Chemie & Life Sciences

"Pharma ist eine Schlüsselindustrie“

Jörg Wieczorek, Vorstandsvorsitzender des Verbands Pharma Deutschland, über den Zustand und das Ansehen der Branche

22.01.2025 - Der im März 2024 aus dem Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) entstandene Verband Pharma Deutschland hat den Anspruch, ein Leitverband für die Branche zu sein. Damit positioniert sich Pharma Deutschland deutlich gegenüber den anderen drei Branchenorganisationen VFA, BPI und Pro Generika.

Im März 2024 ist Pharma Deutschland aus dem Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) hervorgegangen, nachdem eine angestrebte Verschmelzung mit dem Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) im Vorfeld gescheitert war. Der neue Pharmaverband hat den Anspruch, Leitverband für die Branche zu sein. Im Gespräch mit Thorsten Schüller erläutert der Vorstandsvorsitzende Jörg Wieczorek, was den „mitgliederstärksten Verband der Arzneimittelbranche in Deutschland“ von den drei anderen Standesvertretungen VFA, BPI und Pro Generika unterscheidet, warum er Pharma als Schlüsselindustrie sieht und wie sich durch den Einsatz von rezeptfreien Arzneimitteln viel Geld sparen ließe.

 

CHEManager: Herr Wieczorek, nach den Worten Ihrer Hauptgeschäftsführerin Dorothee Brakmann bedauern viele Pharmaunternehmen, dass die wirtschaftliche Größe, Relevanz und Innovationskraft der Branche nur unzureichend dargestellt werden. Heißt das, dass die etablierten Pharmaverbände die Industrie bislang nicht gut genug repräsentiert haben?

Jörg Wieczorek: Ja und Nein! Es ist sicherlich richtig, dass wir in der Vergangenheit mit den vier Verbänden nicht immer einheitlich aufgetreten sind. Aber wenn es um die Bedeutung der Branche im Gesundheitssektor und in der Wirtschaft insgesamt geht, wollen wir noch stärker he­rausstellen, dass Pharma eine systemrelevante Schlüsselindustrie ist. Wir meinen, die Branche ist unter dem Dach von Pharma Deutschland besser vertreten als vorher im BAH.

Was hat den Ausschlag gegeben, sich umzubenennen und strukturell sowie inhaltlich neu aufzustellen?

J. Wieczorek: Wir haben intensive Fusionsgespräche mit dem BPI geführt. Die Sondierungen liefen hervorragend, wir hatten uns viele Themen vorgenommen. Wir hatten auf unserer Seite 86 % Zustimmung zur geplanten Fusion, beim BPI waren es 63 % Zustimmung. Für einen Zusammenschluss wäre auch beim BPI eine Dreiviertelmehrheit notwendig gewesen. Nachdem die Fusion nicht zustande gekommen war, haben wir beschlossen, diese Themen alleine umzusetzen.

Ist es also eine Notlösung, dass Sie nun alleine unterwegs sind?

J. Wieczorek: Nein, keineswegs. Wir haben zwar nicht unsere damalige Wunschlösung erreicht, können jetzt aber die Themen viel energischer umsetzen. Gleichzeitig erleben wir in den neun Monaten, die es Pharma Deutschland jetzt gibt, eine enorme Dynamik, die aus den Unternehmen herauskommt. Vielleicht ist es so am Ende des Tages die bessere Lösung, was sich auch darin zeigt, dass derzeit viele neue Mitgliedsunternehmen zu uns kommen.

Warum sollte man als Pharmaunternehmen ihrem Verband beitreten und nicht dem VFA, dem BPI oder Pro Generika?

