Chemie & Life Sciences

Wandel zur Wasserstoffwirtschaft

In Mitteldeutschland stimmen Know-how, Infrastruktur und Nutzungspotenzial

26.01.2021 - Mitteldeutschland hat Potenzial als Modellregion für grünen Wasserstoff.

Mitteldeutschland hat beste Voraussetzungen, eine zentrale Rolle beim Wandel zur Wasserstoffwirtschaft einzunehmen. Gerade durch die lange Industriegeschichte ist in der Region großes industrielles Know-how zuhause. Viele Unternehmen – gerade im mitteldeutschen Chemiedreieck – haben langjährige Erfahrungen im Umgang mit Wasserstoff, auch gibt es im bundesweiten Vergleich keine andere Region, in der die Wasserstoffinfrastruktur bereits so gut ausgebaut ist. Zudem sind die Unternehmen in diesem Sektor stark in nationale und internationale Forschungsprojekte eingebunden.

Eine neue Studie der IW Consult des Instituts der deutschen Wirtschaft, die neun Metropolregionen verglichen hat, bestätigt: Bezogen auf die Einwohnerzahl gibt es in Mitteldeutschland – mit Schwerpunkt in Sachsen-Anhalt – die höchste Dichte an wissenschaftlichen Einrichtungen, die sich mit Wasserstofftechnologien beschäftigen. Außerdem ist Mitteldeutschland im Vergleich zu anderen europäischen Regionen bereits über den experimentellen Status hinaus und kann in fünf Chemieparks attraktive, kurzfristig bebaubare Flächen anbieten.

Modellregion für grünen Wasserstoff

„Hypos: Reines Wasserstoffnetz besteht erstes Testjahr“ war nur eine der Schlagzeilen des vergangenen Jahres, mit der die Modellregion für grünen Wasserstoff auch international Aufmerksamkeit erregte. Hypos steht dabei für das aus Wirtschaft und Wissenschaft zusammengesetzte Netzwerk „Hydrogen Power Storage & Solutions East Germany“. Laut Verteilnetzbetreiber Mitnetz Gas läuft der Betrieb der Testanlage für ein reines Wasserstoffnetz im Chemiepark Bitterfeld-Wolfen planmäßig. Das Unternehmen zieht nach rund einem Jahr ein positives Zwischenfazit aus dem Wasserstoffprojekt „Hypos: H2-Netz“.

Eine weitere Schlagzeile waren die Baupläne eines Wasserstoffspeichers für Bad Lauchstädt wert: Hier entsteht ein Speicher für Wasserstoff in einer Tiefe von 700 – 900 m, umschlossen von einer Salzschicht. Erdgas unterirdisch auf diese Art zu speichern ist ein bekanntes Verfahren, die VNG Gasspeicher betreibt bereits jetzt mehrere solcher sog. Kavernen in Bad Lauchstädt. Nun soll ein unterirdischer Wasserstoffspeicher von 500 m Länge und 100 m Höhe hinzukommen. In ihm können bis zu 3.800 t Wasserstoff gespeichert werden, was reicht, um 40.000 Haushalte ein Jahr lang mit Strom zu versorgen. Allerdings nur theoretisch, denn praktisch ist der Wasserstoff vor allem zur Nutzung in den Chemieparks der Region gedacht. Experten sprechen bei diesem weltweit ersten Großversuch von „Power to Gas“, also der Umwandlung von klimaneutralem Windstrom in Wasserstoff. Dafür betreibt Bad Lauchstädt einen Energiepark mit Windkraftanlagen, die mittels Elektrolyse Wasserstoff herstellen.

Noch mehr Beachtung in der internationalen Fachwelt fand im August 2020 der Baustart der Probe­anlage für grünen Wasserstoff in Leuna, hier forscht die Fraunhofer-­Gesellschaft an der wirtschaftlichen Nutzung des Energieträgers. Über Netzwerke an den Planungen beteiligt sind globale Player wie Siemens, Linde, VNG Gasspeicher, Ontras Gastransport, Terrawatt Planungsgesellschaft, DBI Gastechnologisches Institut Freiberg, Uniper, 50Hertz Transmission sowie das Fraunhofer-Institut für Mikrostruktur von Werkstoffen und Systemen IMWS. Vor Ort fand der Spatenstich für die Wasserstoff-Elektrolysetest- und Versuchsplattform (ELP) statt – die aktuellen Aktivitäten fördert das Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitalisierung des Landes Sachsen-Anhalt mit 8 Mio. EUR. Total und Linde würdigten die Projekte in Leuna vor allem, weil sie bereits umgesetzt werden. Weltweit gebe es zwar viele Ideen, doch ein Großteil davon sei noch weit von der Umsetzung entfernt. „Mit der Versuchsplattform ELP und dem im Zuge des Braunkohle-Strukturwandels geplanten neuen Fraunhofer-Institut für Wasserstoff- und Kohlenstoff-Prozesstechnik – kurz IWKP – könnte sich Sachsen-Anhalt als führender Standort im Bereich der Wasserstofftechnologie etablieren und als nationales Kompetenzzentrum wahrgenommen werden“, erklärte auch Sachsen-Anhalts Wirtschaftsminister Armin Willingmann, der seit Jahren offensiv für eine Wasserstoff-Modellregion Mitteldeutschland wirbt.

