10 Jahre Interessengemeinschaft Regelwerke Technik
IGR als Wissensplattform für die Chemie-und Pharmaindustrie
Chemie- und Pharmaunternehmen betreiben komplexe verfahrenstechnische Anlagen, die einer Vielzahl von Gesetzen und Normen entsprechen müssen. 15 Unternehmen und Dienstleister der chemisch-pharmazeutischen Industrie schlossen sich 2007 zur Interessengemeinschaft Regelwerke Technik (IGR) e.V. zusammen, um gemeinsam ihre Kompetenzen in der Anlagentechnik zu erhalten und weiterzuentwickeln. In diesem Jahr begeht die inzwischen 30 Mitglieder zählende IGR ihr zehnjähriges Jubiläum. Dr. Michael Reubold befragte den Vorsitzenden des IGR-Vorstands, Martin Rauser, zur Entwicklung des Vereins, seinen Inhalten und Zielen sowie zu aktuellen Branchentrends.
CHEManager: Herr Rauser, welche Entwicklungen waren für die Entstehung und Entwicklung der IGR relevant?
M. Rauser: Die Interessengemeinschaft Regelwerke Technik hat ihren Ursprung in der Neuausrichtung und Umstrukturierung der damaligen Hoechst AG, aus der verschiedene einzelne Unternehmen hervorgegangen sind. Damit verteilte sich auch das bisher in einem Unternehmen gebündelte Wissen auf verschiedene Unternehmen. Das betrifft langjährige Erfahrung auf den Gebieten der Mechanik und Verfahrenstechnik, Elektro-, Mess- und Regeltechnik, Werkstofftechnik und der Prozesssicherheit. Schon 1997, also wenige Jahre später, erkannten wir, dass wir das, was über 130 Jahre aufgebaut wurde, nun erhalten und auch weiterentwickeln müssen. Das war die Geburtsstunde der IGR. Seit 2007 sind wir ein eingetragener Verein.
Warum wurde diese Rechtsform gewählt?
M. Rauser: Die Rechtsform dokumentiert, dass wir keine wirtschaftlichen Eigeninteressen verfolgen. Der von den Mitgliedsfirmen gewählte Vorstand sowie die Experten in den Unternehmen arbeiten ehrenamtlich für die IGR. Wir sind mit 15 Mitgliedsfirmen gestartet. Heute engagieren sich 350 Experten aus 30 Unternehmen mit mehr als 27.000 Mitarbeitern für nachhaltiges Wissensmanagement sowie aktive Regelwerksverfolgung und -beeinflussung. Die IGR kauft darüber hinaus ehrenamtlich nicht verfügbarere Expertise ein, zum Beispiel auf den Gebieten Werkstofftechnik, Geräteprüftechnik und Prozesssicherheit.
Was treibt die Mitglieder an, sich ehrenamtlich zu engagieren?
M. Rauser: Wir glauben, dass „Wissen ein Gut ist, das sich durch Teilen vermehrt“, wie es die Humanistin Marie von Ebner Eschenbach einst formuliert hat. Daher arbeiten wir genossenschaftlich: Jedes Mitglied leistet nur einen Teil der Arbeit, erhält aber alle Ergebnisse. Der Nutzen dieses Ansatzes für unsere Mitglieder ist enorm. Sie sparen Zeit und Kosten bei der Umsetzung von Regelwerksforderungen und profitieren von einer deutlich höheren Rechtssicherheit – also der Technical Compliance. Zudem können wir die Interessen unserer Mitglieder in vielen technischen Gremien und mit größerem Gewicht vertreten, als das einem einzelnen Unternehmen möglich wäre. Dies gilt ebenso gegenüber Lieferanten, Herstellern sowie Behörden.
Welche Fortschritte haben Sie bezogen auf die technische Umsetzung von Regelwerksanforderungen in den vergangenen zehn Jahren erzielt?
M. Rauser: Die IGR bündelt das ingenieurtechnische Know-how eines chemisch-pharmazeutischen Großkonzerns. Was früher in „Werksnormen“ festgeschrieben war, erhalten wir und entwickeln es stetig weiter. Wir stellen für unsere Mitglieder über 350 aktuelle Guidelines zur Technik bereit, die sich bundesweit anwenden lassen. Das sind erprobte Arbeitshilfen für die betriebliche Praxis, für deren Fortschreibung in den Mitgliedsunternehmen sonst oftmals kaum genug Ressourcen zur Verfügung stehen.
Welche Kompetenzfelder deckt die IGR fachlich und inhaltlich ab?
M. Rauser: Wir gliedern uns in die vier Kompetenzcenter Mechanik und Verfahrenstechnik, Elektro-, Mess- und Regeltechnik, Werkstofftechnik sowie Prozesssicherheit. Darin enthalten sind Spezialgebiete wie der mechanische und elektrische Explosionsschutz, Anlagensicherheit, Bau- und Wasserrecht, Qualitätsmanagement, Energiemanagement und Industrie 4.0. Jedes der vier Kompetenzcenter verfügt über eine telefonische Hotline, deren Experten unseren Mitgliedern mit Rat und Tat zur Seite stehen. Sie haben darüber hinaus Zugriff auf Labore für beispielsweise Werkstofftechnik, Geräteprüftechnik oder Prozesssicherheit.