J. Wieczorek: Zunächst: Wir sehen uns nicht als Konkurrenz zu den anderen Verbänden. Jede dieser Organisationen hat ihre Berechtigung. Aber wichtige Unternehmen sind bei uns dabei, wir sind eine wirkliche Heimat für alle Pharmaunternehmen in Deutschland. Wir haben einen 360-Grad-Blick, das heißt, wir decken alle Bereiche ab von OTC bis zu verschreibungspflichtigen Produkten, von Husten bis zur Onkologie. Und wir bieten einen sehr guten Service, den manch anderer Verband so nicht leisten kann. Dazu haben wir Experten für sämtliche Themen und machen Lösungsvorschläge, wie das Gesundheitssystem unterstützt werden kann. Außerdem sind wir nicht nur im Bund, sondern auch in den Regionen tätig. Neuerdings haben wir sogar einen Landesverband in Brüssel. Nicht zuletzt sind wir mit der Mitgliedschaft im VCI breit aufgestellt.

Was bringen Ihnen die regionalen Landesverbände?

J. Wieczorek: Eine noch bessere Vernetzung in den Regionen. Ein Beispiel: Die kommunale Abwasserrichtlinie war zwar in Berlin bekannt, in den Bundesländern hingegen fast nicht. Wir haben jetzt auf das Thema und die potenziell dramatischen Auswirkungen für die Gesundheitsversorgung hingewiesen. Da gab es in den Ländern ein großes „Aha“. Unsere Auffassung ist, dass die kommunale Abwasserrichtlinie gut gemeint, aber schlecht umgesetzt ist. Wir werden das Thema über die Bundesländer nochmal verstärkt adressieren. Es kann nicht sein, dass die Pharma­industrie den Großteil der Kosten für die Beseitigung der Spurenstoffe im Abwasser finanzieren soll, aber andere Verursacher nicht belastet werden.

Und wie ist Ihre Brüsseler Vertretung zu werten? Bedeutet diese, dass Sie deutsche Pharmainteressen nicht ausreichend durch den europäischen Pharmaverband EFPIA vertreten sehen?

J. Wieczorek: EFPIA vertritt ja nur einen Teil der Firmen, und wir sehen Themen, die bislang in Europa brach gelegen haben und wollen unseren Mitgliedern auch in Brüssel einen besseren Zugang zur Politik gewähren. Aber auch hier gilt, dass wir uns nicht als Konkurrenz zur EFPIA sehen, ebenso wenig zu Medicine for Europe oder der European Self-Care Industry Association, kurz: AESGP, die die Selbstmedikationsfirmen vertritt. Es geht uns um einen zusätzlichen Mehrwert für unsere Mitglieder.

Sie betonen, dass sie nicht im Wettbewerb zu den anderen Verbänden stehen. Gleichzeitig finden sich Themen, die Sie adressieren, teilweise auch bei den anderen Verbänden wieder. Sie fordern beispielsweise mehr Digitalisierung, eine Stärkung klinischer Studien und eine bessere Verzahnung von Forschung und Pharma. Der VFA und die Fraunhofer Gesellschaft haben kürzlich dasselbe gesagt. Da stellt sich die Frage: Worin unterscheidet sich Pharma Deutschland?

J. Wieczorek: Bei dem Thema Digitalisierung werden sie tatsächlich keinen Unterschied feststellen. Das kann auch gar nicht sein, denn in beiden Verbänden sind ja viele Unternehmen doppelt vertreten. Im Übrigen arbeite ich persönlich mit VFA-Präsident Han Steutel hervorragend zusammen. Wir sehen uns nicht als Konkurrenz, sondern als Themenverstärker. Wenn Sie auf unsere Webseite schauen, werden sie aber feststellen, dass 50 bis 60 % unserer Themen weder beim VFA noch bei Pro Generika zu finden sind. Deswegen sage ich, dass wir der 360-Grad-Verband sind, der das ganze Spektrum pharmazeutischer Themen abdeckt.

Ist in Deutschland Platz für vier große Pharmaverbände?

J. Wieczorek: Ich sehe das sportlich. Konkurrenz belebt das Geschäft, und am Ende des Tages ist es wie in jeder anderen Branche – die Besten werden sich durchsetzen. Das heißt nicht, dass es in Zukunft nur noch einen Verband geben wird.

