Medikamente sicher zu den Patienten bringen
Die Rolle von Maschinenbauern in der sich wandelnden Pharmaindustrie
Die pharmazeutische Industrie verändert sich aktuell so rasant wie schon lange nicht mehr. Dafür sorgen zahlreiche neue Medikamente und Therapieansätze. Auch neue Regularien sowie Bestrebungen hin zu mehr Nachhaltigkeit und Digitalisierung spielen eine wichtige Rolle. CHEManager sprach im Vorfeld der Achema 2024 mit Andreas Mattern, Vice President Strategy & Global Product Management Pharma bei Syntegon, über die aktuellen Trends und die besondere Rolle von Maschinenbauern.
CHEManager: Herr Mattern, Sie beobachten den Pharmamarkt sehr genau. Welche Trends haben Sie für Syntegon als Maschinenbauer identifiziert?
Andreas Mattern: Tatsächlich befindet sich die pharmazeutische Industrie in einem rasanten Wandel. War die Herstellung von Medikamenten in großen Mengen jahrzehntelang der Maßstab, so bedingen seltene Krankheiten heute immer kostspieligere Präparate. Diese wiederum erfordern ein hohes Engagement in Forschung und Entwicklung, auch hinsichtlich neuer Maschinenkonzepte. Ein Beispiel sind Klein- und Kleinstchargen, etwa für die Zell- und Gentherapie. Doch auch Hochleistungsanlagen sind weiterhin gefragt, zum Beispiel für die aktuell heiß diskutierte Abnehmspritze, das Stichwort ist hier Semaglutid.
In allen Ausbringungsbereichen geht der Trend klar hin zu einem höheren Grad an Automatisierung und dem Einsatz von ausgeklügelter Robotik. Dies wird seit letztem August jetzt auch offiziell durch den überarbeiteten EU GMP Annex 1 gefordert und wirkt sich nicht nur auf die Produktionsprozesse in Europa, sondern auf der ganzen Welt aus. Darüber hinaus sehen wir zahlreiche Bemühungen produzierender Pharmaunternehmen, ihre Prozesse nachhaltiger zu gestalten und ihre CO2-Emissionen zu verringern. Auch dafür haben wir als Zulieferer Antworten parat.
„Oft helfen kleine Stellschrauben, den Verbrauch an Energie und Wasser bei Destillationsanlagen deutlich zu reduzieren.“
Wie lautet Ihre Antwort bezüglich Nachhaltigkeit in der emissionsintensiven Pharmaindustrie?
A. Mattern: Zum einen entwickeln wir neue Anlagen von Beginn an mit dem Nachhaltigkeitsgedanken im Hinterkopf. Das bedeutet vor allem, Prozesse hinsichtlich Energie- und Medienverbräuchen zu optimieren oder sogar gänzlich neue Technologien zu konzipieren. Zum Beispiel erzeugt das „kalte“ Verfahren für die Herstellung von WFI, also Wasser für Injektionszwecke, insgesamt bis zu 90 % weniger CO2-Emissionen als die etablierten „heißen“ Verfahren mittels Destillation. Auch bei Bestandsanlagen helfen kleine Stellschrauben wie Software-Updates, die etwa den Verbrauch an Energie und Wasser bei Destillationsanlagen im Standby-Modus um bis zu 90 % reduzieren.
Ein weiterer wichtiger Hebel ist die Berechnung des CO2-Fußabdrucks. Unsere Life Cycle Assessments umfassen die durchschnittliche Lebensdauer der Anlagen, aber auch die Zeiten für die Inbetriebnahme, das Aufheizen von Werkzeugen und die Durchführung von Wartungsarbeiten sowie die Stillstandzeiten. Darüber hinaus können wir auch den Einfluss der Verpackungsmaterialien auf die Emissionen berechnen. Voraussetzung dafür ist eine gute Datenbasis, die insgesamt im Zuge der Digitalisierung an Bedeutung gewinnt.
Daten sind also auch in der Pharmaindustrie der „neue Rohstoff“. Wie können Maschinenbauer wie Syntegon bei der Digitalisierung unterstützen?
A. Mattern: Ohne digitale Angebote wäre unser Portfolio nicht komplett. Wir haben in den vergangenen Jahren viel Zeit und Entwicklungsarbeit in die neue cloudbasierte Software Synexio gesteckt. Diese ermöglicht die orts- und zeitunabhängige Erfassung, Auswertung und Visualisierung von Maschinen- und Produktionsdaten. Neben der Visualisierung von Kennzahlen und Maschinenverfügbarkeit sowie der Ermittlung von konkretem Verbesserungspotenzial umfasst die Lösung jetzt auch weitere Funktionen wie Schulungsinhalte in Form von webbasierten Trainings oder operative Arbeitsanweisungen.
„Vollautomatisierte Produktionszellen mit handschuhlosem Isolator und integrierter Luftaufbereitung sind im Kommen.“
Sie erwähnten zu Beginn den Bedarf an mehr Robotik und einem erhöhten Automatisierungsgrad. Welchen Einfluss hat der neue Annex 1 darauf?
A. Mattern: Im zweiten Kapitel des Annex 1 werden unter der Überschrift „Appropriate Technologies“ Automatisierungs- und Robotersysteme explizit hervorgehoben. Der Einsatz dieser Technologien kann menschliche Eingriffe in Barrieresysteme – und somit das Kontaminationsrisiko – auf ein Minimum reduzieren oder sogar ganz vermeiden. Dies ist eine der größten Herausforderungen von Annex 1: die aseptische Prozessumgebung vom Bedienpersonal zu trennen. Entsprechend haben wir einen richtigen Ansturm auf Nachrüstungen mit RABS, also von Barrieresystemen, die eine physische Absperrung zwischen Arbeitern und Produktionsbereichen bieten, erlebt.
