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Energiewende wieder planbar machen

Für zukunftsfähige Chemieindustrie bedarf es milliardenschwere Investitionen in die Elektrifizierung

14.08.2024 - Die Chemieindustrie ist ein Schlüssel auf dem Weg zur Klimaneutralität, vorausgesetzt es gibt riesige Mengen Grünstrom zu wettbewerbsfähigen Kosten.

Elektrifizierung von Produktionsverfahren, grüne Wasserstoffproduktion durch Elektrolyse, elektrische Dampferzeugung oder elektrochemische CO2-Reduktion: Die Elektrifizierung der Chemieindus­trie hat viele Facetten. Und nicht nur die Ergebnisse der Klimaschutzplattform Chemistry4Climate haben gezeigt: Sie ist ein wesentlicher Schlüssel auf dem Weg zur Klimaneutralität. Doch dazu müssen riesige Mengen Grünstrom dauerhaft und zu wettbewerbsfähigen Kosten verfügbar sein.

Die Technologien sind bekannt. Unternehmen treiben ihre Umsetzung und industrielle Skalierung aktiv voran. Die Energiewende bietet jetzt die Chance, die Chemieproduk­tion von Grund auf neu zu denken, den Weg zur Klimaneutralität zu unterstützen und eine feste Basis für die Zukunft zu erarbeiten. Eine Win-Win-Situation für alle Seiten und ein Selbstläufer bei einem sich beschleunigenden Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugungskapazitäten?

So einfach ist es leider nicht. Als langjähriger Controller sehe ich nicht nur die Zukunftsvision: Die erfolgreiche Umsetzung komplexer Veränderungsprozesse hängt genauso von sorgfältiger Planung und robustem Risikomanagement ab. Und ohne echten Business Case nutzen die beste Vision und Umsetzung nichts. Neue Anlagen und Anlagenanpassungen müssen sich absehbar wirtschaftlich rechnen, um Investitionen in großem Stil auszulösen.

Zentrale Hürden:
hohe Stromkosten und Versorgungssicherheit


Als besonders energieintensive Branche stehen wir im Strombereich vor zahlreichen Herausforderungen. Die zwei zentralen Hürden bei der Elektrifizierung sind die im internationalen Vergleich hohen Stromkosten und die Versorgungssicherheit. Sie schwächen die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen und hemmen bzw. verhindern Investitionen in für die Transformation wichtige strombasierte Verfahren. Besonders fatal ist die mangelnde Planungssicherheit.

Die Stromkosten sind seit ihren krisenbedingten Höchstständen aus dem Jahr 2022 zwar wieder deutlich gefallen. Das Niveau ist aber im Vergleich zu internationalen Wettbewerbsregionen (insbesondere USA und China) nach wie vor nicht konkurrenzfähig. Wichtig ist hier auch die nüchterne Feststellung: Stromkosten sind weit mehr als der Börsenstrompreis. Hinzu kommen diverse Steuern, Abgaben, Umlagen und Netzentgelte, die je nach Unternehmenssituation sehr unterschiedlich ausfallen. Nach dem Rückgang der Gaspreise und damit auch Strompreise sind vor allem zwei Kostentreiber geblieben: Die Netzentgelte und die indirekten Kosten des EU-Emissionshandels

Kosten für Netzausbau geschätzt bei 460 Mrd. EUR

Die Stromnetzentgelte haben sich in den letzten Jahren zu einem der größten Kostentreiber der Energiewende entwickelt. Der von der Bundesregierung gestrichene Zuschuss zu den Netzentgelten in Höhe von 5,5 Mrd. EUR hat Anfang 2024 bereits zu einer Verdopplung der Netzentgeltbelastung geführt. Ohne politisches Gegensteuern ist ein weiterer Anstieg zu erwarten, da mit dem fortschreitenden Ausbau der erneuerbaren Energien zuerst einmal die Kosten für Betrieb, Unterhaltung und Ausbau der Netze steigen werden. Allein die Kosten für den Netzausbau bis 2045 betragen gemäß vorläufiger Schätzungen der Bundesnetzagentur und des Bundesrechnungshofs etwa 460 Mrd. EUR. Viele energieintensive Unternehmen sind bisher zwar von einem Teil der Netzentgelte entlastet. Wie es mit dieser Entlastungsregelung nach dem Auslaufen der bisherigen Regelung weitergeht, ist allerdings noch nicht klar geregelt.

