Disruption der Industrie durch Bioengineering
Die meisten Unternehmen sehen Bioengineering als Schlüssel zu mehr Nachhaltigkeit
Sie nutzen dabei Prinzipien aus Biologie und Ingenieurswesen in Verbindung mit KI und datengesteuerten Computing-Technologien zur Entwicklung neuer biologischer Moleküle, Materialien und Produkte. Eine aktuelle Studie zeigt, wo große Industrieunternehmen und Biotech-Start-ups dabei weltweit stehen und was sie für die nächsten Jahre erwarten.
Die Studie „Engineering biology: The time is now” des Capgemini Research Institute zur Bioökonomie stellt fest, dass Nachhaltigkeit ein zentrales Motiv für das Interesse von Unternehmen an Bioengineering ist: Über 70 % der teilnehmenden Unternehmen erwarten, ihre Nachhaltigkeitsziele mithilfe von Biosolutions deutlich schneller zu erreichen. Weitere Motive sind die Kostensenkung, Produktoptimierung und – insbesondere in Deutschland – eine höhere Sicherheit von Produkten und deren Produktionsprozessen. Die Studie weist zudem auf Herausforderungen hin, die es zu meistern gilt, um dieses Potenzial zu erschließen: von der Marktwahrnehmung und Akzeptanz bis hin zu hohen Kosten und einem Mangel an qualifizierten Fachkräften. Wie groß das Potenzial zahlreicher industriespezifischer Anwendungsfälle ist und mit welchem Zeitrahmen wir für die Kommerzialisierung rechnen können, zeigt das Diagramm.
„Bioengineering ist ein disruptiver Ansatz,
um bestehende Produkte und deren Entwicklungs- und
Produktionsprozesse neu zu definieren.“
Großes Interesse an Biosolutions
KI und ingenieurswissenschaftliche Prinzipien ermöglichen Bioengineering-Innovationen in allen Industriezweigen: Bedeutende technologische Fortschritte in der DNA-Synthese, Editierung und Sequenzierung haben die Geschwindigkeit und Präzision des Engineerings biologischer Systeme stark erhöht und zugleich die Kosten entscheidend gesenkt. Darüber hinaus hat die rasante Entwicklung von KI zu erheblichen Fortschritten in der Erforschung und Prognose von Protein- und Stoffwechselstrukturen geführt.
Laut der Studie erwarten die befragten Führungskräfte von Industrieunternehmen nahezu geschlossen (99 % international, 100 % der deutschen), dass von Bioengineering umfassende Veränderungen für ihre Branche ausgehen werden – in den nächsten zwei bis zehn Jahren oder darüber hinaus. In Deutschland rechnet mehr als jeder zweite (50 %) bereits für die nächsten zwei bis fünf Jahre damit.
Die meisten Organisationen in der Industrie (96 % international, 99 % der deutschen) arbeiten bereits an Biosolutions: 40 % befinden sich in der Explorationsphase; 56 % führen Forschungs- und Pilotprojekte durch oder setzen Biosolutions im kommerziellen Maßstab ein. Das stetige Wachstum der Investitionen signalisiert eine positive Marktstimmung in Bezug auf das wissenschaftliche und wirtschaftliche Potenzial von Bioengineering. International geben 68 %, in Deutschland 74 % der Manager an, dass ihre Organisation die entsprechenden Investitionen in den nächsten zwei bis fünf Jahren erhöhen wird.
„Nachhaltigkeit ist ein zentrales Motiv
für das Interesse von Unternehmen
an Bioengineering.“
Optimierung von Produkten und Produktionsansätzen durch Bioengineering
Bioengineering ist ein disruptiver Ansatz, um bestehende Produkte und deren Entwicklungs- und Produktionsprozesse neu zu definieren und/oder vollständig zu ersetzen. Zu den wichtigsten Effekten gehören:
Schaffung völlig neuer, nachhaltigerer Produkte mit Eigenschaften, die bisherige Materialsysteme nicht darstellen können (frei von fossilen Rohmaterialien, recyclingfähig, langlebig, robust, selbstheilend, etc.)
Verbesserung der Art und Weise, wie produziert wird – entweder durch Ersetzen zuvor eingesetzter, nicht nachhaltiger Materialien, bisheriger Prozesse oder etablierter Lieferketten (z. B. derjenigen, die fossilbasierte Rohstoffe erfordern) mit nachhaltigen, biotechnologiebasierten Varianten.
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Die Auswirkungen dieser Disruption sind bereits sichtbar, wie die nachfolgenden Beispiele veranschaulichen:
- Chemikalien: 1,4-Butandiol (BDO), ein wichtiger Rohstoff in der Massenproduktion von Kunststoffen, elastischen Fasern und Folien, wird u. a. in der Textil-, Automobil-, Verpackungs- und Konsumgüterindustrie eingesetzt. Es wird traditionell unter Nutzung fossiler Rohstoffe hergestellt. Bioengineering ermöglicht einen umweltfreundlicheren Herstellungsprozess, der wettbewerbsfähig ist und ein Endprodukt mit vergleichbarer Qualität bietet. Das US-Start-up Genomatica hat die Produktion von Bio-BDO erfolgreich skaliert, mit dem globalen Lebensmittelkonzern Cargill als wichtigem Lizenznehmer. Cargill erwartet eine Emissionsreduktion um 90 % im Vergleich zu herkömmlichen Produktionsmethoden.
