Recycling – nachhaltige Chance für die Chemie
Klima- und Umweltschutz machen die Umstellung auf eine Kreislaufwirtschaft unumgänglich
Spätestens seit die EU den European Green Deal verabschiedet hat, ist klar: Um das Ziel eines klimaneutralen Europas zu erreichen, müssen alle Wirtschaftszweige einen grundlegenden Strukturwandel schaffen – auch die Chemieindustrie. Das Ziel: Geschäftsmodelle von einer linearen, ressourcenintensiven Wertschöpfung auf eine zirkuläre, ressourcenschonende Wirtschaftsweise umzustellen und diese profitabel zu gestalten. Mit Strafsteuern auf fossilbasierte Kunststoffprodukte und -rohstoffe wird das Thema für die Chemiebranche dringlicher – zumal daraus auch eine Vielzahl an Chancen entstehen. Doch dazu müssen Unternehmen ihr gesamtes Geschäftsmodell anpassen und dabei den Wertschöpfungskreislauf in Gänze einbeziehen.
Das derzeitige lineare Geschäftsmodell der Chemieindustrie verursacht einen erheblichen ökologischen Fußabdruck: So entstehen etwa entlang der konventionellen Wertschöpfungskette von Kunststoffprodukten – von der Produktion aus fossilbasierten Rohstoffen über die Nutzung bis hin zur Entsorgung durch Verbrennung – rund 2,3 t CO2 pro Tonne Kunststoff. Allein in Europa summieren sich die Kunststoffabfälle jedes Jahr auf fast 30 Mio. t, wovon mehr als die Hälfte verbrannt wird und nur ein kleiner Anteil über Recycling wieder in die Herstellungsprozesse zurückgeführt wird. Dabei ließe sich der CO2-Fußabdruck von Kunststoffprodukten auf weniger als ein Zehntel des heutigen Werts senken, wenn der Kreislauf geschlossen, Kunststoffe nach der Nutzung konsequent recycelt und das entstehende Rezyklat wieder in der Produktion eingesetzt würde. Damit ließe sich auch der Eintrag von Plastikmüll in Flüsse und Meere mit all seinen Folgeschäden für Ökosysteme verringern.
„Bis 2025 soll sich der Anteil von
Recycling-Kunststoffen im
verarbeitenden Gewerbe verdoppeln.“
Die derzeitige Verschwendung von Rohstoffen, das Müllproblem und der Klimaschutz verlangen neue Wege des Kreislaufdenkens und ein neues Modell der Wertschöpfung in der Chemieindustrie. Noch sind vor allem staatliche Vorgaben die Treiber eines kreislaufwirtschaftlichen Ansatzes für Chemierohstoffe, insbesondere Kunststoffe. So steigen in der EU bis 2030 die festgelegten Recyclingquoten für Kunststoffverpackungsabfälle stufenweise auf 55 %. Bereits bis 2025 soll sich der Anteil von Recycling-Kunststoffen im verarbeitenden Gewerbe verdoppeln. Dazu kommen Strafsteuern: Für nicht recycelte Kunststoffe sind EU-weit bis zu 800 EUR/t im Gespräch, und Großbritannien hat angekündigt, auf Kunststoffverpackungen mit weniger als 30 % Anteil an recyceltem Material eine Steuer von 200 GBP/t zu erheben.
Kreislaufwirtschaft lohnt sich ökologisch, ökonomisch und sozial
Auch Investoren legen zunehmend strengere Maßstäbe an die Nachhaltigkeit von Geschäftsmodellen an: BlackRock hat angekündigt, Unternehmen, die ein Viertel oder mehr ihres Umsatzes mit fossilen Energieträgern erzielen, aus seinen Portfolios zu streichen. Auch institutionelle Investoren verlangen zunehmend die Einhaltung von Nachhaltigkeitskriterien. Das gleiche gilt für Privatinvestoren: So steigt etwa in Deutschland der Anteil nachhaltiger Geldanlagen rasant – heute sind es noch 10 %, doch bis 2025 wird bereits jeder vierte privat investierte Euro „grün“ angelegt werden.
„Noch sind vor allem staatliche Vorgaben die Treiber eines kreislaufwirtschaftlichen Ansatzes für Chemierohstoffe.“
Doch abgesehen von diesen externen Treibern: Auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht lohnt sich Recycling. Da die Preise für fossile Neuware weiter steigen werden, erwarten wir durch den Einsatz von Post-Consumer-Rohstoffen erhebliche Kosteneinsparungen, z. B. bei PE um rund 300–400 EUR/t Material (vgl. Grafik, hoher Ölpreis, ohne Steuerstrafe). Zudem wird Recycling selbst zu einem lukrativen Geschäft: Die Umstellung dürfte bis zu 60 % aller in der EU anfallenden Kunststoffabfälle betreffen. Somit entwickelt sich ein erhebliches Marktvolumen für mechanisches und chemisches Kunststoffrecycling. Bis 2030 rechnen wir europaweit mit einem mittleren jährlichen Umsatzwachstum um 12 % auf ca. 60 Mrd. USD. Das chemische Recycling erlebt dabei einen besonderen Schub: Es wird mit einer jährlichen Wachstumsrate (CAGR) von 26 % mehr als doppelt so schnell wie der Gesamtmarkt wachsen. Damit verbunden ist auch ein deutlicher Zuwachs an Arbeitsplätzen: Schätzungen gehen davon aus, dass das Kunststoffrecycling allein in der EU mehr als 300.000–400.000 neue Jobs schaffen könnte.
