Softwaredefinierte Automatisierung
Dynamische Architekturen für die Zukunft der Leittechnik
Wirtschaftlichkeit, Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft, CO2-Neutralität, Time-to-Market – die Liste der Herausforderungen an die Prozessindustrie ist lang. Um die Wettbewerbsfähigkeit in immer volatileren Märkten aufrecht zu erhalten oder zu steigern, werden flexible Produktionsprozesse benötigt. Siemens propagiert hierfür die softwaredefinierte Automatisierung für die Prozessindustrie. CHEManager-Redakteur Volker Oestreich sprach dazu mit Rebecca Vangenechten, Global Vice President of Automation & Engineering Systems for Process Automation bei Siemens.
CHEManager: Was ist Stand der Technik bei den Prozessleitsystemen und welche Trends sehen Sie für die nahe Zukunft?
Rebecca Vangenechten: Prozessleitsysteme sind das Rückgrat der modernen Prozesstechnik. Sie spielen eine entscheidende Rolle bei der Automatisierung und Steuerung effizienter, sicherer und nachhaltiger Produktionsprozesse. Die Systemlandschaft reicht dabei von einfachen DCS-Anwendungen in der Wasserindustrie bis hin zu komplexen, hochintegrierten Sicherheitssystemen auf Offshore-Ölplattformen oder exakt validierten Pharmaanlagen. Zudem besteht ein erheblicher Teil der Prozessindustrie aus Bestandsanlagen, die eine Modernisierung durch minimalinvasive und schrittweise Änderungen während ihres mehr als 30-jährigen Lebenszyklus erfahren haben und häufig von Datensilos geprägt sind. Gleichzeitig haben solche Unternehmen oft unterschiedliche Automatisierungs- und Digitalisierungsniveaus an verschiedenen Standorten, selbst innerhalb derselben Organisation.
Angesichts schneller Marktveränderungen, unterschiedlicher Geschäftsmodelle, Technologieanforderungen und Produktionsausgaben gibt es aus unserer Sicht vor allem einen Gamechanger, um mit den Herausforderungen schrittzuhalten. Mit softwaredefinierter Automatisierung wollen wir unseren Kunden die größten Mehrwerte bieten, indem wir eine vereinfachte Integration, erhöhte Cybersicherheit, Förderung von Innovation, Skalierbarkeit, Kostensenkung und einfache Einhaltung von Vorschriften sicherstellen. Für Siemens bestimmt softwaredefinierte Automatisierung in der Prozessindustrie die nächste Generation von Prozessleitsystemen und damit die Zukunft.
Was genau ist softwaredefinierte Automatisierung und worin liegt ihre Bedeutung für die Prozessindustrie?
R. Vangenechten: Softwaredefinierte Automatisierung verfolgt den Ansatz, dass Automatisierungssysteme und -prozesse mit Hilfe von Software definiert und gesteuert werden, um die Funktionen von der Hardware zu entkoppeln. Denn wir bewegen uns weg von traditionellen Automatisierungspyramiden hin zu dynamischeren Architekturen, die einen nahtlosen Datenfluss zwischen den Ebenen ermöglichen. Die digitale Transformation hat diesen strukturierten und traditionellen Ansatz, der jahrzehntelang der Standard war, aufgebrochen. Mit der Integration des industriellen Internets der Dinge, Edge Computing und einer intelligenten Feldebene sehen wir, dass die starre Trennung zwischen den Pyramidenebenen aufgehoben wird. Echtzeitdaten aus der Feldebene können nun über fortgeschrittene Kommunikationsprotokolle nahtlos in übergeordnete Systeme integriert werden.
