Indiens Chemieindustrie auf Wachstumskurs
Rosige Zeiten
Die chemische Industrie in Indien blickt in eine rosige Zukunft. Während sich viele europäische Chemieunternehmen in den vergangenen Jahren eher an China orientiert haben, wächst die Bedeutung Indiens für die Chemie in den kommenden Jahren rasant. Indikatoren wie der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sowie die anhaltende Verlagerung von Kundenwertschöpfung nach Indien ermöglichen nachhaltiges Wachstum. Das BIP Indiens ist in den letzten Jahren stetig gestiegen und wird es weiter tun. Prognosen zufolge weltweit vom derzeit 10. auf den dritten Platz bis zum Jahr 2030 hinter den USA und China.
Welches Potential Indien für Chemieunternehmen zum Beispiel als Absatzmarkt oder Initiator zukünftiger Innovationen birgt, zeigt sich im Bereich Automobil am Beispiel des „One-Lakh-Car" der Firma Tata. Der soeben der Weltöffentlichkeit vorgestellte Tata Nano, so der Name des neuen Modells, erschließt nicht nur für Tata neue Absatzmärkte, sondern stellt auch Chemieunternehmen zukünftig vor die Herausforderung, passende Chemikalien für unterschiedlichste, teilweise bisher nicht adressierte Markt- und Kundensegmente zu liefern.
So zielt der Nano auf das weltweit zahlenmäßig größte Segment der Kunden mit geringem Einkommen ab, das in Indien mehr als 400 Mio. Einwohner umfasst. Diese Kundengruppe erhalten mit dem Überschreiten eines kaufkraftbereinigten Jahreseinkommens von etwa 2.500 US-$ erstmals als Konsumenten von chemischen Produkten relevante Bedeutung. Mit einem Preis von 1 Lakh oder 100.000 Rupien, was in etwa 2.200 US-$ entspricht, ist der Tata Nano das erste Auto, das für dieses Kundensegment erschwinglich ist. Bis 2015 soll dieses Segment auf nahezu 620 Mio. potentielle Kunden anwachsen. Entsprechend plant Tata, alleine in diesem Jahr - dem Jahr der Markteinführung - bereits 300.000 Autos abzusetzen.
Aber nicht nur die Automobilindustrie ist ein wichtiger Treiber des Wachstums für die indische Chemie. Neben den klassischen Kundenindustrien wie Textil und Landwirtschaft wachsen vor allem Industrien wie Pharma oder Verpackung Jahr für Jahr mit zweistelligen Wachstumsraten. Die Auswirkungen auf die Chemieindustrie sind enorm. Heute trägt Indiens Chemieindustrie etwa 13% der Produktionsleistung im Fertigungssektor und rund 6% zum BIP bei. Dabei machen Chemieprodukte nahezu 13% von Indiens Exporten aus, etwa 8% entfallen auf Importe. Die sich ändernden Kundenanforderungen forcieren weiteres Wachstum. So ist beispielsweise die Automobilindustrie ein wesentlicher Treiber bei der Nachfrage nach Kunststoffen, Harzen oder hoch entwickelten Farbprodukten und Lacken. Neueste Wachstumsprognosen zeigen, dass die Nachfrage nach chemischen Produkten in Indien 2007 bis 2008 um 10 bis 15% steigt, eine Abschwächung ist vorerst nicht zu erwarten.
Zudem wird erwartet, dass sich der Umsatz der chemischen Industrie in Indien mit den Segmenten Petro- und Basischemie sowie Fein- und Spezialchemie bis 2010 auf mehr als 100 Mrd. US-$ verdoppelt. Die indische Chemieindustrie hat damit die Verfolgungsjagd aufgenommen und wird in absehbarer Zeit zu reifen Märkten wie etwa dem deutschen aufschließen. Zum Vergleich: Die chemische Industrie in Deutschland erzielte im Jahr 2006 bei einem Wachstum von 6,1% einen Umsatz von 211 Mrd. US-$.
Hinzu kommt, dass mit steigender Kaufkraft der indischen Mittelschicht der Inlandskonsum an Bedeutung gewinnt. Anbieter müssen daher in zunehmendem Maße Produkte maßschneidern und auf lokale Anforderungen eingehen. Die steigende Nachfrage nach Autos, Textilien, Wohnungen oder Kosmetik hat auch spezifische Anforderungen an Chemieprodukte zur Folge. Der Tata Nano ist hier nur ein prominentes Beispiel.
Internationale Chemieunternehmen können ihre Verkaufsargumente wie etwa eine konstant hohe Qualität, die spezifische Adressierung von Kundenanforderungen, eine hohe Kundenorientierung und die Verfügbarkeit von technischem Service zunehmend wirksam einsetzen. Logistik sowie eine technisch versierte Vertriebsmannschaft werden zum Erfolgs- und Differenzierungsfaktor.
