Anlagenbau & Prozesstechnik

Erdbebensichere Chemieanlagen

Neueinschätzung von Gefahren und deren Auswirkung auf die Bemessung

01.02.2023 - Deutschland ist im Vergleich mit anderen Ländern seltener und weniger stark von Erdbeben betroffen.
Aber auch Schwachbebengebiete sind nicht vor Schäden sicher, so dass auch hierzulande der Lastfall Erdbeben an bestimmten Chemie-Standorten relevant ist. Durch die Einführung des neuen Erdbeben Eurocodes DIN EN 1998-1/NA müssen die Gefahren in den Anlagen und deren Auswirkungen auf die Tragstrukturen, Einbauten und Versorgungsbauwerke neu bewertet werden.

Schadensberichte nach Erdbeben kennt man vor allem aus Südeuropa und Übersee. Zwar sind die Erdbebenwirkungen und ihre Häufigkeit in Deutschland deutlich geringer als bspw. in Ländern wie Italien, Griechenland oder der Türkei, doch sind sie mancherorts auch im Anlagenbau nicht zu vernachlässigen. Bisher galt der Lastfall Erdbeben als relevant, wenn der Standort der Anlage in einer Erdbebenzone nach DIN 4149 lag. Während auf Basis dieser Norm zahlreiche Regionen in Deutschland keiner Erdbebenzone zugeordnet waren, führt der neue Erdbeben Eurocode DIN EN 1998-1/NA eine zonenfreie Darstellung mit fließenden Übergängen zwischen verschiedenen Intensitätsbereichen ein. Damit kommt es zu Verschiebungen der Grenzverläufe der Erdbebenzonen sowie teils zu einer deutlichen Erhöhung der für den Erdbebenfall anzusetzenden horizontalen Beschleunigungen und den daraus resultierenden Ersatzlasten.

Örtlich stark veränderte Erdbebenlasten

Das Herzstück einer jeden Erdbebennorm bildet die örtliche Definition der Erdbebengefährdung. In der DIN 4149 basiert die Einschätzung der Gefahren auf Untersuchungen aus den 1990er-Jahren. Angestoßen durch neue Erkenntnisse auf europäischer Ebene wurden die Erdbebengefährdungen neu evaluiert und im nationalen Anhang NA:2021 des neuen Erdbeben Eurocodes normativ verankert. Während in der DIN 4149 Deutschland in vier Erdbebenzonen aufgeteilt war, wird nun die Erdbebengefahr an Knotenpunkten eines gleichmäßigen Rasternetzes der geographischen Koordinaten von 0,1° x 0,1° definiert. Die Knotenpunkte haben dabei einen Abstand von etwa 7 km in West-Ost- und 11 km in Nord-Süd-Ausrichtung. Zwischenpunkte können linear interpoliert werden. Statt abrupter Zonengrenzen ergeben sich fließende Übergänge [1].  

Wo zuvor eine Auslegung für Erdbeben unterbleiben konnte, kann nun eine Berücksichtigung des Lastfalls Erdbeben erforderlich sein. Zudem resultieren aus der Neubewertung örtlich stark veränderte Erdbebenlasten, teils auch drastische Erhöhungen. Der für die Bewertung relevante Bodenparameter S zur Beschreibung des sogenannten elastischen horizontalen Antwortspektrums wird in Abhängigkeit des Untergrundverhältnisses und der Höhe der Spektralbeschleunigung neu zugeordnet. Aus den bisherigen sechs entstehen nun 18 mögliche Antwortspektren. Die höhere Anzahl der Antwortspektren bedeutet in der Praxis, dass die Untergrundverhältnisse nicht nur neu bewertet, sondern auch stärker berücksichtigt werden. Die baurechtliche Einführung des Erdbeben Eurocodes, respektive die Umsetzung in den Landesbauordnungen, wird vielerorts zu Herausforderungen bezüglich des Erdbebennachweises führen. Eine fachgerechte Erdbebenauslegung wird deshalb in Deutschland weiter an Relevanz zunehmen.

 

© Karte der Erdbebengefährdung für Deutschland. Grafik: G. Grünthal et al.,  Helmholtz-Zentrum Potsdam - Deutsches GeoForschungsZentrum.
Gegenüberstellung der Grundbeschleunigungen nach DIN 4149 und der Spektralbeschleunigungen sowie der berechneten Grundbeschleunigungen nach DIN EN 1998-1/NA für verschiedene deutsche Chemie-Standorte.
 

 

© Karte der Erdbebengefährdung für Deutschland. Grafik: G. Grünthal et al.,  Helmholtz-Zentrum Potsdam - Deutsches GeoForschungsZentrum.
© Karte der Erdbebengefährdung für Deutschland. Grafik: G. Grünthal et al., Helmholtz-Zentrum Potsdam - Deutsches GeoForschungsZentrum.

 

 

Deutlich höhere Grundbeschleunigungen möglich

Auf Basis des Erdbeben Eurocodes ist die Gefährdung in manchen Chemieanlagen neu zu bewerten. Betroffen sind z.B. Chemieparks in der Niederrheinischen Bucht im Großraum Köln sowie im Bereich des Oberrheingrabens zwischen Frankfurt am Main und Basel. Die Gefährdungsbeurteilungen erstrecken sich aber nicht nur auf Brownfield-Anlagen. Auch im Greenfield müssen die neuen verfahrenstechnischen Systeme untersucht und entsprechend ausgelegt werden. Und durch den Wegfall der starren Zoneneinteilung kann es sogar sein, dass innerhalb eines Chemieparks weitere Anlagen und Gebäude hinzukommen, die nun auch zu bewerten und gegebenenfalls für den Lastfall Erdbeben auszulegen sind.

