Logistik-Netzwerkdesign: Resilienz neu denken
Supply-Chain-Risiken proaktiv minimieren
Viele Unternehmen sind aktuell nicht in der Lage, ein Exzellenzniveau in der Logistik zu erreichen, das ein stabiles operatives Geschäft sicherstellt. In den letzten Jahren lässt sich zunehmend der Trend beobachten, dass sich zentrale Logistik-Key-Performance-Indicators (KPIs) negativ entwickeln. Initiativen, um dieser Entwicklung gegenzusteuern, z.B. Shopfloor-Optimierungsprojekte, bringen hierbei oftmals nicht den gewünschten Erfolg – woran liegt das?
Die Antwort liegt nicht auf der Shopfloor-Fläche selbst, sondern im Außensystem, der Umwelt. Die Rahmenbedingungen, denen Unternehmen ausgesetzt sind, sind zunehmend gekennzeichnet durch Unsicherheit und Volatilität. In jüngster Vergangenheit gab es eine zunehmende Anzahl an Ereignissen mit negativem Einfluss auf Lieferketten, auch Disruptionen genannt. Um hier ein paar Beispiel zu benennen: der Ukraine-Krieg (gesperrter Luftraum), die Corona-Pandemie (Ausfall von Arbeitskräften), die Blockade des Suez-Kanals (Blockierung der Hauptroute zwischen Asien und Europa für die Schifffahrt). Die Ursachen für Disruptionen sind generell in den verschiedensten Bereichen zu finden, u.a. Gesundheit, Politik und Naturkatastrophen.
Auswirkungen von Disruptionen auf die Lieferketten von Unternehmen
Was jedoch alle Disruptionen gemeinsam haben, sind die massiven Auswirkungen auf Supply Chains. Diese beschränken sich nicht nur auf die operative Logistik, sondern haben einen spürbaren Effekt auf den Unternehmenserfolg.
Disruptionen werden meist zuerst durch operative Störungen sichtbar. Wenn Lieferketten unterbrochen werden, können Unternehmen Schwierigkeiten haben, ihre Produkte rechtzeitig an Kunden zu liefern. Sobald Schlüsselkomponenten oder Rohstoffe nicht verfügbar sind, gerät die Produktion ins Stocken. Das kann dann wiederum zu Umsatzverlusten führen. Finanzielle Auswirkungen auf das Unternehmen entstehen ebenso durch Kostensteigerungen, die durch alternative Beschaffungsmethoden, Expressversand oder Lagerhaltung verursacht werden.
Wenn Kunden aufgrund von Lieferproblemen oder Qualitätsmängeln unzufrieden sind, beeinträchtigt dies das Ansehen des Unternehmens. Es entstehen Reputationsschäden. Negative Schlagzeilen über Lieferkettenprobleme haben das Potenzial, das Vertrauen der Verbraucher nachhaltig zu erschüttern. Die langfristige Folge ist der Verlust von Marktanteilen und ein entsprechender Umsatzrückgang, speziell wenn die Lieferketten von Wettbewerbern sich im Zuge einer Disruption als widerstandsfähiger herausstellen und eine Kundenabwanderung in Gang kommt.
Zusätzlich zu einer Verlagerung der Umsätze zwischen Unternehmen entstehen im Zuge globaler Lieferkettenstörungen auch für ganze Branchen massive Verluste. Im Durchschnitt müssen z.B. Chemieunternehmen im Laufe eines Jahrzehnts mit Verlusten in Höhe von mehr als einem Drittel der Jahresgewinne rechnen, die durch Disruptionen verursacht werden.
„Die Rahmenbedingungen, denen Unternehmen ausgesetzt sind, sind zunehmend gekennzeichnet durch Unsicherheit und Volatilität.“
Disruptionen heute: unvorhersehbar, häufiger und kurzfristiger
Um diesem Trend entgegenzusteuern, müssen Unternehmen ihr Versorgungs- und Distributions-Netzwerke neu denken. Resilienz ist dabei ein Schlüsselkonzept, insbesondere angesichts der zunehmenden Komplexität globaler Lieferketten und der Vielzahl an Herausforderungen. Um die richtigen Maßnahmen zu treffen, ist es essenziell, die zentralen Merkmale der jüngsten Disruptionen zu verstehen: Unvorhersehbarkeit, Häufigkeit und Parallelität sowie Kurzfristigkeit.
