EU-Lieferkettengesetz könnte Prozesslawine auslösen
Individuelles Klagerecht Betroffener macht Verfahren für Prozessfinanzierer attraktiv
Nach der Verabschiedung der Richtlinie müssen deren Vorgaben binnen zwei Jahren in nationales Recht überführt werden. Die aktuellen Diskussionen dazu in der Industrie konzentrieren sich auf die praktische Umsetzung der aufgeführten Sorgfaltspflichten. Dabei wird häufig ein Aspekt außer Acht gelassen, der erhebliche juristische Sprengkraft birgt: Das künftige individuelle Klagerecht für Geschädigte könnte absehbar zu einer Prozesslawine gegen Unternehmen führen, die die Vorgaben der Richtlinie nicht ernst nehmen.
Das deutsche Lieferkettengesetz, das im Januar vergangenen Jahres in Kraft getreten ist, traf auch in der Chemiebranche auf scharfe Kritik. Unternehmen klagen über exzessive Berichtspflichten, die sie teils bereits im Rahmen bestehender Vereinbarungen erfüllt haben und nun parallel erneut erbringen müssen, oder die Verantwortung für Schritte innerhalb der Wertschöpfungskette, die sie seriös gar nicht überprüfen können.
Die Industrie verfolgte daher die Debatte um die geplante EU-Richtlinie „zur unternehmerischen Sorgfaltspflicht im Bereich der Nachhaltigkeit“ (meist verkürzt als EU-Lieferkettengesetz bezeichnet) von Beginn an mit gemischten Gefühlen. Der Hoffnung, dass nach dem deutschen Alleingang künftig gleiche Regeln für alle europäischen Wettbewerber gelten, steht die (berechtigte) Sorge entgegen, das deutsche Lieferkettengesetz in seiner heutigen Form könnte durch die EU-Vorgaben nochmals verschärft werden.
Nachdem sich die Mitgliedsstaaten im März auf einen leicht abgeschwächten Entwurf geeinigt haben, wird das Europäische Parlament der Richtlinie aller Voraussicht nach im Mai zustimmen. Die darin enthaltenen Überwachungspflichten sind sehr ambitioniert und gehen zweifellos über die Vorgaben des bestehenden deutschen Lieferkettengesetzes noch hinaus.
„Nach der Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Recht dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis eine Klagewelle über hier ansässige Unternehmen hereinbricht.“
Vorbereitung in sechs Schritten
Konkret sind sechs Schritte abzuarbeiten, die sich an den OECD-Leitlinien für die Sorgfaltspflicht bei verantwortungsvollem Geschäftsgebaren orientieren. Dazu gehören im Einzelnen
- die Integration der Sorgfaltspflichten in die Unternehmenspolitik und die Managementsysteme,
- die Identifizierung und Bewertung nachteiliger Menschenrechts- und Umweltauswirkungen,
- die Verhinderung, Beendigung oder Minimierung tatsächlicher und potenzieller nachteiliger Menschenrechts- und Umweltauswirkungen,
- eine Bewertung der Wirksamkeit entsprechender Maßnahmen, begleitende Kommunikation und schließlich
- die Bereitstellung von Abhilfemaßnahmen.
Vor diesem Hintergrund konzentriert sich die Diskussion innerhalb der Branche aktuell darauf, ob Unternehmen diesen Ansprüchen überhaupt gerecht werden können und wie sich das im Geschäftsalltag praktisch umsetzen lässt. Besonders spannend bleibt hierzulande auch die Frage, wie der Gesetzgeber die EU-Richtlinie konkret in nationales Recht überführen wird.
Passus könnte Prozesslawine auslösen
Beide Aspekte sind zweifellos von zentraler Bedeutung. Allerdings versteckt sich in der Richtlinie ein weiterer, bislang wenig diskutierter Passus, der erhebliche juristische Sprengkraft birgt: Die Mitgliedsstaaten müssen nämlich dafür sorgen, dass künftig Einzelpersonen, die sich als Betroffene von Menschenrechtsverletzungen oder Umweltschäden sehen, vor Zivilgerichten auf Schadensersatz klagen können. Das geltende deutsche Lieferkettengesetz hatte bisher ausdrücklich klargestellt, dass Pflichtverletzungen keine zivilrechtliche Haftung begründen.
Was zunächst wie eine Petitesse wirken mag, hat absehbar weitreichende Konsequenzen. Betroffene Personen können nämlich nicht nur ein individuelles Verfahren anstoßen oder sich der Sammelklage bspw. einer NGO oder Gewerkschaft anschließen, sondern auch ein Unternehmen beauftragen, das sich auf die Finanzierung von Prozessen spezialisiert hat. Solche Gesellschaften, die im Erfolgsfall einen Anteil an der erstrittenen Schadensersatzsumme erhalten, treten in Deutschland immer häufiger auf. Das ist ein profitables und völlig legales Geschäftsmodell.
Rechtsstreitigkeiten können sich lange hinziehen und erhebliche Kosten insbesondere für die Rechtsverteidigung oder Gutachten verursachen. Ein Unternehmen, das diese Kosten vorfinanziert und sich möglicherweise am Risiko beteiligt, erleichtert es einem Geschädigten, sein Recht durchzusetzen. Das ermöglicht einerseits Geschädigten, die individuell das Kostenrisiko eines Gerichtsprozesses nicht tragen könnten, das Durchsetzen ihrer Ansprüche. Andererseits bieten die Gewinnaussichten für die beteiligten Unternehmen natürlich Anreize, möglichst viele erfolgversprechende Verfahren aktiv anzustoßen.