Dies ermöglicht eine modulare und skalierbare Prozesssteuerung, bei der intelligente Geräte in der Feldebene auf Edge Computing Echtzeitentscheidungen treffen. Und auch cloudbasierte Lösungen werden immer häufiger eingesetzt und ermöglichen eine zentrale Datenspeicherung, Analyse und Ableitung von Optimierungspotenzialen, um Emissionen und Energieverbrauch zu reduzieren oder weniger Ausschuss zu produzieren. Unsere Kunden tendieren bereits heute zu Anlagenarchitekturen, die einen besseren Datenaustausch zwischen verschiedenen Systemen ermöglichen und die Vorteile von IT-Systemen in die OT-Welt integrieren. Diese Konvergenz von IT und OT befähigt Anwender immer mehr dazu, zu entscheiden, wie und wo sie Automatisierungs- und Engineering-Services nutzen möchten, unterstützt von intelligenten Feldtechnologien. Letztlich wird diese digitale Transformation die Fertigung benutzerzentrierter machen, den Betreibern einen ganzheitlichen Blick auf ihre Anlagen bieten und sie durch Daten und Informationen stärken.
„Für Siemens bestimmt softwaredefinierte Automatisierung in der Prozessindustrie die nächste Generation von Prozessleitsystemen.“
Muss dann der Anwender für softwaredefinierte Automatisierung die Kontrolle über seine Anlage in die Cloud verlagern?
R. Vangenechten: Nein, wir wollen den Anwender selbst entscheiden lassen, wie er sein Prozessleitsystem aufsetzt. Anstelle einer festen, hierarchischen Automatisierungspyramide sollen die Nutzerbedürfnisse stehen. In der Vergangenheit gehörten alle Systeme zu einem gewissen Layer und es war sehr herausfordernd, über verschiedene Layer hinweg kommunizieren zu können – wenn, dann ging das aus benachbarten Layern. Aber ein bidirektionaler Datenaustausch über mehrere Ebenen hinweg war eine ganz große Herausforderung. Mit softwaredefinierter Automatisierung verschwinden diese Hindernisse. Das bedeutet auch, dass Software viel stärker in die Produktionsebene, in die OT, integriert wird. Damit wird Automatisierung zu einem Service, der die komplette Nutzererfahrung von Engineering bis Betrieb abdeckt. Nutzer können für sich entscheiden wann, wo und wie sie die Services nutzen wollen – in der Edge, in der Cloud oder on premise – und auch von wem. Auf diese Weise lässt sich die Automatisierung noch viel tiefer in das erweiterte Ökosystem einer Produktion einbinden, unabhängig von Ort oder Organisationszugehörigkeit. Dies eröffnet völlig neue Möglichkeiten und Geschäftsmodelle zum Beispiel für EPCs, Systemintegratoren oder auch ausgelagerte Betreiber einer Anlage.
Dass die gesamte Kontrolle und das Monitoring über eine Anlage in eine Cloud ausgelagert und als Service angeboten werden, ist heute für viele Automatisierungstechniker noch nicht vorstellbar. Dafür ist dieser Ansatz noch zu kurz in der Entwicklung. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass es in fünf oder zehn Jahren nicht mehr nur Vorreiter sind, die diesen Ansatz übernommen haben, sondern dass es Mainstream geworden ist. Vor allem bedingt durch die Möglichkeiten zur Parallelisierung und weltweiten Verteilung von Engineering-Aktivitäten sehen wir zunehmend, dass mehr und mehr Anwender dafür offen sind, Engineering in die Cloud zu verlagern.
Sie haben die nächste Generation von Prozessleitsystemen angesprochen, die softwaredefinierte Automatisierung ermöglichen. Gehört dazu auch schon Simatic PCS neo?
R. Vangenechten: Mit dem Prozessleitsystem Simatic PCS neo sind wir Treiber und Vorreiter dieser Entwicklung, denn softwaredefinierte Automatisierung wird mit diesem Distributed Control System bereits in der Praxis für die Prozessindustrie möglich und von unseren Kunden genutzt. Es ist das erste DCS, das nahtlose IT/OT-Integration mit unserer webbasierten Technologie anbietet, globale Engineering-Teams auf diese Weise verbindet und den Anlagenbetrieb mit einer innovativen Benutzeroberfläche vereinfacht. Bei Siemens haben wir uns bereits vor Jahren mit dieser technologischen Herausforderung beschäftigt und mit Simatic PCS neo ein Prozessleitsystem der nächsten Generation entwickelt. Denn der Ansatz der softwaredefinierten Automatisierung betrifft nicht nur die Technik eines Leitsystems, sondern kann auch bestehende Geschäftsmodelle verändern und ergänzen.
