Reklamation in der Lieferkette im Pharmasektor
Fraunhofer IML: Administrative Wertstromanalyse ist effizient beim Reklamationsmanagement
Effektive administrative Prozesse sind für Organisationen und ihre Kunden von großem Wert. Um diesen Wert zu identifizieren, hat das Lean Team des Fraunhofer-Instituts für Materialfluss und Logistik IML ein Vorgehen entwickelt, Prozesse in der Administration aufzunehmen, Verschwendungen zu erkennen und einen effizienten Sollprozess zu entwickeln. Hierfür wurde die in operativen Bereichen bewährte Wertstromanalyse für die Anwendung in der Administration erweitert. Mit dieser Methode, die nutzbringende Aspekte gängiger Prozessanalysetools vereint, konnte in Kooperation mit einem großen Pharmaunternehmen die Durchlaufzeit der Reklamationsprozesse um mehrere Stunden gesenkt und der Wertschöpfungsanteil signifikant gesteigert werden.
Ein wirksamer Prozess zur Behandlung von Reklamationen bringt Organisationen und ihren Kunden einen enormen Nutzen. Dieser Nutzen ist nicht direkt ersichtlich, der Blick auf den Prozess und dessen Schnittstellen lohnt sich allerdings doch. Aus diesem Grund wurde bei dem Projekt im ersten Schritt die Wertschöpfung einer Reklamationsbearbeitung aus der Sicht des internen und externen Kunden definiert.
Reklamationsmanagement als Wettbewerbsvorteil
Zunächst galt es herauszufinden, was Wertschöpfung genau bedeutet. Dies war die erste Hürde, denn die Antwort darauf liegt in der subjektiven Wahrnehmung eines jeden Menschen, besser gesagt „Kunden“. Im Lean Thinking Ansatz werden wertschöpfende Tätigkeiten indes als all diejenigen bezeichnet, für die der Kunde bereit ist zu bezahlen. Und obwohl relativ viel Phantasie benötigt wird, um sich vorzustellen, dass ein Kunde bereit ist, für eine Reklamation zu bezahlen, können wir dieses Verhalten auch bei uns selbst erkennen. Wer kennt es nicht, bei der Auswahl eines günstigen Küchengeräts doch lieber auf einen vertrauten Händler zu setzen, bei dem die Reklamation letztes Mal perfekt gelaufen ist?
In der Pharmaindustrie ist dieser Kundennutzen von noch höherer Bedeutung, weil hier der Mensch und seine Gesundheit im Mittelpunkt stehen. Deshalb hat sich B.Braun Melsungen, als einer der führendenden deutschen Anbieter für Medizintechnik- und Pharmaprodukte sowie Dienstleistungen dem Thema Reklamationsmanagement und seiner kontinuierlichen Verbesserung verpflichtet. Mit den Lean Experten des Fraunhofer-Instituts für Materialfluss und Logistik haben sie den Wertschöpfungsanteil ihrer Prozesse detailliert analysiert und optimiert.
Ermittlung des Kundenbedarfs und Spezifikation der Wertschöpfung
Bei der administrativen Wertstromanalyse wird der Kundenbedarf durch den Kundentakt ausgedrückt. Produziert ein Prozess schneller oder langsamer als dieser, sind Verschwendungen in Form von Wartezeiten, Beständen oder Leerläufen die Folge. Kundentakt und die Ausrichtung der Prozesse spielen im Lean Management eine zentrale Rolle.
Um die Potenziale eines administrativen Prozesses zu identifizieren, bedarf es zunächst einer genauen Vorstellung darüber, was Wertschöpfung in diesem Zusammenhang überhaupt bedeutet. Der „externe“ Kunde – der Endkunde – erwartet in erster Linie, dass die Vorgehensweise zur Meldung und Bearbeitung seiner Reklamation nachvollziehbar und zugänglich ist. Relevante Informationen müssen stets öffentlich verfügbar und für jedermann verständlich sein. Außerdem soll das Unternehmen, an das reklamiert wird, Reaktionsbereitschaft zeigen und den Eingang der Beschwerden bestätigen. Von essenzieller Bedeutung ist überdies eine gerechte, objektive und unvoreingenommene Reklamationsbearbeitung, Vertraulichkeit und die schnelle Nachbesserung des eingetretenen, unerwünschten Zustands.