Was lief oder läuft in der Kommunikation zur Bedeutung der Pharmabranche nicht gut?

J. Wieczorek: Ich sage nicht, dass wir in den Verbänden eine schlechte Kommunikation machen. Aber wir werden zu oft auf das Thema Kosten reduziert und erfahren nicht die Wertschätzung für die Arbeitsplätze und Wirtschaftsleistung, die wir erbringen. Keine andere Branche ist langfristig betrachtet vergleichbar stabil investitionsstark, innovationsgetrieben und resilient gegenüber Konjunkturschwankungen. Meiner Meinung nach sollte die Branche ganzheitlicher betrachtet werden. Die Arzneimittelindustrie macht heute nur etwa 12 % der gesamten Gesundheitsausgaben aus, 9 % entstehen bei den Herstellern selbst. Die großen Kostenblöcke im Gesundheitssystem sind also woanders.

 

„Die Pharmabranche erfährt nicht die Wertschätzung für die Arbeitsplätze und Wirtschaftsleistung, die sie erbringt.“

 


Andererseits haben wir seit 15 Jahren einen Preisdeckel. Ich habe selber ein Unternehmen, für das die Energie- und Personalkosten massiv steigen. Wir müssen viel Geld in Nachhaltigkeit, in IT und Infrastruktur investieren, bekommen aber wegen des Preismoratoriums nicht mehr Geld für unsere Produkte. Irgendwann wird das unwirtschaftlich und Präparate müssen ausgelistet werden.

Was schlagen Sie vor?

J. Wieczorek: Es gibt große Effizienzreserven auch beim Thema Arzneimittelversorgung. Wir machen immer wieder den Vorschlag, die Eigenverantwortung der Patienten zu stärken und vermehrt von verschreibungspflichtigen Produkten in den OTC-Bereich zu switchen. Es gibt Schätzungen, denen zufolge man über die Entlassung aus der Verschreibungspflicht mit nur 13 Substanzen 1,3 Mrd. EUR im Gesundheitssystem einsparen könnte. Natürlich reden wir hier nicht von onkologischen Arzneimitteln. Aber es gibt viele Präparate in der Augenheilkunde, bei Akne oder auch im Bereich Schmerzen, bei denen das System durch den Einsatz von Alternativprodukten massiv entlastet werden könnte. Für Migränepatienten funktioniert die Entlassung der Triptane aus der Verschreibungspflicht beispielsweise seit einigen Jahren hervorragend.

Sie bemängeln, dass die Pharma­industrie keine Schlüsselrolle innehat. Was muss passieren, damit die Branche größeres Gewicht bekommt?

J. Wieczorek: Neben mehr Flexibilität bei der Preisgestaltung müsste auch das Preismoratorium abgeschafft werden, damit wir steigende Kosten bei Energie, Personal oder IT ansatzweise ausgleichen können. Gleiches gilt für den Bürokratiewahnsinn, den wir alle in Deutschland erleben. Nehmen Sie die Audits oder Rezertifizierungen. Das ist alles ein Riesenaufwand. Ich habe bei mir teilweise mehr Mitarbeiter für die Bürokratie beschäftigt als im Marketing. Wir müssen die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Gesundheitswirtschaft – neben Pharma auch die Ärzte, die Apotheken und die Krankenhäuser – noch viel mehr in den Fokus rücken. Dazu zählt auch, dass wir die Bedeutung dieser Branche für Arbeitsplätze, Forschung und Produktion herausstellen.

 

"Wir müssen die
gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Gesundheitswirtschaft viel mehr in den Fokus rücken."



Die Pharmaindustrie in Deutschland war ja schon einmal wesentlich stärker, Stichwort: Apotheke der Welt. Sehen Sie Chancen, da wieder hinzukommen?