Das Outsourcing der Produktion von Zwischenprodukten und chemischen Wirkstoffen zu indischen Vertragsherstellern ist bereits seit einigen Jahren gelebte Praxis in der Agrochemie, der Feinchemie sowie der pharmazeutischen Industrie. Führende indische Firmen wie Jubilant, Hikal, Shasun, Dr. Reddys und Nicholas Piramal profitieren von im Vergleich zu ihren europäischen und nordamerikanischen Wettbewerbern niedrigen Kosten insbesondere in personalintensiven Segmenten der Chemieproduktion. So liegen zum Beispiel Löhne und Gehälter für indische Chemiker bei etwa einem Fünftel im Vergleich zu den USA und Europa.Indien ist zu einem der attraktivsten Knotenpunkte für die wertschöpfende Chemieproduktion aufgestiegen. Führende indische Firmen haben mittlerweile auch damit begonnen, Anlagen in Europa und in den USA zu kaufen, um Zugang zu neuen Produktionstechnologien, Patenten und den Exportmärkten zu erhalten.
Doch die Branche sieht sich auch wachsenden Herausforderungen gegenüber: Preisreduzierungen für die meisten Chemikalien von bis zu 12% und eine stärkere globale Vernetzung der indischen Industrie fördern Importe und setzen die Hersteller unter Druck. Hohe Energie- und Finanzierungskosten, der notwendige Import von zunehmend teureren Rohstoffen sowie unzureichende Fertigungskapazitäten verstärken das Problem. Auch Investitionshindernisse wurden nur zum Teil gelöst. So stellte die teilweise unterentwickelte Infrastruktur des Landes - bei vergleichsweise großen räumlichen Entfernungen - in der Vergangenheit für ausländische Unternehmen häufig einen Grund dar, von Investitionen in Indien abzusehen.
Regierung schafft Rahmenbedingungen
Mit der im September 2007 verabschiedeten „National Policy on Petrochemicals" hat die indische Regierung zudem die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen, die heimische Chemieindustrie zu stärken. So werden Investitionen in Anlagen der Petro- und Basischemie in neuen Sonderzonen gezielt gefördert. Wesentliche Ziele dabei sind, von der steigenden Nachfrage nach Polymeren in Asien zu profitieren sowie die Qualität der Infrastruktur zu verbessern, um eine erhöhte chemische Wertschöpfung sicher zu stellen sowie die Basis für zunehmende Exporte zu verbessern. Das Programm soll zudem die Inlandsnachfrage nach Chemikalien, insbesondere den Verbrauch von Kunststoffen und synthetischen Fasern ankurbeln.
Im Zeitraum von 1990 bis 2006 ist der indische Pro-Kopf-Verbrauch an Polymeren um durchschnittlich 10% pro Jahr auf etwa 5 kg pro Kopf gestiegen. Dieser Trend wird sich weiter fortsetzen und birgt großes Wachstumspotential, da der aktuelle weltweite Durchschnitt bei einem Pro-Kopf-Verbrauch von etwa 25 kg liegt. Zum Aufbau neuer Produktionsanlagen im Bereich Chemie und Pharmazie bzw. zum Ausbau der vorhandenen Kapazitäten sind bis 2015 bis zu 75 Mrd. US-$ an Investitionen geplant. Der Löwenanteil soll dabei in den Aufbau von Chemieparks mit Weltmaßstab fließen.
Bereits im Jahr 2005 fiel mit der Einführung dieser Chemieparks, der sog. „Mega-Chemical Industrial Estates", der Startschuss für das Förderprogramm der Chemieindustrie. Im Jahr 2006 in "Petroleum, Chemicals and Petrochemicals Investment Regions" (PCPIR) umbenannt, sollen diese über eine Größe von bis zu 250 km2 verfügen und petrochemische und chemische Güter für den Export und den nationalen Verbrauch herstellen. Zum Vergleich: Der größte Verbundstandort Europas, das BASF-Werk in Ludwigshafen, umfasst ein Gebiet von etwa 11,2 km2.
Schätzungen des indischen Ministeriums für Petroleum und Gas gehen heute von einer Expansion der indischen Kapazität in der Mineralölraffination bis zum Jahr 2012 um mehr als 50% aus, d.h. von derzeit etwa 135 auf etwa 225 Mio. t Jahreskapazität, zur besseren Erzielung von Synergien entlang der chemischen Wertschöpfungskette sollen PCPIRs idealerweise in räumlicher Nähe dieser Raffinerien entstehen. PCPIRs sind unter anderem in den Bundesstaaten Gujarat, mit derzeit über 50% der chemischen Produktion der führende Staat, in Karnataka, Orissa, Kerala, Andhra Pradesh sowie in Westbengal geplant.