Im Unterschied zu den USA, wo mit Sammelklagen teils spektakuläre Strafzahlungen erstritten werden, kennt das deutsche Recht diesen sog. ‚strafenden Schadenersatz‘ nicht, und auch die EU-Richtlinie schließt das explizit aus. Deshalb ist hierzulande entscheidend, welcher konkrete Schaden dem Betroffenen im Einzelfall entstanden ist. Bei einer Bündelung individueller Verfahren, die auf ähnlichen Vorwürfen beruhen, können dennoch erhebliche Summen zusammenkommen. Deshalb dürfte es nach der Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Recht nur eine Frage der Zeit sein, bis eine entsprechende Klagewelle über hier ansässige Unternehmen hereinbricht.
Individuelle Risiken abschätzen
Das finanzielle Risiko aus derartigen Klagen hängt maßgeblich davon ab, was ein Unternehmen herstellt, welche Rohstoffe es verarbeitet und wie gut es die künftigen Anforderungen antizipiert und entsprechende Maßnahmen umsetzt. Wertschöpfungsketten, die auch nur eine geringe Exposition zu Krisengebieten oder Regionen mit prekären Menschenrechts- oder Umweltschutzstrukturen aufweisen, sind naturgemäß besonders anfällig. Gleiches gilt für besonders komplexe Lieferketten, bei denen sich die Herkunft einzelner Bestandteile nur schwer oder – z. B. bei Schrotten oder recycelten Inhalten – faktisch gar nicht ermitteln lässt.
In diesem Zusammenhang wird auch das künftige Sanktionsregime eine wichtige Rolle spielen. Derzeit kontrolliert das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) die Einhaltung des deutschen Lieferkettengesetzes. Obwohl die Behörde über erhebliche Sanktionsmöglichkeiten verfügt, die von hohen Bußgeldern bis zum zeitweiligen Ausschluss von öffentlichen Ausschreibungen reichen, hat sie bislang mit viel Augenmaß agiert. Es bleibt abzuwarten, ob der Gesetzgeber die künftigen Verpflichtungen weiterhin im Rahmen der Kontrolle durch das BAFA oder eher im Rahmen der zivilrechtlichen Unternehmenshaftung konkretisiert.
Vorlaufzeit effektiv nutzen
Nach der erwarteten Verabschiedung der EU-Richtlinie noch vor dem Sommer 2024 haben die Mitgliedsstaaten zwei Jahre Zeit, deren Vorgaben in nationales Recht zu übertragen. Die entsprechenden Gesetze werden also voraussichtlich spätestens ab 2027 greifen. Unmittelbar betroffen sind zunächst nur Unternehmen mit mehr als 5.000 Mitarbeitern und einem weltweiten Konzernumsatz von über 1,5 Mrd. EUR. Ab 2028 sinken diese Schwellen auf 3.000 Mitarbeiter und 900 Mio. EUR und dann ab 2029 nochmals auf 1.000 Mitarbeiter und 450 Mio. EUR, sofern der deutsche Gesetzgeber hier nicht über die europäischen Vorgaben hinausgeht.
Allen Gesellschaften, die unter diese Vorgaben fallen, ist dringend zu raten, mögliche Angriffsflächen für juristische Attacken so weit wie möglich zu minimieren. Das gilt nicht zuletzt deshalb, weil einschlägige Gerichtsverfahren unabhängig von ihrem Ausgang erhebliche Ressourcen binden und dem guten Ruf des Unternehmens erheblich schaden können.
Vorbereitung in zwei Phasen
Diese Vorbereitung verläuft üblicherweise in zwei Phasen. Dabei werden zunächst die eigenen Prozesse analysiert und an den umfassenden neuen Pflichtenkatalog angepasst. Anschließend ist zu definieren, wie sich die Einhaltung der Vorgaben im Geschäftsalltag dokumentieren und nachweisen lässt.
In der Umsetzung werden bspw. Zuständigkeiten und Berichtslinien definiert, passende Ressourcen und Kompetenzen aufgebaut und robuste Prozesse installiert, mit denen sich das Handeln der eigenen Zulieferer überprüfen und dokumentieren lässt. Insbesondere mit Blick auf die Überprüfung der Lieferketten ist gut vorstellbar, dass Zertifizierungsunternehmen hier in naher Zukunft entsprechende Nachweise anbieten.
All dies erfordert Zeit und Ressourcen, sodass man die verbleibenden zwei Jahre bis zur Umsetzung effektiv nutzen sollte. Dazu gehört in aller Regel eine umfassende Beratung, um die zwingend notwendige Compliance herzustellen.
Philipp Kärcher, Partner, Watson Farley & Williams, Frankfurt am Main
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Zur Person
Philipp Kärcher leitet das Frankfurter Büro und die deutsche Gruppe zur Streitbeilegung der internationalen Anwaltskanzlei Watson Farley & Williams (WFW). Er berät nationale und internationale Mandanten in allen Bereichen der Prozessführung und Schiedsgerichtsbarkeit sowie der alternativen Streitbeilegung. Nach dem Abschluss des Jurastudiums in Heidelberg im Jahr 2002 war er zunächst für mehrere nationale und internationale Wirtschaftskanzleien tätig, bevor er Anfang 2020 zu WFW stieß.
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