Theorie statt Praxis
Computermodelle können Tests ersetzen
Computermodelle sparen Kosten, beschleunigen Entwicklungsprozesse und reduzieren die Ungewissheit beim Design von Molekülen bis hin zu Prozessen. Open-Source-Simulatoren bieten in verschiedenen Bereichen eine ernstzunehmende Alternative zu kommerzieller Software, während leistungsstarke Universal-Modellierungs-Werkzeuge und „Multi-Scale“-Modelle die Grenzen zwischen verschiedenen Arten der Simulation verschwimmen lassen.
Prognosen sind ein wichtiger Teil der wissenschaftlichen Methodik. Nur wenn unabhängig vom Experiment vorhergesagt werden kann, wie sich ein Prozess oder ein Molekül verhalten wird, ist es möglich, den Vorgang wirklich zu verstehen. Mathematische Modelle für physikalische, chemische und thermische Phänomene sind deshalb der Kern des Ingenieurwesens, vieler chemischer Disziplinen und zunehmend auch in den Lebenswissenschaften.
In den 80er Jahren hielt der PC dank der ersten Tabellenkalkulationen Einzug in den Alltag der Chemieingenieure. Tabellenkalkulationen vereinfachten die Lösung von komplexen simultanen Gleichungssystemen erheblich, die für Anlagen-Fließschemata typisch sind, und ermöglichten Verbesserungen im Aufbau über Serien von „wenn-dann“-Berechnungen. Heute werden Tabellenkalkulationen ergänzt durch universelle Modellierungs-Umgebungen. Sie vereinen Flexibilität mit großer Leistungsfähigkeit und können mathematische Funktionen ebenso modellieren wie Prozessanlagen, mechanische Geräte und elektrische Systeme. Mit der Open-Source-Modellierungssprache Modelica zum Beispiel kann der Nutzer Gleichungsblöcke aufstellen und verknüpfen, die etwa einzelne Bestandteile eines Fließschemas beschreiben. Modelica wiederum kann mit einer Reihe von kommerziellen Benutzeroberflächen verknüpft werden.
Nach neuesten Berichten bringt die Open-Source-Umgebung Scilab/Xcos bei der Modellierung einer Brennstoffzelle 80 bis 90 % der Leistung der kommerziellen Software Matlab/Simulink, die mehrere Tausend Euro kostet. Wie häufig bei Open-Source-Software verfügt Scilab/Xcos über eine aktive Nutzergemeinde, die Dokumentation kommt dabei allerdings etwas zu kurz.
Für sehr komplexe Anwendungen können Universal-Simulatoren auf Hochleistungsrechner-Cluster eingesetzt werden. Am anderen Ende der Bandbreite gibt es inzwischen sogar taugliche Programme für Smartphones, die lineare Gleichungssysteme lösen und grafisch aufbereiten können. Die leistungsstärksten Universal-Simulatoren bieten eine ideale Basis für den neuen Trend zur Multiskalen-Modellierung.
Molecular Modelling
Computerleistung gepaart mit dem Wissen über atomare Eigenschaften und chemische Bindungen ermöglicht es Chemikern, die Form und chemischen Eigenschaften komplexer Moleküle vorherzusagen. Die Anwendungen in den Life Sciences sind vielfältig – von der Grundlagenforschung bis hin zur Entwicklung neuer Wirkstoffe. „Computational Chemistry“ wird außerdem zunehmend in der Materialforschung eingesetzt, um neue Produkte wie Katalysatoren, Polymere, Elektroden für Hochleistungsbatterien und Wärmedämmungen zu entwickeln und Reaktionskinetiken zu verstehen.
Dutzende von Programmen sind in diesem anspruchsvollen Bereich verfügbar. Einige Beispiele aus der Vielzahl der kommerziellen Molecular-Modelling-Lösungen für die Life Sciences sind Biologics Suite (Schrödinger) und Lead Finder (Molecular Technologies). Zur Open-Source-Software gehören Delphi und Ascalaph. Für Chemieingenieure eignet sich etwa das Simulations-Paket Chemkin/Chemkin-Pro (Reaction Design), das vor allem auf Verbrennungsprozesse und besonders Motoren ausgerichtet ist. Accelrys (eine Tochtergesellschaft des französischen 3D-Spezialisten Dassault Systèmes) bietet unter anderem Materials Studio an, mit dem sich Katalysatoren, Polymere, Metalle und Werkstoffe für elektrische Anwendungen untersuchen lassen, außerdem Software für Chemie und Life Sciences. Nach Angaben von Accelrys konnten einige Kunden die Zahl ihrer Experimente in der Produktentwicklung mit Hilfe von Simulationen um 90 % reduzieren. Im akademischen Bereich beschäftigen sich unter anderem die Universitäten Manchester und Oxford, die Universität Basel und das Fraunhofer Ernst-Mach-Institut in Freiburg mit der Multiskalen-Modellierung. Teilweise wird die Entwicklung und Herstellung von Materialien und anderen physischen Produkten über Multiskalen-Modellierung auch als „integrated computational materials design (ICME)“ bezeichnet.
Computational Fluid Dynamics
Wenn das Molecluar Modelling am einen Ende der Größenskala angesiedelt ist, so finden sich am anderen Ende die Computational Fluid Dynamics (CFD). Sie nutzen Gleichungen, um Verwirbelungen und Wärmetransfer in Flüssigkeiten im größeren Volumen zu beschreiben und so verfahrenstechnische Aufgabenstellung einschließlich Fließverhalten zu modellieren. Die Anwendungen reichen von Aerodynamik und komplexen Stoffströmen in Reaktoren einschließlich Festbettreaktoren über Trockner und Wärmetauscher bis hin zu Verbrennungsprozessen und Explosionen. Anfangs erforderten die ersten kommerziellen CFD-Programme viel Zeit beim Aufsetzen, und es dauerte Tage und Wochen, um Probleme aus der Praxis rechnerisch zu lösen. Dementsprechend wurde CFD nur eingesetzt, um fertige Entwicklungen zu bestätigen oder um Fehler zu beheben. Dank Fortschritten bei der Software und kostengünstigen Hochleistungsrechnern können CFD-Methoden heute viel früher wertvolle Beiträge zur Prozessentwicklung liefern und Verfahren mit minimalem Aufwand für die Ingenieure über wiederholte Simulationen optimieren.
