Digitalisierung bei Linde: Unsere Daten sind ein gewaltiger Schatz
Digital Base Camp als Wegbereiter für die digitale Transformation im Linde-Konzern
Über viele Jahre arbeitete Philipp Karmires in verschiedenen Positionen bei Google. Jetzt soll der Wirtschaftsingenieur den Linde-Konzern in seiner Funktion als Leiter Digitalisierung in die digitale Zukunft führen. Im CHEManager-Interview erläutert er, wie sich die Methoden von Google, Facebook und Amazon für das Geschäft mit Gasen und Industrieanlagen nutzen lassen – und wie man einem Traditionsunternehmen Start-up-Geschwindigkeit beibringt.
CHEManager: Herr Karmires, Google gehört zu den wichtigsten globalen Treibern der Digitalisierung und wird immer wieder zu einem der beliebtesten Arbeitgeber gewählt. Was hat sie daran gereizt, von dort zum Traditionskonzern Linde zu wechseln?
P. Karmires: Ich fand an Linde zwei Dinge spannend: Es gibt hier ein tolles, funktionierendes Geschäftsmodell. Und Linde wurde noch nicht von der digitalen Panik erfasst, die etwa in großen Teilen des Medienbusiness und Teilen der Finanzbranche herrscht. Die sogenannte disruptive Welle hat die Gas- und Anlagenbranche noch nicht erreicht. Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt für die digitale Transformation bei Linde. Es gibt hier ein riesiges Potenzial, um das Unternehmen voranzubringen.
Was wollen Sie konkret erreichen?
P. Karmires: Wir konzentrieren uns auf drei Bereiche: Erstens wollen wir die Vielzahl unserer vorhandenen Daten kreativ und wertstiftend nutzen, um unsere Arbeitsweise zu verbessern und neue Geschäftsfelder zu erschließen. Das betrifft Logistik, Betrieb, Produktion und Kundeninteraktion. Zweitens schaffen wir einfach und intuitive zu nutzende Services für unsere Kunden. Und drittens geht es darum, jeden Gaszylinder, jeden Liefer-Lkw und jedes Anlagenmodul zu vernetzen.
Welche Rolle spielt dabei Ihr Digitalisierungsteam im Unternehmen?
P. Karmires: Im Englischen gibt es für unsere Rolle den Begriff Enabler. Wir sind so etwas wie Wegbereiter, die Mitarbeitern im gesamten Unternehmen dabei helfen, aus Ideen neue Produkte und Dienstleistungen zu machen oder Prozesse effizienter zu gestalten. Bei der digitalen Transformation geht es nicht nur um Technik, sondern vor allem um eine veränderte Innovationskultur...
... die Sie von Google, Facebook und Amazon kopieren?
P. Karmires: Von denen können wir eine Menge lernen – zum Beispiel Agilität. Man liest ja regelmäßig, dass diese Firmen Projekte ankündigen und sich so neue Märkte erobern. Wer schnell viel ausprobiert, steigert die Wahrscheinlichkeit für Treffer. Diese Methode haben wir auch bei Linde eingeführt. Seit ich im März 2016 ins Unternehmen kam, haben wir 40 neue Projekte abgeschlossen.
Das klingt nach einer Geschwindigkeitsrevolution für einen klassischen Technologiekonzern – und nach Gefahr, sich gehörig zu verzetteln.
P. Karmires: Deshalb haben wir klare und harte Regeln für diesen sogenannten Accelerator-Prozess vorgegeben. Regel Nummer eins lautet: Jede Projektidee kommt aus dem operativen Geschäft zu uns und braucht einen Verantwortlichen dort. Das Projekt muss mindestens eine Million Euro Ergebnis- oder Einsparpotenzial bieten. So stellen wir sicher, dass wir nur Ideen verfolgen, die wirklich relevant fürs Geschäft sind. Regel Nummer zwei legt fest: In drei Monaten muss aus der Idee ein Prototyp entstehen. Dafür stellen wir ein überschaubares, festes Seed-Budget zur Verfügung und kooperieren mit externen Start-up-Unternehmen. Nach dieser Zeitspanne schauen wir uns das Ergebnis an. Nur was funktioniert und vielversprechend erscheint, übergeben wir an die Digitalisierungsexperten der Geschäftsbereiche und Regionalgesellschaften, die daraus Produkte und Dienstleistungen entwickeln.
Wieviel Geld investiert Linde in die digitale Transformation?
P. Karmires: Das lässt sich nicht trennscharf beziffern, weil Digitalisierung schon seit Jahren ein Thema im Konzern ist. Für die aktuellen Bemühungen ist ein zweistelliger Millionen-Euro-Betrag realistisch.