 

„Wenn der Schritt in die industrielle Anwendung gelingt, ist grüner Wasserstoff nicht nur Schlüsselenergieträger der Energiewende, sondern gleichzeitig auch Schubkraft für die Wirtschaft.“

H2-Leuchtturmprojekte

Die Chlorstraße im traditionsreichen Chemiepark Bitterfeld-Wolfen ist ein weiteres innovatives Vorzeigeprojekt: Auf einem 12.000 km² großen Gelände wurde ein „Wasserstoffdorf“ errichtet. Auf dem Testfeld wird die Verwendung von grünem Wasserstoff technisch, wirtschaftlich und ökologisch bewertet. Hier lässt sich jetzt schon erleben, wie die Versorgung etwa eines Wohngebietes mit diesem nachhaltigen Energieträger funktionieren kann. „Wir haben so einige Leuchtturmprojekte zu bieten“, sagt Florian Thamm, Marketingchef des Hypos-Konsortiums.

Auf dem Weg zum Erfolg kommt der Entwicklung neuer Elektrolyse­systeme eine große Bedeutung zu, damit grüner Wasserstoff klimaneutral und kostengünstig hergestellt werden kann. Die Hypos-Mitglieder Siemens, Linde und das Fraunhofer IMWS kooperieren in dem Projekt „GreenHydroChem Mitteldeutschland“, das als Gewinner im Ideenwettbewerb „Reallabore der Energiewende“, vom Bund gefördert wird. Am Chemiestandort Leuna wird die mit über 100 MW bislang weltweit größte Elektrolyse-Anlage zur Erzeugung von grünem Wasserstoff errichtet. Der hier im Großmaßstab erzeugte grüne Wasserstoff soll zur Herstellung nachhaltiger Grundchemikalien und Kraftstoffe genutzt werden. Wenn der Schritt in die industrielle Anwendung gelingt, ist grüner Wasserstoff nicht nur Schlüsselenergieträger der Energiewende, sondern gleichzeitig auch Schubkraft für die Wirtschaft.

Einzigartige Kooperationen

Bemerkenswert ist außerdem, dass die Länder Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt gemeinsam anstreben, die Region als Vorreiter der Energiewende und der modernen Mobilität zu etablieren. Das Eckpunktepapier der Länder zur Entwicklung einer regionalen Wasserstoffwirtschaft ist eine gemeinsame Willenserklärung zum Aufbau einer grünen Wasserstoffwirtschaft. Eine so breite Kooperation über Ländergrenzen hinweg ist einzigartig. Den Ländern kommt es entscheidend darauf an, schnell einen Markt für erneuerbaren Wasserstoff aufzubauen. Die Chancen der Energiewende sollen mit dem Strukturwandel durch den Kohleausstieg bis 2038 mit dem Markttrend einer grünen Wasserstoffwirtschaft proaktiv genutzt werden. Mit dem Anspruch, eine ganzheitliche Wasserstoff-Modellregion zu werden, ist die Abbildung der gesamten Wertschöpfungskette verbunden. Dazu gehören Forschung, Mobilität, Industrie, Brennstoffzellen, Elektrolyseure und die Wärmeversorgung.

Sektoren werden in der Region aktiv gekoppelt und der Transformationsprozess der Wirtschaft und Industrie in eine CO2-neutrale Energieregion gestärkt. Die Länder setzen sich dabei insbesondere für eine Anpassung des regulatorischen Rahmens ein, um die Produktion und Nutzung von grünem Wasserstoff wettbewerbsfähig zu gestalten.

Beste Voraussetzungen in der Region

Wenn also die Möglichkeiten von F&E genutzt werden, zugeschnitten auf den Bedarf der Unternehmen in Mitteldeutschland, ist dies die Antwort sowohl für das Erreichen klimapolitischer Ziele als auch zur Bewältigung der Herausforderungen für die energieintensiven Industrien, gerade in Sachsen-Anhalt.

Die europäischen und nationalen Strukturwandelmittel sollten hierfür zielgerichtet genutzt werden. Dass die Region das kann, hat sie schon beim Ausbau der erneuerbaren Energien bewiesen. Mit über 56 % erneuerbarer Energien am Stromverbrauch leistet Mitteldeutschland einen wichtigen Beitrag zur Energiewende in Deutschland. Insbesondere die hohe installierte Leistung der erneuerbaren Energien ist eine solide Basis zur Produktion von grünem Wasserstoff. Ergänzend hat Sachsen-Anhalt Erfahrungen in der großtechnischen Produktion und Nutzung von Wasserstoff. In der Region gibt es zudem ein großes Potenzial zur Nutzung von Wasserstoff im Mobilitätsbereich oder zur stofflichen Nutzung in der Stahl- und Chemieindustrie, in Raffinerien und in energieintensiven Industrien, wie etwa Zement, Glas oder Papier. Wenn ausreichend Wasserstoff zu wettbewerbsfähigen Kosten regional hergestellt wird, trägt dies zur Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit der energieinten­siven Industrie vor Ort bei. Nun muss es also darauf ankommen, dem aus überschüssigem Solar- und Windstrom erzeugten Wasserstoff auch im industriellen Maßstab zum Durchbruch zu verhelfen.

Autor:

Thomas Einsfelder führt seit August 2017 die Geschäfte der Investitions- und Marketinggesellschaft Sachsen-Anhalt. Der Diplom-­Volkswirt war nach seinem Abschluss 2003 zunächst als Referent und Fachbereichsleiter bei der Industrie- und Handelskammer zu Rostock und als Referent im Vorstandsstab des Sparkassenverbands Westfalen-Lippe tätig. Von 2010 bis 2017 hatte er leitende Positionen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft „Berlin Partner für Wirtschaft und Technologie“ inne.

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