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Wie nachhaltig ist die Medizin­technikbranche?

Nachhaltigkeit in der Medizintechnik heute

19.04.2022 - Egal ob in Politik, Produktion oder Handel – die Klimakrise dominiert viele ­Lebensbereiche und Nachhaltigkeit ist in aller Munde.

Dabei geht es nicht nur um weltumspannende Lieferketten und die Digitalisierung von Prozessen, sondern auch um Ressourcen, die für die Produktion verwendet werden. Denn Nachhaltigkeit bedeutet Gewinne umwelt- und sozialverträglich zu ­erwirtschaften und kann kurz auch mit „Enkelfähigkeit“ übersetzt werden.

Viele Branchen sind dabei, Produkte und Vorgänge auf Klimafreundlichkeit und Nachhaltigkeit umzustellen, aber wie ist das in der Medizintechnik? Schließlich können Abstriche bei der Materialwahl hier unmittelbar Auswirkungen auf die Gesundheit der Patienten haben. Ist Recycling in der Medizintechnik überhaupt möglich? Wiederverwendbare Werkstoffe dort einsetzen, wo Einmalmedizinprodukte für Patientensicherheit und Keimfreiheit sorgen, somit also kaum wegzudenken sind. Oder doch? Klar ist: Alternative Ideen müssen her, um die Nachhaltigkeit in der Medizintechnik zu fördern.

Innovationen, wie Bioplastik aus Maisstärke oder anderen nachwachsenden Rohstoffen, könnten die Müllproduktion in der Medizintechnik signifikant nachhaltiger gestalten. „Nachhaltigkeit ist das Thema, das die ganze Wertschöpfungskette betrifft und immer wichtiger wird. Deshalb ist es uns ein Anliegen, mit der MedtecLIVE with T4M eine Plattform zu bieten, in der Wege und Lösungen für Nachhaltigkeit in der Medizintechnik präsentiert und diskutiert werden können“, zeigt Christopher Boss, Leiter der MedtecLIVE with T4M und Executive Director Exhibitions der NürnbergMesse, auf.

In der Medizintechnik-Branche gibt es Potenziale, Nachhaltigkeit stärker umzusetzen. Aber „besonders in der Medizintechnik ist das ein schwieriges Thema und erst seit kurzem auf dem Schirm. Für viele Hersteller scheint Nachhaltigkeit auch noch gar nicht relevant zu sein“, erläutert Sven Dasbach, Business Developement Manager bei Sanner. Manche Unternehmen wollen das Thema aktiv angreifen und versuchen bereits, Ideen umzusetzen. Andere sehen dieses Thema noch gar nicht in der Branche. Dazu kommt, dass die Anforderungen an Medizintechnikprodukte sehr hoch sind und die Integration von Nachhaltigkeit in den Arbeitsalltag und die Produktion erschweren.  

Nachhaltigkeit in der Medizintechnik heute

Medizintechnik ist ein großes Feld, das viele verschiedene Entwicklungen und Technologien umfasst, die im medizinischen Alltag fest verankert sind. Das Produktspektrum ist breit, angefangen bei Einmalhandschuhen und Schläuchen reicht es bis hin zu großen CT-Geräten. Vieles davon aus Plastik. Katia Pacella, Projektbeauftragte für das zirkuläre Gesundheitswesen von Healtcare Without Harm (HCWH) zeigt auf, dass qualitativ hochwertige Versorgung auf ökologischer, sozialer und nachhaltiger Art und Weise mehr kann: „Die Gesundheit der Patienten wird direkt sichergestellt und die Gesundheit der Gemeinschaft durch einen gesünderen Planeten unterstützt.“ Klimafreundliche, abbaubare Materialen zu verwenden ist nur schwer umsetzbar durch die lebenswichtigen Anforderungen, die Sicherheit und Keimfreiheit garantieren. Der Einsatz von Kunststoffprodukten ist bei nachhaltigem Handeln eine besondere Herausforderung: „Nachhaltigkeit ist ein wichtiges Thema, das in den letzten Jahren mehr und mehr in den Fokus rückte, auch in der Polymerforschung. Nachhaltigkeit kann auf verschiedenen Wegen erreicht werden: durch Energieeinsparung bei der Produktion, durch Prozessoptimierung, bei Verarbeitung und Transport oder auch durch die Wahl der eingesetzten Materialien. Je nach Entwicklungsaufwand kann das allerdings erhöhte Kosten bedeuten“, bewertet Dr. Christoph Herfurth, Wissenschaftler am Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung IAP, die aktuelle Situation. „Nachhaltigkeit fängt bei den Rohstoffen, deren Herkunft und Herstellung, geht weiter mit den Emissionen und dem Produktdesign, wo kann man Material einsparen, muss es ein Einmalprodukt sein? Aber auch die Verwertung spielt eine Rolle genauso wie die Supply Chain, kann man lange Lieferketten vermeiden?“, erklärt Dasbach. Bei Nachhaltigkeit geht es um viel mehr, als die Umwelt zu schonen: „Es geht dabei um die öffentliche Gesundheit, den Schutz der natürlichen Ressourcen, die Festlegung sicherer Umweltgrenzen und die Kreislaufwirtschaft bei der Herstellung von Materialien. Die menschliche Gesundheit kann nur geschützt werden, wenn auch die Gesundheit des Planeten geschützt wird.  Die Medizintechnik ist dafür unerlässlich“, fasst Pacella zusammen.

