Weniger Medikamente zu höheren Preisen?
Die Versorgung mit pharmazeutischen Produkten in Europa steht unter Druck
Krise ist momentan das vermutlich meistbenutzte Wort. Viele von uns erleben im privaten wie im Arbeits-Umfeld ein bisher ungekanntes Ausmaß an Unsicherheit und Veränderung: die schnell steigende Inflation, explodierende Energietarife, unterbrochene Lieferketten, lange Wartezeiten beim Kauf von Investitionsgütern usw. Eine weltweite Pandemie, der Krieg in der Ukraine, die Folgen politischer Veränderungen wie der Brexit und die Abkehr von jahrelang niedrigen Zinsen hinterlassen deutliche Spuren. Alle Industrien stehen ebenso wie die Verbraucher vor großen Herausforderungen.
„Circa 33 % aller Arzneimittel werden von
Auftragsherstellern gefertigt,
mit steigender Tendenz.“
Als einer der größten europäischen Auftragsentwickler und -hersteller für die Pharma- und Healthcare-Industrie (Contract Development and Manufacturing Organisation, CDMO) spielt die Aenova Group eine entscheidende Rolle bei der Versorgung der Kunden und letztlich von Patienten weltweit mit lebensrettenden oder lebensverbessernden Arzneimitteln und Medikamenten, auch in Deutschland. Circa 33 % aller Arzneimittel werden von Auftragsherstellern gefertigt, und dies mit steigender Tendenz. Heute stellt sich jedoch die Frage, ob und unter welchen Bedingungen CDMOs die Lieferkette in diesen unsicheren Zeiten aufrechterhalten können.
Massiver Anstieg aller Kosten
CDMOs sind durch einen enormen Anstieg der Kosten unter Druck: nicht nur bei den Rohstoffen (Wirkstoffe, Hilfsstoffe, Verpackungsmaterialien), sondern auch bei produktionsunterstützenden Materialien sowie allen professionellen Dienstleistungen (von Laboren bis hin zu Reinigungsdiensten). Viele Lieferanten verlangen Erhöhungen von 50 bis 100 % oder mehr. Der Anstieg der Energiekosten liegt je nach Land und Absicherungspolitik zwischen 100 % und 500 %, besonders bei Erdgas.
„Für neue Anlagen und Maschinen
sind Vorlaufzeiten von 18 bis 24 Monaten
die neue Normalität.“
Zudem stehen die vertraglichen Beziehungen zu den oft in Indien oder China ansässigen Zulieferern vor einem Paradigmenwechsel. Preise der erteilten Aufträge oder Vertragsbedingungen werden nicht mehr eingehalten, es herrscht „Wilder Westen“: „Akzeptieren Sie den neuen Preis, 50 % mehr, oder lassen Sie es bleiben!“ Denn die Lieferanten wissen genau, dass Rohstoffquellen in der Pharmaproduktion nicht einfach kurzfristig ausgetauscht werden können. Dies ist gepaart mit einer noch nie dagewesenen Volatilität der Lieferungen, da viele globale Lieferketten weiterhin unterbrochen sind oder nicht funktionieren. Das gilt auch für neue Anlagen und Maschinen. Vorlaufzeiten von 18 bis 24 Monaten sind hier die neue Normalität.
Traditionelle CDMOs haben einen Materialaufwand von 40 bis 50 %. Wenn sich die Materialpreise mehr als verdoppeln, ist die Rechnung einfach: Die Gewinnspannen sinken innerhalb kürzester Zeit auf null oder darunter. Zu dieser instabilen Situation kommt noch ein – besonders in Deutschland – hoher Krankenstand, der sich negativ auf die Produktionsfähigkeit auswirkt und die Personalkostenbasis belastet.
Schnelle Maßnahmen helfen nur kurzfristig
Die Unternehmen müssen sich diesen Herausforderungen stellen, und CDMOs müssen dringend sinnvolle Korrekturmaßnahmen ergreifen. An erster Stelle steht eine gründliche Überprüfung der Kostenbasis. Das bedeutet, dass die Personalkosten gesenkt, alle diskretionären Ausgaben, einschließlich der Instandhaltung, gekürzt und die Investitionsausgaben beschnitten werden müssen. All dies hilft zwar kurzfristig, gefährdet aber den reibungslosen Ablauf der Routineproduktion und die Fähigkeit, die Wachstumsprojekte der Kunden zu unterstützen. Darüber hinaus müssen die CDMOs das Risiko, von der russischen Gasversorgung abgeschnitten zu werden, in den Griff bekommen; das gilt insbesondere für die Standorte in Deutschland. Investitionen in grüne Energie, wie z. B. Fotovoltaikanlagen, helfen nur in gewissem Maße.
Kapitalstruktur von Auftragsherstellern
Eine große Anzahl von CDMOs ist nicht mit einem großen Bargeldbestand in der Bilanz ausgestattet. Viele Auftragshersteller sind entweder Private-Equity-geführt oder eine Aktiengesellschaft. Zusätzlich sind viele CDMOs über Kredite finanziert, um den hohen Kapitalbedarf in der Branche zu decken.