Bei Neumaschinen sind handschuhlose Systeme mit Robotik im Kommen. Ein Beispiel dafür ist unsere Versynta MicroBatch. Die vollautomatisierte Produktionszelle mit handschuhlosem Isolator und integrierter Luftaufbereitung haben wir gemeinsam mit unserem Partner Vetter entwickelt. Sie füllt zwischen 120 und 500 Behältnissen pro Stunde ab und beantwortet so einen weiteren Trend: den Bedarf an Anlagen für Kleinstchargen, wie etwa bei neuen Zell- und Gentherapien. Bei diesen kostspieligen Medikamenten stehen hohe Flexibilität hinsichtlich Behältnisarten und -größen sowie eine höchstmögliche Produktausbeute im Vordergrund.
Als weiteren Trend haben Sie die sogenannte Abnehmspritze ins Spiel gebracht. Wie entwickelt sich dieser Markt – und mit welchen Auswirkungen für Maschinenbauer?
A. Mattern: Bereits im Juni 2021 hat die FDA-Zulassung einer hochdosierten injizierbaren Version des Inkretinmimetikums Semaglutid die Nachfrage angekurbelt. Im Januar 2022 erfolgte die Freigabe zur Verwendung in der Europäischen Union. Indem diese neuen Medikamente Adipositas wirksam verhindern oder reduzieren, bekämpfen sie auch Begleiterkrankungen wie Herz-Kreislauf- oder Nierenleiden. Doch vor allem kontrollieren sie dank ihrer gewichtsreduzierenden Wirkung einen der Hauptrisikofaktoren für Typ-2-Diabetes und eignen sich somit als vorbeugende Behandlungsmethode. Die wenigen bisher zugelassenen Präparate mit einmal wöchentlicher Einnahme haben einen regelrechten Wettlauf um weitere Medikamente entfacht.
Verabreicht werden die flüssigen Pharmazeutika entweder als Fertigspritze im Autoinjektor oder als Pens auf Basis von Karpulen. Diese stellen produzierende Unternehmen jedoch vor ganz eigene Herausforderungen, denen wir mit unserem umfassenden Anlagenportfolio begegnen können – und natürlich bereits tun: Die Behältnisse müssen gereinigt, silikonisiert, sterilisiert und einzeln befüllt werden. Auch hier spielt der neue Annex 1 wieder eine Rolle: Langfristig wird sich die Isolatortechnik als Standard etablieren, da sie automatische Biodekontaminationsprozesse und eine stabile Druckdifferenz zur Bedienerumgebung gewährleistet. Neben einer hohen Ausbringung braucht es dann noch eine sehr gründliche Inspektion und flexible Montage.
Jetzt haben wir viel über flüssige Pharmazeutika gesprochen. Wie sieht es denn bei den festen Darreichungsformen aus, Stichwort Continuous Manufacturing?
A. Mattern: Ein sehr guter und wichtiger Punkt, dem wir uns auf der Achema dieses Jahr besonders widmen. Aktuell prüfen viele Unternehmen den Umstieg von der Batch-Produktion auf die kontinuierliche Herstellung. Dies wurde durch die Veröffentlichung der Leitlinien des ICH, also des International Council for Harmonisation, für die kontinuierliche Arzneimittelfertigung im März 2023 weiter vorangetrieben. Für 2024 und die kommenden Jahre sind daher viele Innovationen in diesem Bereich zu erwarten. Syntegon hat bereits seit einigen Jahren eine entsprechende Lösung im Portfolio und arbeitet mit mehreren strategischen Partnern zusammen.
Die Xelum Plattform dosiert und mischt Wirk- und Hilfsstoffe als einzelne Pakete, die die Prozesskette kontinuierlich durchlaufen und fortlaufend aus der Anlage entnommen werden. Die Prozessparameter lassen sich ohne Scale-up von der Entwicklungs- auf die Produktionsanlage übertragen. Doch wir zeigen auf der Messe noch viel mehr: Anhand einer exemplarischen Linie sehen unsere Besucher die ganze Bandbreite – von Continuous Manufacturing bis zur Batch-Produktion und vom Labor- bis zum Produktionsmaßstab. Denn letztlich hängt die Entscheidung für einen bestimmten Prozess von vielen Faktoren ab, wozu wir unsere Kunden gerne in unseren Kundenzentren und Partnerlaboren umfassend beraten.
Zum Abschluss: Was wird ihr ganz persönliches Highlight auf der diesjährigen Achema?
A. Mattern: Ganz besonders freue ich mich darauf, unsere bestehenden und potenziellen Kunden an unserem fast 700 m2 großen Stand persönlich zu treffen und ihnen unsere zahlreichen Innovationen zu zeigen. Ein weiteres Highlight ist das Kongressprogramm in Halle 4.1, bei dem Syntegon gleich mit drei Vorträgen zu einigen der besprochenen Trendthemen vertreten ist. Am meisten freue ich mich auf den Austausch mit gleichgesinnten Expertinnen und Experten über unser gemeinsames Ziel: dafür sorgen, dass alle Medikamente sicher und möglichst nachhaltig bei den Patientinnen und Patienten auf der ganzen Welt ankommen.
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Zur Person
Andreas Mattern ist seit 2021 Vice President Strategy & Global Product Management Pharma bei Syntegon. Der promovierte Maschinenbauer ist Mitglied in zahlreichen pharmazeutischen Verbänden und Organisationen wie ISPE und VDMA und häufiger Sprecher auf Branchenforen.