Unvorhersehbarkeit: Niemand hat die großen Krisen und ihre disruptiven Auswirkungen kommen sehen. Vorhersagen und Wahrscheinlichkeiten basieren oftmals auf historischen Entwicklungen und haben wenig Aussagekraft bezüglich einer zukünftigen Eintrittswahrscheinlichkeit. Risikowahrscheinlichkeiten in klassischen Ansätzen machen in Bezug auf Supply-Chain-Disruptoren keinen Sinn, da man nicht von der Vergangenheit auf die Zukunft schließen kann.
Häufigkeit und Parallelität: Wir durchleben eine Multi-Crisis-Zeit – die Anzahl an Ereignissen, welche globale Lieferketten nachhaltig in erheblichem Maße erschüttert haben, ist in den letzten Jahren massiv gestiegen – die Wechselwirkungen paralleler Krisen sind komplex und die einzelnen Auswirkungen auf ein Logistiknetzwerk schwer zu antizipieren.
Kurzfristigkeit: Aktuelle Disruptionen sind charakterisiert durch ihre hohe Auswirkung auf die Netzwerkstabilität und eine sehr geringe „Time-to-Sustain“. Das heißt, dass der Effekt einer Störung sehr kurzfristig nach dem disruptiven Ereignis eintritt und die Stabilität des Netzwerks nur noch kurz aufrechterhalten werden kann. Dies lässt Unternehmen kaum Zeit zu reagieren.
„Disruptionen werden meist zuerst durch operative Störungen sichtbar.“
Neue Ansätze als Schlüssel für höhere Netzwerk-Resilienz
Wie können sich Unternehmen in einem derartig komplexen Umfeld gegen Disruptionen rüsten und das Thema Resilienz strukturell weiterentwickeln?
Aktuell beschäftigen sich vielversprechende Ansätze damit, nicht das Störungsereignis selbst zu antizipieren, sondern die Auswirkungen einer Störung auf kritische Segmente des Netzes zu verstehen und zu messen. Im Mittelpunkt dieses Konzepts steht, die strukturelle Anfälligkeit eines Netzwerks zu analysieren, (monetär) zu bewerten und entsprechende Maßnahmen abzuleiten und wiederum deren Effekt zu analysieren.
Der zentrale Gedanke hierbei ist, die Tatsache zu akzeptieren, dass es nicht möglich ist, Störereignisse über eine Eintrittswahrscheinlichkeit zu bewerten, sondern den Effekt des Ausfalls von Strukturen im Netzwerk – also die Auswirkung einer möglichen Störung – zu bewerten, um so strukturelle Schwachstellen aufzudecken und Risikominderungsstrategien abzuleiten. Dies geschieht via Simulation von „Was-wäre-wenn“-Szenarien.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die richtigen Fragen zu stellen – ein Beispiel:
- Falsche Frage: Wie wahrscheinlich ist es, dass der Vulkan Eyjafjallajökull wieder ausbricht und den Flugverkehr über weiten Teilen Europas zum Erliegen bringt?
- Richtige Frage: Was bedeutet es für mein Logistiknetzwerk, wenn die meisten Flughäfen in Europa geschlossen werden? Wie hoch sind meine Verluste in einem solchen Fall?
Letztere Frage und ähnliche lassen sich dank modernster Technologie mit Hilfe eines digitalen Zwillings beantworten. Im Logistikkontext bedeutet das, dass ein virtuelles Modell des realen Netzwerks modelliert wird, das dessen Eigenschaften und Verhalten in Echtzeit simuliert. Dieses Konzept ermöglicht die Analyse, Vorhersage (Simulation) und Optimierung von Prozessen in einer virtuellen Umgebung, was eine Vorbereitung eines Plans B ergibt oder bereits zu einem Finetuning des Netzwerks führt.
An einem solchen Modell ist es möglich, eine hohe Anzahl von Disruptionsszenarien zu simulieren und ihren Effekt auf zentrale Kennzahlen, wie z.B. das Servicelevel, zu messen. Durch dieses Vorgehen kristallisieren sich die Szenarien heraus, welche den stärksten negativen Effekt auf die definierten Kennzahlen haben und damit folglich das größte (finanzielle) Risiko darstellen.