Für bereits zugelassene Produkte hat eine nachhaltigere Neugestaltung wenig Bedeutung, denn Änderungen am Produkt hat Rezertifizierung als Folge, die hohe Kosten und viel Zeit in Anspruch nimmt, dafür, dass es dem Hersteller möglicherweise weniger Gewinn einbringt. „Geht es um große medizintechnische Geräte wie zum Beispiel ein CT, ist es aufgrund der Stückzahl einfacher, Effizienz und Nachhaltigkeit zu betrachten. Im Bereich der Einmalartikel sehen wir im Moment noch keine große Nachfrage, denn der Druck vom Endverbraucher fehlt“, beschreibt Dasbach und ergänzt, dass sich das Mindset der Endverbraucher ändern müsse, damit sich der Markt anpasse. Solang der wirtschaftliche Aspekt fehle, hätten Hersteller keinen Grund, etwas zu ändern. Im Maschinenbau ist das bereits häufiger so: Axel Bartmann, Abteilungsleiter Marketing und Unternehmenskommunikation von Manz, die auch die Medizintechnikbranche bedient, sieht, wie stark sich der Markt verändert hat: „Vieles was Nachhaltigkeit betrifft entsteht aus Eigenverantwortung. Dennoch gibt auch der Markt viel vor, wenn die Kunden auf diese Eigenschaften Wert legen.“ Viele große Unternehmen versuchen daher bereits, Nachhaltigkeit in ihre Werte aufzunehmen und interne Strukturen effizienter und klimaneutraler zu gestalten, doch das Thema steckt noch in den Kinderschuhen und die Investitionen, bestehende Produkte zu verändern, sind zu groß, die Attraktivität auf den ersten Blick zu gering.

 

Die Auswirkungen von Nachhaltigkeit

Forschung, Überprüfung und Überarbeitung von Produkten nimmt nicht nur Zeit in Anspruch, sondern sorgt auch für jede Menge Kosten für den Hersteller. Klar, denn Nischenmaterialien und Personal, dass sich mit einem effizienteren Produktdesign beschäftigt sowie die bei Veränderung anstehende Rezertifizierung beanspruchen viele Ressourcen. Aber auch die Zertifizierung von Nachhaltigkeit bringt einen großen Aufwand mit sich: „Ob Nachhaltigkeitsberichte oder die Messung der Maßnahmen für ein nachhaltigeres Unternehmen, all das kostet Zeit und Geld. Aber es lohnt sich, weil uns das wichtig ist“, fasst Bartmann zusammen. Das Unternehmen mit Nachhaltigkeit in der Firmen-DNA ist klimaneutral und stets darauf beharrt, noch effizienter und ressourcenschonender zu werden.

Das wichtigste Argument jedoch ist Schutz und Risikofreiheit: „Sicherheit kann durch biobasierte Kunststoffe gegeben werden, das ist aber nicht bei allen so“, erläutert Dasbach. Forschung ist diesbezüglich ein großer Punkt, in den weiter investiert werden muss.