Je weiter die Simulation physikalische Versuche ablöst, umso anspruchsvoller werden die Aufgaben, auch weil die Fragestellungen immer komplexer werden. „Die Kunden wollen das Gesamtbild sehen, ganze Systeme anstelle von Einzelkomponenten, und eigentlich gibt es keine einfachen Probleme mehr, die zu lösen wären“, so Bill Clark, Executive Vice President des Simulationsanbieters CD-adapco. CFD-Programme verknüpfen eine gute Performance mit einem integrierten Ansatz, was sie für Firmen attraktiv macht, die neu in die CFD einsteigen, erklärt der Raumfahrt-CFD-Experte Dr. Chris Nelson. Andererseits können Software-Lösungen, die einzelne Komponenten betrachten - Netzgenerator, Strömungslöser, Postprozessor - leistungsfähiger sein. Alternativen zur kommerziellen Software sind die zahlreichen Open-Source-CFD-Programme, von denen OpenFOAM (ESI Group) wahrscheinlich das bekannteste ist. Dr. Ma Shengwei vom Institute of High Performance Computing meint, dass Open-Source-Software genauso gut sein kann wie die kommerziellen Versionen. Aber dazu ist gut ausgebildetes Personal notwendig, deshalb ist der Einsatz von Open-Source-Programmen nicht unbedingt billiger.
Fließschema-Simulationen
Fließsschema-Simulationen sind das Herz der chemischen Verfahrenstechnik. Sie basieren auf Massenbilanzen, Energiebilanzen, Massentransfer, Wärmetransfer, Phasengleichgewichten und Reaktionsmodellierungen. Anders als Molecular Modelling oder CFD stellen Gleichgewichts-Simulationen relativ geringe Ansprüche an die Rechenleistung. Zusammen mit dem kleineren Markt führt das dazu, dass sich die Anbieter eher im Hinblick auf Zielbranchen, Nutzerfreundlichkeit, Kundendienst und Lizenzkosten unterscheiden als in der reinen technischen Performance. Zusätzlich zu den Fließschema-Simulatoren haben alle Anbieter spezielle Pakete und Lösungen im Portfolio, sei es für spezifische Zielbranchen (etwa Brennstoffzellen), Prozesse (z. B. Rohöl-Verarbeitung), Komponenten (z.B. Wärmetauscher) und Planungstechnologien (z. B. Netzwerke zur Wärmerückgewinnung und Finanzanalysen).
Marktführer in der Öl-, Gas- und chemischen Industrie sind Aspen HYSIS (Kohlenwasserstoffe) und Aspen Plus (chemische Produkte) von AspenTech, UniSim (das auf derselben Grundlage basiert wie HYSYS) von Honeywell und SimSci PRO/II von Schneider Electric. ProMax von Bryan Research and Engineering hat sich zu einem ernsthaften Herausforderer für HYSYS und UniSim entwickelt, besonders bei kleineren Kunden. Weitere bedeutende Anwendungen sind Chemcad (Chemstations), Design II (WinSim), ProSimPlus und die Simulis-Familie (ProSim) sowie VMGSim von Virtual Materials Group.
Da die Modellierung von Fließschemata davon abhängt, dass die einzelnen Rohstoffe und Produkte gut charakterisiert sind, sind Datenbanken mit physikalischen Eigenschaften und Zustandsgleichungen unentbehrlich für jedes Simulationswerkzeug. Die Lücke zwischen den physikalischen Eigenschaften in den Datenbanken und den Modellen der Simluatoren lässt sich durch spezielle Software wie das Data Preparation Package (DECHEMA e.V.) oder in den meisten Fällen mit integrierten Werkzeugen verschiedener Anbieter schließen.
Einige der ursprünglichen Fließschema-Simulatoren gehen auf öffentlich geförderte Forschungsprojekte zurück, und Open-Source-Alternativen sind verfügbar, wenn auch nicht im gleichen Maß wie bei CFD. Keine Open-Source-Anwendung, aber vergleichbar im Hinblick auf das Streben nach Transparenz ist das langlebige CAPE-OPEN-Projekt, das Standards für den Datenaustausch bei der Modellierung chemischer Prozesse festlegt. Ein Simulationspaket, das den CAPE-OPEN-Standards entspricht, kann beispielsweise verschiedene Datenbanken mit physikalischen Eigenschaften nutzen und Bausteine von Drittanbietern integrieren, etwa neue Reaktortypen, sofern diese ebenfalls den CAPE-OPEN-Standards folgen.
Prozesstechnische Anlagen laufen selten vollständig unter Gleichgewichtsbedingungen. In komplexen Prozessen können dynamische Effekte den Betrieb und die Sicherheit bestimmen, besonders beim Hoch- und Herunterfahren. Viele Anbieter haben deshalb dynamische Modellierungs-Möglichkeiten im Programm, die entweder in die Standard-Fließschema-Werkzeuge integriert sind oder als eigenständige Produkte vermarktet werden.
Dieser Beitrag basiert auf einem Trendbericht der Dechema, der im Vorfeld der Achema 2015 von internationalen Fachjournalisten verfasst wurde.