Da der Netzausbau noch immer deutlich hinter dem Plan zurückliegt, ist auch der Anteil des Engpassmanage­ments  an den Netzkosten in den letzten Jahren signifikant gestiegen. Maßnahmen zur Stabilisierung des Netzes verursachen bei einigen Übertragungsnetzbetreibern mittlerweile mehr als die Hälfte der gesamten Netzkosten. Etwa, wenn im Norden Windkraftanlagen abgeschaltet und im Süden fossile Kraftwerke hochgefahren werden müssen, weil die Stromtrassen an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Besserung ist voraussichtlich erst mittelfristig in Sicht. Bis mindestens 2028 prognostiziert der Bundesrechnungshof weiter steigende Kosten. Zur Unsicherheit über die Entwicklung der Stromkosten kommt die Frage, wie sich die Stromversorgungssicherheit in Deutschland entwickelt. Der Bundesrechnungshof warnt vor unzureichenden Kapazitäten und einem erheblichen Rückstand beim Netzausbau, der die Versorgungs­sicherheit gefährdet.

 

Zentral für die Energiewende ist eine deutlich bessere Synchronisation von Erneuerbaren-Ausbau, dem Bau von Backup-Kraftwerken, Energiespeichern und der Netzinfrastruktur.

- Matthias Belitz, Leiter des Bereichs Nachhaltigkeit, Energie & Klimaschutz, VCI, Berlin



Mit dem beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugungskapazitäten nimmt die Volatilität der Energieerzeugung zu. Damit die Stromversorgung und die Netzstabilität jederzeit gesichert sind, muss genug steuerbare Kraftwerkskapazität installiert sein – es muss also kurzfristig genug Strom erzeugt werden können, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. Um den Kohleausstieg 2030 ohne Einbußen bei der Versorgungssicherheit zu ermöglichen, wird geschätzt, dass bis 2030 bzw. 2035 20 – 40 GW gesicherte Leistung zugebaut werden müssen. Das wären etwa 40 bis 80 große Gaskraftwerke. Experten gehen davon aus, dass Genehmigung und Bau eines neuen Kraftwerks vier bis sechs Jahre und bei neuen Standorten sogar bis zu acht Jahren dauern. In konkreter Planung befinden sich aber erst ganz wenige – auch, da die angekündigten Kraftwerksausschreibungen immer noch auf sich warten lassen.


Zusätzliche Investitionen für Backup-Kraftwerke und Energiespeicher

Was gilt es jetzt zu tun, um die Energiewende auf einen vernünftigen Pfad zu führen? Zentral ist eine deutlich bessere Synchronisation von Erneuerbaren-Ausbau, dem Bau von Backup-Kraftwerken, Energiespeichern und der Netzinfrastruktur. Außerdem brauchen die Unternehmen die Perspektive, dass zukünftige Stromkosten wettbewerbsfähig sind und sie versorgungssicher produzieren können.

Deshalb muss ein weiterer Anstieg der Netzentgelte für die Industrie vermieden werden. Strominfrastruktur ist eine Daseinsvorsorge. Entsprechend muss der Staat sich hier beteiligen – etwa, indem die Transformationskosten herausgelöst und aus dem Haushalt finanziert werden. Außerdem dürfen bestehende Entlastungsregelungen nicht abgeschafft werden. Vor allem die bislang nur bis Ende 2025 gültige Stromsteuersenkung sollte, wie kürzlich von der Bundesregierung angekündigt, entfristet werden. Den Empfängerkreis der Strompreiskompensation gilt es auszuweiten. Für die bestehenden individuellen Entlastungsregelungen bei Netzentgelten muss eine tragfähige Folgeregelung gefunden werden.

Um die Stromversorgungssicherheit zu gewährleisten, ist die Kraftwerkstrategie rasch zu finalisieren und der Bau verlässlicher Backup-Kraftwerke zu initiieren. Dabei muss auch klar sein, wie das Vorhalten von Reservekapazitäten entlohnt wird und endlich Investitionen in neue Kraftwerke realisiert werden. Darüber hinaus brauchen wir eine umfassende Speicherstrategie, damit Spitzen der Stromerzeugung kosten­effizient gepuffert werden können.

Ausbaufortschritte bei Wind- und Solarstrom sind besser mit dem kosteneffizienten Ausbau der Netz- und Speicherinfrastruktur und Backup-Kapazitäten zu synchronisieren. Nur der Ausblick auf wettbewerbsfähige Stromgesamtkosten und Versorgungssicherheit führen zu grünem Licht für milliardenschwere Investitionen in die Elektrifizierung – die Grundvoraussetzung, damit der Umbau der Branche mit voller Kraft weitergehen kann.

Matthias Belitz, Leiter des Bereichs Nachhaltigkeit, Energie & Klimaschutz, Verband der Chemischen Industrie e. V., Berlin

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Zur Person

Matthias Belitz ist Leiter des Bereichs Nachhaltigkeit, Energie & Klimaschutz beim Verband der Chemischen Industrie. Der Diplom-Betriebswirt ist seit 2023 für den Branchenverband in Berlin tätig. Von 2006 bis 2022 hatte er verschiedene Positionen bei BASF inne.

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