J. Wieczorek: Nein, da wir werden uns sehr schwer tun. Vergleichen Sie mal die Anzahl der Pharmaunternehmen, die wir vor 20 Jahren hatten und wie viele es heute sind. Außerdem haben wir hier ganz andere Arbeitskosten im Vergleich zu anderen Ländern. Wir können froh sein, wenn wir das erhalten, was wir derzeit an Forschung und Produktion hier haben. Aber zurückholen, daran glaube ich nicht. Da müssten die Rahmenbedingungen schon stark optimiert werden.

In Bezug auf klinische Studien wird immer wieder kritisiert, dass in Deutschland vergleichsweise wenige Patienten eingeschlossen werden. Sehen sie in dem Bereich Handlungsbedarf?

J. Wieczorek: Wenn man sich die Rahmenbedingungen und den Datenschutz anschaut, stellt man fest, dass die Anforderungen in anderen Ländern häufig niedriger sind als in Deutschland. Auch der Zeitfaktor spielt eine Rolle. Wenn sie eine klinische Studie woanders 18 Monate früher und unbürokratischer als hier machen können, entscheiden sie sich natürlich für das andere Land.

Jammern wir nicht auf hohem Niveau? Wir haben BioNTech, zahlreiche Biotech-Cluster, in denen intensiv geforscht wird, Roche betreibt in Mannheim und Penzberg wichtige Diagnostika-Standorte, es gibt Generikaunternehmen à la Hexal.

J. Wieczorek: Natürlich sind wir froh, dass wir Leuchttürme wie Roche Diagnostics oder BioNTech haben. Aber in der breiten Masse der Pharmaindustrie und insbesondere im Mittelstand wird die Luft schon dünner. Das Gleiche sehen wir bei den Apotheken, die ein wichtiger Partner für unsere Arzneimittelversorgung sind. Wir hatten mal 22.000 Apotheken, im Moment sind es nur noch 17.000. Wenn das so weitergeht, ist die flächendeckende Arzneimittelversorgung in Gefahr.

Werfen wir einen kurzen Blick auf die USA, die weltweit führende Nation im Bereich Pharma. Der alte, neue Präsident Donald Trump ernennt mit Robert F. Kennedy Jr. möglicherweise einen Gesundheitsminister, der nicht gerade als Freund der Pharmaindustrie gilt und sich gegen Impfungen ausspricht. Halten Sie es für möglich, dass die Branche unter der neuen Administration unter Druck gerät?

J. Wieczorek: Das wird sich zeigen. Es ist wie bei vielen anderen Themen, die Herr Trump adressiert. Er geht sie radikal an, doch am Ende des Tages wird auch er darauf achten, dass er die Wertschöpfung in den USA stärkt und nicht schwächt. Trump propagiert „America first“, das gilt für die Autoindustrie, das steckt hinter der Ankündigung von Importzöllen, und das wird auch bei der US-Pharmaindustrie so sein.

Wie stark würden US-Importzölle deutsche Pharmaunternehmen treffen?

J. Wieczorek: Wenn das flächendeckend so kommt, wie in den ersten Äußerungen kommuniziert, würde uns das erheblich treffen. Der Exportanteil der deutschen Pharmaindustrie in die USA liegt immerhin bei 23,2%. Aber jetzt warten wir erstmal ab, wie viele von den Ankündigungen wirklich umgesetzt werden.

 

ZUR PERSON
Jörg Wieczorek ist seit über 30 Jahren in der Arzneimittelbranche tätig. Seit 2022 ist er Geschäftsführer der Hermes Holding, von 2008 bis 2021 war er Geschäftsführer der OTC-Sparte von Hermes Arzneimittel. Zuvor war er bei Beiersdorf, Bayer, Boehringer Ingelheim und Novartis Consumer Health tätig. Seit Juli 2014 ist Wieczorek Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller (BAH), der sich im März 2024 in „Pharma Deutschland“ umbenannte.

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