- Nachhaltiger Flugtreibstoff: LanzaJet – ein Spin-off von LanzaTech – hat Abnahmevereinbarungen mit dem japanischen Handels- und Investmentunternehmen Mitsui, dem kanadischen Öl- und Gasproduzenten Suncor und der japanischen Fluggesellschaft All Nippon Airways unterzeichnet, um mithilfe der Gasfermentationstechnologie von LanzaTech nachhaltigen Flugtreibstoff (Sustainable Aviation Fuel, SAF) zu produzieren. Das Unternehmen nutzt mikrobielle Fermentation, um Kohlenstoffdioxidemissionen aus Kraftwerken und anderen Industriestandorten in Ethanol umzuwandeln.
- Pflanzenernährung: Bioengineering bringt nachhaltige Alternativen zu synthetischen Stickstoffdüngern hervor und kann so wichtige Effekte auf den Agrarsektor bewirken. Die Fläche, auf der bspw. mikrobielle Stickstoffprodukte des kalifornischen Unternehmens Pivot-Bio Einsatz finden, hat von 3,5 Mio. ha im Jahr 2022 auf 4,7 Mio. ha im Jahr 2023 zugenommen. Das hat zu einer Reduzierung des Verbrauchs von synthetischen Stickstoffdüngern um 80.700 t geführt – und somit zu insgesamt um 932.500 t niedrigeren CO2-Emissionen sowie zu einem um 1,2 Mrd. l geringeren Wasserverbrauch.
Vor den Chancen stehen Hürden
Mit Blick auf die Einführung von Biosolutions nannten sowohl etablierte Unternehmen als auch Biotechnologie-Start-ups hohe Kosten, einen Mangel an geeigneter Großinfrastruktur wie Bioreaktoren sowie fehlende Fachkräfte als einige der größten Hürden. Sie wiesen zudem auf die Komplexität der Umgestaltungen von Lieferketten hin sowie auf stets mögliche Änderungen in der Regulatorik zur Entwicklung und zum Einsatz von Biosolutions.
Um diese Hürden zu überwinden, setzen die Befragten auf Digital- und Engineering-Technologien. Mit diesen können sie Kosten senken, Bioprozesse optimieren und die Markteinführungszeit für Biosolutions verkürzen sowie ökologische und gesellschaftliche Risiken minimieren. In KI sehen sie einen Schlüssel zu effizienteren Forschungs- und Entwicklungsprozessen. Robotik wollen sie für die Prozessautomatisierung einsetzen und digitale Zwillinge von Bioreaktoren, die Produktionsergebnisse prognostizieren, zur Kostensenkung und Skalierung nutzen.
Erfolgsfaktoren für Biosolutions
Aus der Studie geht hervor, dass KI zur Entwicklung und Skalierung von Biosolutions am stärksten verbreitet ist: Während international 70 % sowie 78 % der deutschen Organisationen bereits KI nutzen, haben international erst 20 %, in Deutschland 25 % von ihnen Robotik implementiert und nur 11 % international sowie 7 % der deutschen Unternehmen nutzen digitale Zwillinge.
Um die Einführung von Biosolutions zu fördern, empfiehlt das Capgemini Research Institute Unternehmen, eine umsichtige Strategie und Roadmap zu entwickeln, die Bekanntheit von Biosolutions zu steigern, Nachhaltigkeitsaspekte zu berücksichtigen sowie Konzepte der Kreislaufwirtschaft umzusetzen. Unternehmen, die dabei innerhalb der Grenzen eines klaren, progressiv-regulatorischen Rahmens für die Bioökonomie agieren, können das Potenzial von Biosolutions für ihren Industriezweig maximieren.
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Link zur Studie „Engineering biology: The time is now”
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Dorothea Pohlmann,
Chief Technology Officer Sustainability Germany, Capgemini
Engineering, Ratingen
Oliver Lofink, Senior Director
Innovation & Strategy in
Chemicals, Life Science & High Tech Industries, Capgemini Invent, Köln
ZUR PERSON
Dorothea Pohlmann verantwortet als Chief Technology Officer Sustainability bei Capgemini Engineering die Beratung von Kunden in Business- und Engineering-Transformations-Projekten. Ihr Fokus liegt dabei auf der Entwicklung nachhaltiger Produkte, Zirkulärwirtschaft sowie der Integration von Schlüsseltechnologien – verbunden z. B. mit Wasserstoff, erneuerbaren Energien und Batterien. Die promovierte Physikerin studierte an der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau und begann ihre Berufslaufbahn 2007 bei Altran (heute Capgemini Engineering).
ZUR PERSON
Oliver Lofink berät als Senior Director Innovation & Strategy bei Capgemini Invent Kunden aus den Industriezweigen Spezialchemie, Life Sciences & High Tech. Sein Schwerpunkt liegt auf Strategieentwicklung und -umsetzung, Organisationsdesign & Operating Models sowie digitaler Transformation. Er verfügt über mehr als 25 Jahre internationaler Erfahrung in der Industrie sowie in der Strategie- und Managementberatung. Der Diplomökonom mit MBA-Abschluss arbeitete u. a. für Hoechst und Bayer, bevor er 2007 in die Beratungsbranche wechselte.
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