Auf Basis dieser Erkenntnis lassen sich Modifikationen im Netzwerkmodell vornehmen, um den Effekt der Disruptionsszenarien zu mindern, z.B. in Form von Lieferantendiversifikation, also der Aufschaltung von Zweit- und Drittlieferanten bei kritischen Produktgruppen an verschiedenen geografischen Orten. Im Lagerbestandsmanagement können Sicherheitsbestände von Roh-, Halb- oder Fertigprodukten in bestimmten – zusätzlichen – Lagern erhöht werden. Das Aufstellen alternativer Transportrouten, z.B. durch Definition weiterer „Lanes“ und Aufschaltung entsprechender Transportdienstleister zur Entlastung kritischer Routen, stellt Routings und Transportkapazitäten sicher. Durch die Entwicklung einer flexiblen und priorisierten Auftragssteuerung in den Bereichen Produktion und Logistik lassen sich die Auswirkungen von Disruptionen ebenfalls minimieren.
Diese Risikominderungsstrategien können wiederum im Modell simuliert und hinsichtlich ihres Effekts in der Gesamtheit aller Disruptionsszenarien differenziert bewertet werden. Durch diese neue Sichtweise werden Unternehmen in die Lage versetzt, strukturelle Risiken in ihrem Netzwerk konkret bewerten zu können und effektive Risikopräventionsmaßnahmen abzuleiten. Die klassische Netzwerkoptimierung ist sicherlich nach wie vor wichtig, die Kür ist aber eine Resilienz-Simulation, die auch sehr kurzfristig durchgeführt werden kann.
„Um die richtigen Maßnahmen zu treffen, ist es essenziell, die zentralen Merkmale der jüngsten Disruptionen zu verstehen.“
Die richtigen Entscheidungen ableiten für das Logistik-Netzwerkdesign
Was kostet es Ihr Unternehmen, wenn einer Ihrer Kernrohstoffe der Produktion für drei Tage nicht verfügbar ist?
Derartige Fragen lassen sich anhand von Berechnungen am Modell eindeutig beantworten. So kann für eine Maßnahme, die zur Minderung struktureller Risiken führt, ein klarer Business Case errechnet werden, um die richtigen Entscheidungen abzuleiten. Unternehmen müssen nicht erst die verheerenden Auswirkungen einer Supply-Chain-Disruption erfahren, um zu reagieren, sondern können proaktiv die Schwachstellen ihrer Lieferkette mit sinnvollen Maßnahmen ausbessern.
Unternehmen, die sich mit dem strategischen Thema „Risiko und Resilienz“ rechtzeitig auseinandersetzen, bieten ihrer operativen Logistik gesunde Rahmenbedingungen für eine nachhaltig positive Entwicklung der Performance und werden sich langfristig strategische Wettbewerbsvorteile sichern.
State-of-the-Art-Netzwerkdesign beschäftigt sich nicht nur mit der reinen Kostenoptimierung, sondern ist in der Lage, Risiken zu bewerten und hilft Unternehmen, strategische Entscheidungen zu treffen, die ihr Netzwerk resilienter machen.
Was wird die nächste Disruption sein, die niemand hat kommen sehen? Seien Sie vorbereitet!
Autoren:
Constantin Reuter, Head Logistics Strategy, Supply Chain Network Design & Sourcing, Camelot Management Consultants, Basel, Schweiz
Julian Bellmann, Managing Consultant, Supply Chain Network Design & Sourcing, Camelot Management Consultants, Hamburg
Zur Person
Constantin Reuter studierte Betriebswirtschaft mit dem Schwerpunkt Logistik und Organisation an der Universität Mannheim. Nach Stationen u.a. als Logistikeinkäufer bei Hoechst Procurement International und Supply Chain Manager bei Clariant wechselte er zu Camelot Management Consultants, wo er den Beratungsbereich Logistics Strategy, Supply Chain Network Design & Sourcing leitet.
Zur Person
Julian Bellmann unterstützt als Berater bei Camelot Management Consultants Unternehmen dabei, die richtige Strategie für ihr Logistik-Netzwerkdesign zu finden. Nach seinem Studium der Wirtschaftswissenschaften war er u.a. als Teamleiter Operative Logistik International bei Lidl tätig und sammelte tiefgreifende Unternehmenserfahrung im Bereich Supply Chain Operations.
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