Um die Attraktivität dieser Regionen weiter auszubauen, plant die Zentralregierung die externe Infrastruktur wie Straßen, Schienen und Telekommunikation durch öffentlich-private Partnerschaften sicherzustellen. Dies gilt für die Bereitstellung der gesamten physischen Infrastruktur und die Anbindung an die Energie-, Wasser- und Abwasser sowie für die Bereiche Gesundheit, Sicherheit und Umwelt.
Vorbild China
Vorbild für die Entwicklung und den Ausbau der indischen Chemieregionen sind die chinesischen Chemieparks, die in der Regel ebenfalls Mineralölraffination sowie die nachgelagerte petro- und basischemische Veredelung in unmittelbarer Nachbarschaft ansiedeln. Sie gelten als Erfolgsmodelle für die Gewinnung von Auslandsinvestitionen und die Förderung von Industrien im Bereich der Dienstleistung und Hochtechnologie. Ziel ist es nach diesem Vorbild auch in Indien, insbesondere den Bereich Forschung und Entwicklung (F&E) zu stärken, indem übergreifende Synergien zwischen den Produktionsstätten im Chemiepark durch die gezielte Ansiedlung von Universitäten, privaten Forschungs- und Entwicklungsinstituten, mittelständischer Unternehmen und Start-ups erzielt werden.
Der Shanghai Chemical Industry Park ist einer der prominentesten Beispiele: Angesiedelt ist dieser auf einem 60 km2 großen Areal an der Nordküste der Hangzhou-Bucht, rund 50 km vom Zentrum Shanghais entfernt. In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich eine Raffinerie mit einer jährlichen Ethylencracker-Kapazität von 900.000 t, die mit einer Investition in Höhe von 2,7 Mrd. US-$ vom führenden chinesischen Chemiekonzern Sinopec und der britischen BP finanziert wurde. Aufgrund dieser optimalen Standortfaktoren ist es gelungen, in diesem Park weitere internationale Investoren wie BASF, Bayer, Huntsman, Air Liquide, Mitsubishi Chemicals anzuziehen.
Ein weiterer Meilenstein auf dem Weg Chinas, die Abhängigkeit von Importen zu verringern, ist der Nanjing Chemical Industry Park, der seit dem Jahr 2001 um das BASF-YPC-Werk angesiedelt wurde und bis heute über 70 internationale Chemieunternehmen gewinnen konnte. Aufgrund der Subventionsregelungen der Behörden in den Regionen und Provinzen konnten diese Parks beträchtliche Investitionen mobilisieren. Diese Beispiele zeigen, welche Investitions- und Wachstumschancen sich auch für die neuen indischen PCPIR ergeben, wenn sie dem chinesischen Vorbild folgen.
Fazit
Indiens chemische Industrie folgt mit einiger zeitlichen Verspätung der dynamischen Entwicklung Chinas. Dennoch zeigen sich entlang der verschiedenen Segmente der chemischen Wertschöpfungskette einige Besonderheiten: Während China sukzessive seine Chemieindustrie durch schrittweise Erschließung der nachgelagerten Wertschöpfungsstufen erschließt, versucht Indien bereits bestehende Stärken im Bereich der endkundennahen chemischen Produktion, also im Bereich Agro- und Feinchemie beziehungsweise der Herstellung von Pharmawirkstoffen, schrittweise um die bisher weniger ausgeprägten vorgelagerten Schritte, also Raffination sowie Petro- und Basischemie zu ergänzen.
Hierbei nutzt man gezielt die Erfahrungen Chinas bei der Etablierung und Erschließung integrierter Chemieparks im Weltmaßstab. Als zusätzlichen wichtigen Erfolgsfaktor versucht man gezielt, Synergien auch über die Schaffung wissensintensiver Produktionsnetzwerke zu erzielen. Hierbei kommt Indien aufgrund des großen Ressourcenpools an begabten Technikern und Chemikern, der niedrigen Kostenbasis und des bereits etablierten Endkundenzugangs in ausgewählten Industrien ein entscheidender Wertbewerbsvorteil zugute. Es ist davon auszugehen, dass die indische Chemieindustrie weiter rasant wachsen wird und schnell den Abstand zu China aber auch Standorten wie den USA oder Europa verringern wird.
Für europäische Chemieunternehmen stellt Indien mehr als nur einen interessanten Absatzmarkt für chemische Produkte dar. Indiens Bedeutung als schnell wachsendes Reservoir an jungen und gebildeten Nachwuchskräften wächst. Während China bis zum Jahr 2025 aufgrund einer zunehmenden Überalterung der Bevölkerung zunehmend an die Grenzen des eigenen Wachstums stoßen wird, profitiert Indien auch langfristig von einer jungbleibenden Gesamtbevölkerung. Die gezielte Nutzung dieses Reservoirs an Arbeitskräften wird auch für europäische Chemieunternehmen zunehmend an Bedeutung gewinnen.