Auch aus der Sicht der „internen“ Kunden – im Unternehmen sind dies voneinander abhängige, organisatorische Einheiten – gilt es, ein effizientes Beschwerdemanagement anzustreben. Hierzu sollen sich Organisationen zur Kundenorientierung verpflichten. Die Erkennung von Optimierungspotenzialen spiegelt sich schließlich in reduzierten Durchlaufzeiten, erhöhter Qualität sowie insgesamt gesenkten Prozesskosten wider. Organisationen, die aktiv nach Fehlern in ihren administrativen Prozessen suchen und Abstellmaßnamen planen, können ihren Kunden damit einen großen Wert anbieten und den Wettbewerbern eine Nasenlänge voraus sein.
Der Fokus auf das Pull-Prinzip sollte auch in administrativen Prozessen im Vordergrund stehen, um Bestände in Form anstehender Tätigkeiten zu reduzieren und um möglichst selbststeuernde, interne Prozesse zu erzeugen. Dies trägt insgesamt zur Fähigkeit der Unternehmen bei, flexibel auf Kundenwünsche zu reagieren.
Prozessaufnahme
Im Verlauf der Prozessaufnahme bei B.Braun Melsungen wurden zunächst die wesentlichen, zu untersuchenden Wertströme in der Reklamationsbearbeitung erfasst. Es hat sich herausgestellt, dass die mengenmäßige Unterlieferung mit einem Anteil von knapp 60% an den gesamten Claims die Standradreklamation ist und somit die größten Optimierungspotentiale mitbringt. Sie wurde deshalb bei der Analyse vorrangig betrachtet.
Im Nachgang wurden auch die restlichen Beschwerdeprozesse inklusive der sie verursachenden Fehler ausgewertet und optimiert. Der Erfolg der administrativen Wertstromanalyse hing hierbei zum Großteil von den an dem Prozess beteiligten Mitarbeitern ab. Mithilfe der fachlichen Expertise und der Methodenkompetenz der Lean Experten des Fraunhofer IML konnten die Prozesszeiten und Ressourcen quantifiziert sowie Schnittstellen und Prozessverzweigungen als Informations- und Materialflüsse visualisiert werden.
Ableitung von Verbesserungspotenzialen
Mit der Methode der administrativen Wertstromanalyse wurde insgesamt eine Durchlaufzeit von 8,5 Std. von der Einstellung der Reklamation bis zur statistischen Erfassung gemessen. Die Verschwendungen im Ist-Prozess ließen sich v.a. auf Rückfragen wegen unzureichender Reklamationsbeschreibungen und den damit verbundenen Wartezeiten auf die jeweiligen Antworten als auch Wartezeiten im Rahmen der internen Ursachenanalyse zur Durchführung des corrective and preventive activity-Prozesses zurückführen.
Das Ergebnis der Wertstromaufnahme war eindeutig: Die „wertschöpfende“ Prozesszeit macht mit 32 Min. nur 7% aus. Und obwohl solche Werte in administrativen Bereichen nicht unüblich sind, war diese Erkenntnis für die Mitarbeiter des logistischen Kundenservice sowie für die Entscheidungsträger ein großer Motivationsschub in Sachen Prozessverbesserung und -standardisierung. Mehrere Schwachstellen wurden identifiziert und deren Ursachen sowie mögliche Auswirkungen analysiert.
Die Ergebnisse der Analyse zeigten, dass es einer Restrukturierung in der Bearbeitung durch den logistischen Kundenservice bedarf. Die Ausrichtung auf das Pull-Prinzip stand dabei im Fokus. Des Weiteren sollten einzelne Prozessschritte – manuelle Berechnungen in SAP und in Excel – automatisiert sowie allgemeine Standards für die Reklamationseinstellung geschaffen werden. Auch Medienbrüche und dadurch verursachte lange Bearbeitungszeiten galt es zu verkürzen. Hier war das langfristige Ziel, die Anzahl der verwendeten Tools für die Reklamationsbearbeitung zu reduzieren.
Alles in allem konnte durch die Anwendung der administrativen Wertstromanalyse ein eindeutiger Soll-Status definiert werden: Steigerung des Wertschöpfungsanteils um 20% und Senkung der Durchlaufzeit um 6,5 Std. Noch wichtiger als die gewonnene Prozesseffizienz war für alle Projektteilnehmer die erlangte Erkenntnis, wieviel Potential in der Administration wirklich steckt. Effizientes und effektives Reklamationsmanagement ist ein weiterer Schritt in die richtige Richtung des administrativen Lean Weges bei B.Braun.