Umsetzbarkeit Nachhaltigkeit in der ­Medizintechnik

Dem Vorbild der Natur nach, sind Kreislaufmodelle ein wichtiger Ansatz für Nachhaltigkeit. Verwendete Rohstoffe chemisch zu zerlegen und anschließend zu recyceln und der Herstellung wieder beizuführen, ist ein Weg, Materialien einzusparen und weniger Abfall zu produzieren. Gerade in der Medizintechnik werden an vielen Stellen Kunststoffe eingesetzt, z. B. Polyurethane als Schläuche für intravenöse Katheter. Doch für die Herstellung von Polyurethanen werden üblicherweise unter anderem Isocyanate verwendet, die toxisch und sensibilisierend sind, Asthma und Allergien auslösen können. „Wir haben am Fraunhofer IAP gemeinsam mit den Fraunhofer-Instituten ICT, IFAM und Umsicht eine neue Synthese von Polyurethanen entwickelt, mit der wir auf die toxischen Isocyanate verzichten können. Das macht die Produktionsprozesse sicherer. Auch ist das so produzierte Polyurethan als biokompatibel zertifizierbar“, fasst Herfurth zusammen, der das Projekt koordiniert. Damit werden weniger belastende Chemikalien für die Produktion dieser häufig eingesetzten Kunststoffe benötigt und auch die Weiterverarbeitung wird noch sicherer. Bei der Herstellung des Kunststoffs wird außerdem CO2 statt Erdöl als Kohlenstoffquelle genutzt. Doppelt nachhaltig also.

Diesem Ansatz folgen auch bereits einige Unternehmen, die Anlagen bauen, um spezielle Kunststoffe zu zerlegen und direkt wieder in die Herstellung einfließen zu lassen. Auch Pacella sieht Kreislaufmodelle als wichtigen Schritt in Richtung Nachhaltigkeit: „Im medizinischen Sektor ist es dringend notwendig, von der linearen Produktion wegzukommen. Ungiftige und wiederverwendbare Lösungen sind machbar und können den chemischen Fußabdruck und die Abfallmenge verringern und gleichzeitig bessere Lösungen für Patienten und den Planeten bieten.“ Ein weiterer Wichtiger Punkt für mehr Nachhaltigkeit ist das Optimieren von Prozessen. Dem stimmt auch Bartmann zu: „Da spielt auch Digitalisierung eine große Rolle, vor allem in der Produktion und Warenbeschaffung. Da gibt es noch große Hebel und Luft nach oben.“

Die aktuelle Umsetzung von Nachhaltigkeit funktioniert über einen globalen Ansatz. Hierbei versuchen Unternehmen an vielen Stellen ein wenig Ressourcen einzusparen. „Das betrifft dann nicht das Produkt selbst, sondern mehr die Herstellung und die gesamten Prozesse. Die Produkte sind nicht die einzige Schraube, an der man drehen kann. Sanner produziert zum Beispiel den größten Teil der gebrauchten Energie selbst und konnte die CO2 Emissionen am Standort Bensheim signifikant reduzieren“, beschreibt Dasbach. Generell ist es jedoch so, dass Prozesse immer dann am günstigsten sind, wenn sie so bleiben, wie sie sind. Herfurth bringt auch an: „Ein besonders vielversprechender Ansatz, um die Nachhaltigkeit von Kunststoffen zu erhöhen, sind Wertstoffkreisläufe. Dabei werden Kunststoffprodukte chemisch in ihre Ausgangsstoffe zerlegt. Diese können wiederum als recycelte Rohstoffe zur Herstellung neuer Materialien eingesetzt werden. Somit werden Kunststoffabfälle zu Wertstoffen. Mit diesem Ziel erforscht das Fraunhofer-Team Wege, Polyurethanabfälle zu recyceln. Die gewonnenen Rohstoffe werden unter stofflicher Nutzung von CO2 zu neuen Ausgangsstoffen für isocyanatfreie Polyurethane umgesetzt.“ Mehr Fokus, mehr Austausch, ist was es braucht. „Generell wird diesem wichtigen Thema aktuell in der Medizintechnik noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das wollen wir ändern und bei der MedtecLIVE with T4M mit Ausstellern und Besuchern diskutieren. Hierzu wird es im Programm eine eigene Session zu diesem Thema geben“, fasst Boss zusammen.

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„Nachhaltigkeit ist das Thema, das die ganze Wertschöpfungskette betrifft."

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