche alles andere als einheitlich. Während die Arbeitnehmerseite, vertreten durch die IG BCE, im Zuge der Konjunkturbelebung nach der Coronakrise 2020/21 mit ehrgeizigen Forderungen in die Verhandlungen ging, bremste der Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) die Erwartungen vehement. Der Ukraine-Konflikt mit seinen dramatischen und derzeit unabsehbaren Auswirkungen auf die Wirtschaft hat ein Übriges dazu beigetragen, die Verhandlungspositionen beider Seiten zu verhärten. Der Verhandlungstag in Wiesbaden war daher nicht überraschend geprägt von einer intensiv geführten Debatte über die wirtschaftliche Lage und die zukünftigen Herausforderungen, die angesichts des Kriegsgeschehens in der Ukraine noch größer werden könnten.
Die IGBCE Hessen-Thüringen fordert weiterhin eine Entgelterhöhung mit dem Ziel der Kaufkraftsteigerung sowie eine Erhöhung der Nachtschichtzuschläge auf 25%. Diese Forderungen lehnen die Chemiearbeitgeber als zu teuer ab. „Ich habe nach dem heutigen Tag den Eindruck gewonnen, dass die IGBCE die notwendigen Konsequenzen der stattfinden Transformation unserer Branche noch nicht ausreichend verinnerlicht hat“, betonte der Verhandlungsführer der hessischen Chemie-Arbeitgeber, Matthias Bürk (Merck).
Klimaneutrale Produktion, Digitalisierung, demografischer Wandel, Kreislaufwirtschaft und EU-Chemikalienpolitik seien Themen, die auch in Hessen Milliardeninvestitionen der Unternehmen erforderlich machen. „Gelingt uns der Umbruch nicht, stehen der Industriestandort und damit Arbeitsplätze auf dem Spiel“, erklärte Bürk.
Daher müsse die Gewerkschaft mit realistischeren Einschätzungen der Lage in die Bundesrunde gehen und den enormen Finanzierungsbedarf der Unternehmen auch im Interesse der Beschäftigten stärker in den Blick nehmen.
Der Verteilungsspielraum sei bereits vor der aktuellen Krise deutlich eingeschränkt gewesen, denn die massiv gestiegenen Energie-, Rohstoff- und Materialkosten schmälerten die Erträge.
So gaben in einer Verbandsumfrage Anfang Februar 91% der hessischen Mitgliedsunternehmen an, dass ihr Geschäft durch die sehr hohen Energiekosten stark beeinflusst wird. 90% benennen gestiegene Rohstoffkosten und 86% Lieferengpässe bei Vorprodukten als größte Belastungsfaktoren.
Die russische Invasion war zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar. Ihre wirtschaftlichen Folgen werden aber sicherlich schwerwiegend sein. „Wir müssen die Lage weiter beobachten und die wirtschaftlichen Auswirkungen im Laufe der Verhandlungen bewerten“, so Bürk.
Mit Blick auf die weiteren Tarifverhandlungen betonte der Verhandlungsführer: „Wir bewegen uns nicht im luftleeren Raum. Sich ausschließlich auf vordergründig positive Umsatzzahlen der Vergangenheit zu fokussieren, greift zu kurz. Wir müssen jetzt als Sozialpartner gemeinsam ein positives Wirtschaftsumfeld für unsere Unternehmen schaffen, damit wir auch im Interesse unserer Beschäftigten in Zukunft wettbewerbsfähig bleiben.“ Dies könne nur mit angemessenen Kosten - auch beim Faktor Arbeit - gelingen.
Die derzeitig stark verzerrte Inflation könne auf keinen Fall der Maßstab für unverhältnismäßige Sprünge in einer Hochlohnbranche wie der Chemie sein. „Die chemisch-pharmazeutische Industrie hat in der Vergangenheit durch ihre Tarifverträge die Teuerungsraten in Summe stetig übertroffen. Seit 2010 sind die Verbraucherpreise um 20% gestiegen, die Tarifentgelte aber um 30%. So können wir jetzt nicht mehr weitermachen“, sagte Bürk.
In den nächsten Tagen folgen weitere regionale Runden in den anderen Tarifbezirken, bevor am 21. und 22. März 2022 auf Bundesebene in Hannover weiterverhandelt wird.