Umdenken bei Design, Ownership und Materialflüssen erforderlich
Für die Unternehmen der Chemiebranche steht also ein Umdenken an: Sie müssen sich von der eindimensionalen Prozesskette verabschieden, in der sie fossilbasiertes Rohmaterial (Virgin Material) beziehen, dieses in Produkte verwandeln und an den Nutzer verkaufen, aber den weiteren Weg ihrer Erzeugnisse ausblenden, der in der Entsorgung mündet. Stattdessen müssen sie den Kreislauf schließen – und zwar vollständig (vgl. Grafik): Vom Design und Herstellung des Produkts über die Nutzungsphase bis hin zum Rückfluss der Materialien nach Gebrauch und ihrer Rückführung in den Produktionsprozess gilt es, sämtliche Schritte zu steuern, entweder indem das Unternehmen selbst den Kreislauf vollständig abdeckt oder indem Partner gesucht werden, die Teile davon übernehmen.
Die Übernahme von Ende-zu-Ende-Verantwortung ist entscheidend für den Erfolg des Geschäftsmodells, denn nur so können die einzelnen Prozesse des Kreislaufs optimal aufeinander abgestimmt werden. Das heißt: Schon beim Design von Produkten und Produktionsprozessen muss das spätere Recycling berücksichtigt werden; für die Nutzungsphase gilt es, die anschließende Sammlung, Sortierung und Aufbereitung des Kunststoffabfalls mitzudenken und daraus ein skalierbares Geschäftsmodell zu machen; und die Produktion von Rezyklaten ist darauf abzustimmen, welche Eigenschaften diese für den erneuten Einsatz haben sollen und welche Technologie sich dafür am besten eignet.
Der Weg zu neuen lukrativen Geschäftsmodellen
Wie kann ein Unternehmen nun den Kreislauf schließen und gewinnbringende Geschäftsmodelle dafür entwickeln? Zunächst gilt es, sämtliche Beteiligte ins Boot zu holen: Es ist entscheidend, dass alle die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft verinnerlichen und sich von linearen Ansätzen verabschieden. Denn die Umstellung auf innovative zirkuläre Konzepte wird nur dann erfolgreich sein, wenn die gesamte Wertschöpfungskette überdacht und angepasst wird. Nur an einzelnen Stellen zu justieren, wird nicht reichen.
Es geht also um einen rigorosen Prozess, in dem das Geschäftsmodell auf den Prüfstand kommt und neu geplant wird. Dabei muss eine Vielzahl an Themen bedacht werden, vom Umgang mit Recyclingmaterialien und den damit verbundenen Herausforderungen über die Vorbereitung auf neue gesetzliche Anforderungen bis hin zu der Frage, wie die erworbenen Kompetenzen schnell auf das gesamte Unternehmen ausgerollt werden können. Frühzeitig eingeplant werden sollte auch das Thema Allianzen, denn sie sind unverzichtbar, da kaum ein Unternehmen den gesamten Kreislauf selbst abdecken kann. Zum Beispiel sollten Produkthersteller mit Lieferanten von Post-Consumer-Kunststoffen kooperieren, um ihren Nachschub an recyceltem Rohmaterial auch bei steigender Nachfrage sicherzustellen. Dazu kommt ein erhöhter Bedarf an F&E, denn Innovationen sind und bleiben die stärksten Treiber für zirkuläre Geschäftsmodelle. Um die Effizienz so weit wie möglich zu optimieren und die Zahl der Recycling-Zyklen zu maximieren, müssen die Wiederverwertbarkeit von Materialien und die Eigenschaften von Post-Consumer-Rohstoffen genau analysiert werden. Zudem gilt es, das Design von Produkten so anzupassen, dass es das Recycling erleichtert und neue Konzepte für Nutzung und Eigentum ermöglicht.
Die Transformation der chemischen Industrie ist unumgänglich, das zeigen die bereits beschlossenen gesetzlichen Vorgaben. Dass sie auch machbar und wirtschaftlich interessant ist, konnten wir in einer Marktanalyse feststellen: Wir haben uns zahlreiche erfolgreiche Business Cases von Unternehmen rund um den Globus angesehen und dabei sieben verschiedene Modelle entlang des Wertschöpfungskreislaufs mit unterschiedlichen Stufen der Kreislaufbeteiligung identifiziert.
Das Fazit ist eindeutig: Recycling bietet eine Vielzahl von Chancen für Unternehmen der Chemiebranche. Wer diese optimal nutzen will, sollte jetzt starten, denn die Agenda ist nicht zu unterschätzen: Von der Bewertung des bestehenden Geschäftsmodells und der Entwicklung von Konzepten für dessen Anpassung oder Neuausrichtung, über das Ausloten von Kooperationen, das Finden der richtigen Technologien und den Aufbau der nötigen Kompetenzen bis hin zur Umsetzung ist es ein weiter Weg. Doch der lohnt sich.
Frank Steffen, Partner, Gunter Lipowsky, Senior Project Manager, Roland Berger GmbH, München und Frankfurt am Main
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ZUR PERSON
Frank Steffen ist Partner in der globalen Chemicals Practice von Roland Berger. Seine Schwerpunkte sind Strategieentwicklung, M&A-Unterstützung sowie Performance-Improvement-Programme für die Wertschöpfungsketten der Spezialchemie. Zuvor hatte er Führungspositionen in der chemischen Industrie in den Bereichen Forschung und Entwicklung, Vertrieb und Marketing und General Management inne.
ZUR PERSON
Gunter Lipowsky ist Senior Project Manager in der globalen Chemicals Practice von Roland Berger. Seine Schwerpunkte sind Value Creation und Wachstumsstrategien für die Wertschöpfungsketten der Petro- und Spezialchemie. Zuvor hat er in der chemischen Industrie in den Bereichen Forschung und Entwicklung, Corporate Development, Technologie und Vertrieb gearbeitet.