Derzeit bedienen wir mit Simatic PCS neo Branchen wie Wasser/Abwasser, die chemische Industrie sowie die Lebensmittel- und Getränkeindustrie. Vor kurzem haben wir Version 5.0 des Systems auf den Markt gebracht, die auch umfassende Sicherheitsfunktionen beinhaltet. Mit jeder neuen Version werden wir weitere Funktionen und Fähigkeiten einführen, um ein breiteres Spektrum von Branchen in der Prozessindustrie abzudecken. Auf der diesjährigen Achema haben wir zudem die Integration eines KI-basierten Co-Piloten für das System vorgestellt, der automatisch Sequenzfunktionstabellen erstellen kann und eine cloudbasierte Engineering-Umgebung für globale Zusammenarbeit – ohne dass dafür lokal ein dediziertes System installiert werden muss. In die Zukunft blickend, werden die Versionen 6 und 7 weitere Sicherheitsfunktionen sowie vollständige Batch- und GMP-Fähigkeiten bringen.
Beim Wechsel zur softwaredefinierten Automatisierung liegt die Frage nach dem Investitionsschutz nahe. Wie können Anwender ihre existierenden Prozessanlagen von Simatic PCS 7 auf PCS neo umstellen?
R. Vangenechten: Mit unserer DCS-Strategie, bestehend aus Simatic PCS 7 und Simatic PCS neo, bieten wir unseren Kunden alles, was sie für die zukünftigen Herausforderungen der Prozessindustrie benötigen. Dabei garantieren wir nicht nur Investitionsschutz, sondern auch volle Innovationskraft – für Brownfield- und Greenfield-Anlagen gleichermaßen. Unsere Kunden profitieren von unserer Evolutionsstrategie, die einen klaren Weg mit verschiedenen Optionen von PCS 7 hin zur softwaredefinierten Automation mit PCS neo bietet. Der kann von Kunde zu Kunde individuell erfolgen. Der Erfolgsfaktor ist, dass wir über diesen Weg und mit den vorhandenen Optionen einen Leitfaden für den kosteneffizienten schrittweisen Umstieg anbieten, den wir mit umfassenden Dienstleistungen und Tools unterstützen. Unsere Kunden haben dadurch die Flexibilität, zu einem Zeitpunkt auf Simatic PCS neo umzusteigen, der am besten zu ihren Anwendungen passt und mit ihrer Geschäftsstrategie und Anlagenlebenszyklus übereinstimmt. In PCS neo verwenden wir große Anteile der Hardware als auch des Softwareengineerings, die unsere Kunden bereits für PCS 7 im Einsatz haben, was eine enorme Investitionsersparnis bedeutet. Im Juli 2024 haben wir die letzte Simatic-PCS-7-Hauptversion V10 freigegeben. Mit Einführung der abschließenden Langzeit-unterstützten Version 10.1 werden Simatic PCS-7-Kunden ab 2027 die Möglichkeit haben, langfristigen Support für diese Version zu bekommen und dadurch den Wechsel zu PCS neo noch besser einplanen zu können. Dieser Zeitpunkt wird nicht von uns als Anbieter vorgegeben, sondern richtet sich nach dem Business Case unserer Kunden, der ein wirtschaftlicher und innovativer Kompromiss in Hinblick auf den Lebenszyklus der jeweiligen Anlage ist. Und wir werden Simatic PCS 7 mit der Version V10.1 mindestens bis 2040 unterstützen – auch das ist ein großes Commitment, das wir als Siemens gegenüber unseren Kunden eingehen.
„Bei softwaredefinierter Automatisierung kommt es auf den Blickwinkel der Geschäftsstrategie an.“
Wie steht es um die Cybersecurity eines web-basierten Prozessleitsystems und wie werden Versionsupdates und das Patch Management gehandelt?