Die Büroflächen ihres Teams heißen Digital Base Camp. Was hat es damit auf sich?
P. Karmires: Wir haben den Begriff des Basislagers gewählt, weil dort zwar der Ausgangspunkt unserer Aktivitäten liegt, wir aber eine nach allen Seiten offene Arbeitsstruktur pflegen. Mitarbeiter aus dem gesamten Unternehmen arbeiten für Wochen oder Monate im Digital Base Camp, um „ihr“ Projekt gemeinsam mit uns voranzubringen. Umgekehrt gehen unsere Experten in die Abteilungen. Diese enge Verzahnung von Mitarbeitern aus dem Business und dem Digitalisierungsteam ist ganz wesentlich für unsere Strategie. Deshalb haben wir das Digital Base Camp übrigens auch nicht in einem schicken Loft in München-Schwabing oder Berlin-Kreuzberg angesiedelt. Wir arbeiten im Herzen des Firmenstandorts Pullach im Bürogebäude 1, das in den 1950er Jahren errichtet wurde.
Wie viele Mitarbeiter gehören zu Ihrem Team?
P. Karmires: Wir sind aktuell 14 Spezialisten aus unterschiedlichen Fachrichtungen im Accelerator-Team – inklusive der Mitarbeiter in unserem zweiten Digital Base Camp in Singapur. Das dortige Büro haben wir erst diesen Herbst eröffnet, um für Kundenanforderungen im asiatischen Markt Lösungen entwickeln zu können. Darüber hinaus gibt es Digitalisierungsexperten in den Geschäftsbereichen und Regionen, die von uns entwickelte Prototypen bis zur Anwendung weiterführen. Ergänzt wird das Team stets durch externe Talente und Partner.
Aus wie vielen Projekten sind bislang erfolgreiche Produkte geworden – und worum geht es dabei?
P. Karmires: Sechs Produkte und Dienstleistungen setzt das Business bereits ein. Weitere sieben befinden sich in einer Pilotphase, sie werden also im Tagesgeschäft erprobt. Zum Beispiel nutzen wir CAD-Daten, um damit virtuelle Kopien von Industrieanlagen herzustellen. Ausgestattet mit einer Virtual-Reality-Brille kann technisches Personal die Anlage begehen und für ihren Betrieb geschult werden – lange bevor sie fertig gestellt ist. Das System ist derzeit bei einem Kunden von Linde Engineering im Einsatz.
In Großbritannien prognostizieren wir mit Hilfe von künstlicher Intelligenz, welche Gasflaschen Kunden aktuell benötigen. Dadurch entfallen dort pro Jahr unnötige Transporte von etwa 75.000 Zylindern.
Und noch ein drittes Beispiel: Mit Smart Glasses und Augmented Reality leiten Linde-Spezialisten aus der Ferne Fachpersonal vor Ort bei Montage, Reparaturen und Störfällen in Anlagen an.
Entstand auch der Marktplatz für Ersatzteile, den Sie vor wenigen Wochen gestartet haben, aus einem Ihrer Projekte?
P. Karmires: Ja, das Linde Plantserv Portal bietet einen völlig neuen Service: Betreiber können nun den Plan ihrer Anlage im Web-Browser aufrufen und bei Ausfall eines Bauteils auf die entsprechende Stelle klicken. Linde nennt drei Händler, die ein Ersatzteil anbieten und holt Preisangebote ein. Kunden können dann direkt bestellen.
Ihr Portal funktioniert also wie der Amazon Marketplace – und Linde fungiert als Makler?
P. Karmires: Das ist tatsächlich vergleichbar. Wir gehen davon aus, dass es für Anlagenbetreiber keinen schnelleren, sichereren und preisgünstigeren Weg gibt, an ein Ersatzteil zu kommen. Wir garantieren durch unser Ingenieur- und Prozess-Know-How, dass die Bestellung passt. Das ist bei der Komplexität von Anlagen keine Selbstverständlichkeit.
Wie gut ist Linde im Vergleich zu anderen Industrieunternehmen für die digitale Transformation gerüstet?
P. Karmires: Solche Vergleiche sind für uns kein Kriterium. Wir wissen, dass wir uns verändern müssen. Dabei profitieren wir von einer gewaltigen Datenmenge, die auf unseren Servern lagert. Andere Unternehmen beginnen jetzt erst, Daten zu sammeln. Bei Linde messen hunderte Sensoren in jeder unserer Industrieanlagen schon seit vielen Jahren den Zustand von Bauteilen. Im Gasegeschäft verfügen wir über detaillierte Logistik- und Vertriebsinformationen. Daraus entwickeln wir neue Produkte. Unsere Daten sind ein gewaltiger Schatz, den wir jetzt heben.