Die IGR nimmt weitere Mitglieder auf. Wie profitieren Unternehmen von einer Mitgliedschaft?
M. Rauser: Eine Mitgliedschaft bietet viele Vorteile. Die IGR verfolgt kontinuierlich die Veränderungen bei ca. 4.000 technischen Regelwerken, die die chemisch-pharmazeutische Industrie beachten muss. Ergeben sich aus den Regelwerksänderungen Konsequenzen für die betriebliche Praxis, erstellt die IGR dazu Arbeitshilfen, die Mitglieder direkt anwenden können. Die Firmen können sich so auf ihr eigentliches Kerngeschäft konzentrieren und müssen keine umfassenden Ressourcen auf Gebieten vorhalten und finanzieren, die von der IGR abgedeckt werden.
Das für eine IGR-Mitgliedschaft erforderliche ehrenamtliche Engagement ist im Vergleich dazu vom zeitlichen Aufwand deutlich geringer. Damit bilden wir die Wissensplattform der chemischen und pharmazeutischen Industrie. Fehlt das Know-how an bestimmten Stellen, greifen die Mitgliedsfirmen auf das Netzwerk der IGR mit ca. 350 Experten zu, tauschen sich fachlich aus und erarbeiten so schnell passende, praxisorientierte Lösungen.
Lässt sich der wirtschaftliche Nutzen quantifizieren?
M. Rauser: Das kann jedes Unternehmen für sich im Detail errechnen und bewerten. Wir haben aber genau das vor Kurzem in verschiedenen Workshops mit unseren Mitgliedern konkretisiert. Lassen Sie mich drei Beispiele für Benefits herausgreifen:
Bei der Regelwerksverfolgung und Entwicklung von praxistauglichen technischen Arbeitshilfen haben wir einem mittelgroßen Unternehmen Kosten gespart, die sich im Umfang von mehreren Ingenieur-Jahresgehältern bewegen.
Ein zweites Beispiel: Nur ca. 45 Prozent der Mess-, Steuer- und Regelgeräte, die auf den Markt kommen, eignen sich für den betrieblichen Einsatz, ohne dass vorher herstellerseitig nachgebessert werden muss. Das zeigen Ergebnisse von IGR-Typprüfungen. Dadurch kann es zu Betriebsstörungen oder gar Unfällen mit hohen Kosten kommen, die den Mitgliedsbeitrag weit übersteigen können.
Und nicht zuletzt haben wir mit dem IGR-Arbeitskreis Energiemanagement eine neue Plattform geschaffen, wo sich unsere Mitglieder untereinander austauschen. Aus den Ideen, die hier umgesetzt werden, resultieren auch immer wieder signifikante und nachhaltige Einsparungen.
Setzen sich die IGR-Mitglieder lediglich aus Nachfolgeunternehmen der ehemaligen Hoechst AG zusammen?
M. Rauser: Zunächst zählten vor allem Unternehmen des ehemaligen Hoechst-Konzerns dazu wie etwa Celanese und Sanofi-Aventis oder auch Industrieparkbetreiber wie Infraserv. Inzwischen haben wir auch andere namhafte Unternehmen aus weiten Teilen des Bundesgebiets aufgenommen – wie jüngst eine Raffinerie aus dem norddeutschen Raum. Mitglieder können nur Unternehmen werden, keine Einzelpersonen. Der Jahresbeitrag richtet sich nach der Anzahl der Mitarbeiter des Unternehmens. Dienstleistern ohne genehmigungsbedürftige Anlagen gewähren wir Rabatte.
Ein Blick in die Zukunft: Welche Trends und Herausforderungen sehen Sie für die Branche?
M. Rauser: Eine neue Herausforderung, die auf die Mitglieder zukommt, ist die vernetzte und digitalisierte Produktion. Das Schlagwort „Industrie 4.0“ ist seit einiger Zeit in aller Munde, aber viele Fragen dazu sind noch offen. Die Fabrikautomation ist hier schon viel weiter als die Prozessindustrie. Wir haben dies zum Leitthema unseres diesjährigen Erfahrungsaustauschs gemacht und helfen unseren Mitgliedern so, sich gegenseitig zu helfen. Das betrifft auch Fragen zu Veränderungen bei der IT-Sicherheit oder den Chancen und Risiken der Digitalisierung.
Welche Ziele will die IGR in den nächsten fünf Jahren erreichen?
M. Rauser: Die IGR stellt sich den kontinuierlich wandelnden technischen Herausforderungen und meistert diese gemeinsam mit ihren Mitgliedern. Auch wollen wir weitere Unternehmen aus unserer Branche als Mitglieder gewinnen und neue Arbeitsfelder erschließen wie Industrie 4.0. Eine weitere Aufgabe für die nächsten fünf Jahre ist die Koordination und Organisation des Know-how-Transfers, um bei Personalwechseln das erreichte Wissensniveau zu sichern und weiter zu steigern.