R. Vangenechten: Die klassisches Automatisierungspyramide entwickelt sich hin zu einem Netzwerk: von einer geschlossenen Pyramidenumgebung ohne 1:1-Kommunikation zu einem verteilten Prozessnetzwerk mit serviceorientierter Architektur. Natürlich stellt sich das Thema nach Sicherheit und Verfügbarkeit mit einem Prozessleitsystem, das bestimmte Funktionen an den Edge oder in die Cloud verschiebt. Es bleibt den Anwendern überlassen, auf Basis ihrer Risikokalkulation zu entscheiden, welche Elemente sie bspw. in eine Cloud auslagern möchten, um die damit verbundenen Mehrwerte zu generieren.
Für Simatic PCS neo steht ein zentrales Patch-Management-System zur Verfügung. Nutzer werden benachrichtigt, sobald neue Patches verfügbar sind und können diese über das zentrale System herunterladen und über die Administration Console installieren und verwalten. Über die Administration Console kann auch der Patch-Stand einer Komponente ermittelt werden, um notwendige Updates zu identifizieren. Administratoren können sehen, welche Systeme und Komponenten aktuell gepatcht sind und welche noch aktualisiert werden müssen. Patches können so geplant werden, dass sie minimale Unterbrechungen im Betrieb verursachen. Nach der Installation eines Patches wird das System getestet und validiert, um sicherzustellen, dass der Patch erfolgreich angewendet wurde und die beabsichtigte Wirkung erzielt hat.
Mit der softwaredefinierten Automatisierung kommen IT und OT noch enger zusammen, dynamische Architekturen bestimmen die Zukunft der Leittechnik. Sind die Produktionsbetriebe nicht damit überfordert, wenn es keine Strukturen und Vorgaben wie bei der Automatisierungspyramide mehr gibt?
R. Vangenechten: Dass die klassische Automatisierungspyramide aufgrund der gestiegenen Rechen- und Kommunikationsleistung der Komponenten nicht mehr zwingend ist, bedeutet nicht, dass es keine Spielregeln mehr gibt. Solange es solche Regeln gibt, etwa beim Thema Cybersecurity, ist das auch eine große Hilfe für Anwender. Das Spannendste am gesamten Thema der softwaredefinierten Automatisierung ist, dass es letztlich auf einen anderen Blickwinkel ankommt, auf dessen Basis dieser Ansatz eingesetzt wird – und zwar auf den der der Geschäftsstrategie. Diese sollte vorgeben, wie die Architektur der Produktionssysteme aussehen sollte. Je nachdem entscheidet sich dann, ob das Fahren einer Anlage im Zentrum einer Geschäftsstrategie ist oder nicht. Beispiel Pharmaindustrie: Ich kann mir durchaus vorstellen, dass ein Lohnhersteller es als seine Kernkompetenz sieht, Anlagen zu optimieren. Für große, integrierte Pharmakonzerne steht das vielleicht weniger im Fokus, weil sie sich dann lieber auf Produktentwicklung konzentrieren, als darauf, eine Anlage so optimiert wie möglich zu fahren. Die Anlagenoptimierung würden sie dann eventuell lieber an Siemens als Service auslagern oder an einen Systemintegrator, um dann nur die KPIs der Anlagen zu kontrollieren. Unser System, unsere Technologie würde dies alles in Zukunft ermöglichen. Für mich ist es das Optimum zu sagen: Lasst die Experten die Experten sein, ich entscheide über die Geschäftsstrategie und kaufe mir die notwendigen Services entsprechend ein. Natürlich muss man die richtigen Partner für so einen Ansatz finden. Hier wird das Thema des Domain-Know-how umso wichtiger. Gerade für Lohnhersteller stellt sich die Frage: Was ist deine Differenzierung, dass du die Anlage so optimiert wie möglich fahren kannst, dass du deinen Prozess so gut wie möglich verstanden hast? Und dann sind wir wieder bei den Kernkompetenzen, von denen die Anwender leben: das Prozess-Know-how, die Domain-Kenntnisse, etc. In der Pharmabranche sind damit etwa kritische Prozessparameter und kritische Qualitätsattribute gemeint, diese dann in eine Automatisierungssprache und Produktionsanlage umzusetzen, immer weiter zu optimieren und diese Kette immer wieder zu schließen.
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