Dazu ein Beispiel: Chemieanlagen im Industriepark Frankfurt-Höchst südlich des Mains lagen nach DIN 4149 in einer Erdbebenzone. Nicht so der nördlich des Mains gelegene Teil des Industrieparks, in dem gemäß DIN 4149 keine nennenswerte Grundbeschleunigung vorhanden war. Legt man aber den Erdbeben Eurocode zugrunde, kommt der Nordteil des Industrieparks aufgrund der neu berechneten Grundbeschleunigung hinzu (Tabelle). Als Folge davon sind die hier befindlichen Anlagen nun auch für den Lastfall Erdbeben auszulegen. Die ermittelten Beschleunigungen und daraus resultierenden Ersatzlasten sind an nahezu allen Standorten höher. Auch dazu ein Beispiel: In der Niederrheinischen Bucht im Chempark Krefeld-Uerdingen ergibt sich bei der Neubewertung eine prozentuale Erhöhung der Grundbeschleunigung um 60 %, die sich bei zusätzlicher Berücksichtigung des neu zugeordneten Bodenparameters sogar auf 86 % erhöht.

Gefahren neu beurteilen und Maßnahmen umsetzen

Die erdbebensichere Auslegung einer Chemieanlage basiert auf bestimmten Bemessungs- und Konstruktionsregeln. Diese gelten nicht nur für die Tragstrukturen der Anlage, sondern auch für die nichttragenden verfahrenstechnischen Einbauten und die Versorgungsbauwerke wie etwa freistehende Tanks und Silos. Bei der Neubeurteilung steht im Vordergrund, kritische Punkte in der Auslegung und Kon­struktion von Komponenten und Systemen zu identifizieren, um dann geeignete Maßnahmen zur Ertüchtigung umzusetzen. Die Ertüchtigungen können rein konstruktiver Art sein, oder aber rechnerische Nachweise und gegebenenfalls sogar Umbaumaßnahmen beinhalten. Analysiert wird bspw. auch, ob und wie sich benachbarte Systeme gegenseitig beeinflussen, ob Verformungen an Bauteilen oder starke Bewegungen des Inhalts von Behältern problematisch werden können. Zudem müssen eingebaute Apparate, Pumpen, Rohrleitungen und Fittings genau untersucht werden, weil auch diese im Erdbebenfall horizontal beschleunigt werden. Denn im ungünstigsten Fall entstehen Risse und Leckagen, über die toxische oder entzündliche Stoffe entweichen. Unkontrollierte chemische Reaktionen, Brände und Produktionsausfälle können die Folge sein.

Komponenten und Systeme richtig auslegen und ertüchtigen

Expertinnen und Experten von TÜV SÜD Chemie Service mit langjähriger Prüfroutine sorgen dafür, dass alle Komponenten und Systeme einer Chemieanlage für den Lastfall Erdbeben rechnerisch richtig ausgelegt sind. Das gilt für Greenfield-Anlagen, bei denen bspw. vor dem Inverkehrbringen eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt und die Standsicherheit geprüft wird. Bei Brownfield-Anlagen hingegen geht es im Wesentlichen darum, problematische Bereiche in der Auslegung und Konstruktion von Komponenten und Anlagenteilen ausfindig zu machen. In einem zweiten Schritt werden dann Ertüchtigungsmaßnahmen unter Berücksichtigung des Gefahrenpotenzials eines Mangels priorisiert. Das Vorgehen ist bereits auf den neuen Erdbeben Eurocode DIN EN 1998- 1/ NA abgestimmt und orientiert sich an dem im März 2022 erschienenen, überarbeiteten Leitfaden „Der Lastfall Erdbeben im Anlagenbau“ des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI). Die aktuelle, dritte Fassung des Leitfadens gibt Empfehlungen für den erdbebengerechten Bau von Anlagen nach aktuellem Stand der Technik, stellt vereinfachte Berechnungsmethoden zur Verfügung und gibt Hinweise für die Beurteilung bestehender Anlagen.

Quellenangabe:
[1] Pinkawa, Marius: „Erdbebenauslegung von Bauwerken:
Eurocode 8 ersetzt DIN 4149“, in: bauingenieur24 Informationsdienst, 18.02.2022, URL: www.bauingenieur24.de/fachbeitraege/massivbau/erdbebenauslegung-von-bauwerken-eurocode-8-ersetzt-din-4149/
3407.htm, Abruf am 08.12.2022.

Autor: Stefan Wirth, Gruppenleiter Design Review & Engineering, Plant & Equipment Integrity, TÜV SÜD Chemie
Service GmbH, Leverkusen

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Dieser Fachbeitrag wurde erstmals in „CITplus“ 7-8/2022 veröffentlicht. Durch eine redaktionelle Überarbeitung unserer PR-Agentur wurde leider ein wichtiger Quellennachweis gelöscht. Die Definition der Erdbebengefahr an Knotenpunkten eines Rasternetzes wurde von Dipl.-Ing. Marius Pinkawa in seinem Fachbeitrag vom 18.02.2022 bereits umfassend dargestellt. Wir entschuldigen uns bei Herrn Pinkawa für dieses Missgeschick und haben uns entschlossen, den kompletten Beitrag mit korrektem Quellennachweis noch einmal zu veröffentlichen. Für diese Möglichkeit bedanken wir uns bei der Redaktion der „CITplus“.

Thomas Oberst, Unternehmenskommunikation, TÜV SÜD AG

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