So stellt sich angesichts der geschilderten makroökonomischen Situation durchaus die Frage, welche Produkte noch wie lange hergestellt werden können – wobei möglicherweise kleinere, weniger rentable, aber ebenso medizinisch benötigte Produkte gestrichen werden könnten. Denn wie lange kann man mit negativen Margen arbeiten? Wäre es besser, das Produktportfolio zu stutzen oder Produktionsstätten zu schließen, somit aber bestimmte Therapiebereiche nicht mehr zu versorgen oder eine spezifische Darreichungsform nicht mehr verfügbar zu haben
Wirtschaftliche Notwendigkeit zur Kostensteigerung
Letzten Endes aber werden die Kunden von ihren CDMOs einen erheblichen Anstieg der Kosten der Finished Dosage Forms (FDS) zu spüren bekommen, da Kosteneinsparungen, Prozessverbesserungen oder Produktivitätssteigerungen nicht ausreichen, um die steigenden Kosten für Material, Energie, Arbeit und Dienstleistungen auszugleichen. Dies bedeutet, dass die Zeiten, in denen Vertragsbedingungen und Preise für ein Jahr oder länger festgelegt wurden, weitgehend vorbei sind. Das hat nichts damit zu tun, ob man seinen Kunden ein zuverlässiger oder vertrauenswürdiger Partner ist oder nicht, sondern ist aus einer wirtschaftlichen Notwendigkeit heraus geboren. Die Preise müssen schneller und häufiger angepasst werden, um die finanzielle Überlebensfähigkeit der CDMOs zu gewährleisten.
Patienten und das Sozialsystem werden die Rechnung bezahlen
„Es ist denkbar, dass es auch
in der Pharmaindustrie zu echten Lieferengpässen
kommen könnte.“
Infolgedessen werden die Pharmaunternehmen – vor allem die, die im Generika- oder Ausschreibungsgeschäft tätig sind, – ebenfalls den Druck spüren und die schwierige Entscheidung treffen müssen, welche Produkte sie im Portfolio behalten. Trotz der offenen Forderungen der größten Generikahersteller an die Regulierungsbehörden herrscht in Berlin und anderen EU-Hauptstädten noch immer der Glaube, dass die Preise für Generika sinken müssen. Aber wie soll das funktionieren, wenn alle Inputpreise steigen? Kurzfristig wird jeder in der Lieferkette die gestiegenen Kosten weitergeben müssen, letztlich an die Patienten oder an die Sozialversicherungssysteme. Es ist denkbar, dass es dadurch auch in der Pharmaindustrie zu echten Lieferengpässen kommen könnte.
Die zentrale Rolle von CDMOs in der Pharmaversorgung
Auftragshersteller haben eine tragende Rolle in der Arzneimittelversorgung weltweit, und der Trend zum Outsourcing ist ungebrochen. Gründe dafür sind auslaufende Patente bei niedermolekularen Wirkstoffen, die steigende Zahl kleiner Moleküle in klinischen Studien, Investitionen der CDMOs, die Zunahme chronischer und altersbedingter Krankheiten, der schnell wachsende Onkologiebereich und neue Technologien. Auch bei Aenova läuft aktuell ein Investitionsprogramm von über 250 Mio. EUR für neue Technologien und innovative Produkte.
Ein konkretes Beispiel soll die Position der CDMOs verdeutlichen: Der Marktbedarf für Zytostatika wächst rasant, wobei zielgerichtete Krebstherapien im Fokus stehen. Damit wird die avisierte Patientengruppe kleiner, ebenso die produzierten SKUs (Stock Keeping Units). Die Entwicklung und Herstellung von Arzneimitteln mit hochpotenten aktiven pharmazeutischen Wirkstoffen (HPAPIs), z. B. im Bereich Onkologie, ist jedoch hochkomplex und muss oft unter Zeitdruck erfolgen, da viele dieser neuen molekularen Wirkstoffe (New Molecular Entities, NME) als „bahnbrechende Therapie“ (Breakthrough Therapy) in einem Schnellverfahren zugelassen werden, um den hohen medizinischen Bedarf rasch zu decken. Dies ermöglichen zuverlässige und erfahrene CDMOs.
Krisen erfordern Entscheidungen. Aenova bringt entschlossen Kapazitäts- und Technologienerweiterungen an den Markt, um zur Patientenversorgung in Europa und weltweit mittelfristig einen wesentlichen Beitrag zu leisten.
Autor: Jan Kengelbach, CEO, Aenova Group, Starnberg
ZUR PERSON
Jan Kengelbach ist seit Juli 2019 CEO der Aenova Group. Zuvor arbeitete er über 12 Jahre als Partner bei BC Partners in London, dem Private Equity-Eigentümer der Aenova Group. Kengelbach hat einen MBA von der Kellogg School of Management, Chicago, ein Diplom in Ingenieurwissenschaften der Ecole Centrale Paris und ein Diplom in Maschinenbau der TU München. Der zertifizierte Restrukturierungs- und Insolvenzberater (CIRA) begann seine berufliche Laufbahn bei McKinsey und war vor seinem Wechsel zu BC Partners knapp vier Jahre als Berater für finanzielle Restrukturierung und operative Umstrukturierung für Alix Partners tätig.