Märkte & Unternehmen

Chemiebranche an der Schwelle zur disruptiven digitalen Revolution

DigiChem SurvEY 2020 zeigt: Digitalisierung in der chemischen Industrie gewinnt an Dynamik

10.11.2020 - Während in den Regionen Europa und Nordamerika der Fokus der Digitalisierung auf Prozesseffizienz und Kosten liegt, liegt der Schwerpunkt in Asien-Pazifik auf dem Markt- und Kundenzugang.

Nachdem andere Branchen wie der Handel oder die Musik- und Medienindustrie bereits vor einigen Jahren heftig von der Digitalisierung erschüttert wurden, blieb die chemische Industrie von ihren fundamentalen Umwälzungen bisher weitgehend verschont. Die digitale Transformation kam in der Chemie­industrie vergleichsweise gemächlich ins Rollen – ohne große Erschütterungen für die bestehenden Geschäftsmodelle. Doch das könnte sich nun ändern.

Laut dem aktuellen DigiChem SurvEY 2020, für den EY zusammen mit einem unabhängigen Marktforschungsinstitut weltweit 369 Führungskräfte der Branche befragt hat, rechnen 74 % der Top-Entscheider der chemischen Industrie im deutschsprachigen Raum in den kommenden drei Jahren mit revolutionären oder gar disruptiven Veränderungen durch die Digitalisierung. Die wirklich spürbare Transformationsphase steht also unmittelbar bevor.

Momentan lässt sich die Situation eher so beschreiben: die Ruhe vor dem Sturm. Denn der Vergleich mit den Umfrageergebnissen aus dem Vorjahr zeigt, dass die Umsetzung der Digitalisierung in den Unternehmen im deutschsprachigen Raum aktuell eher stagniert. Auf einer Skala zwischen 0 % und 100 % sehen die Befragten ihr Unternehmen derzeit im Schnitt bei 59 %, im Vorjahr waren es noch 60 %. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass dieser Wert vor allem die wahrgenommene, „gefühlte“ Transformation angibt und nicht, inwiefern die Unternehmen ihre festgelegten Ziele tatsächlich erreicht haben.

Tiefgreifendere Transformation verschiebt Fokus auf Kernthemen
Gerade mittlere und größere Chemie­unternehmen durchlaufen aktuell tiefgreifendere Transformationen. Es geht längst nicht mehr darum, digitale Technologien zu implementieren. Sondern nun ist das Ziel, bestehende Prozesse und Strukturen vollständig umzuwandeln. Und damit stellen sich auch komplexere Herausforderungen, die langfristiger angegangen werden. Da sich nun auch die Geschäftsmodelle wandeln bzw. neue entstehen und unterschiedliche Player im Ökosystem verstärkt kooperieren, kommen neue Digitalisierungsthemen auf. Der Grad der Zielerreichung wirkt somit nahezu konstant, da einerseits Vorhaben erfolgreich abgearbeitet werden, während gleichzeitig auch neue Vorhaben angestoßen werden.

Mit den tiefgreifenderen Veränderungen verschiebt sich auch inhaltlich der Fokus: So sehen die Studienteilnehmer einen wachsenden Einfluss der Digitalisierung auf die strategische und operative Aufstellung im Unternehmen. Während für die Befragten im Jahr 2019 der Schwerpunkt vor allem im Bereich der Administration und Zentralfunktionen lag, zeigen die Ergebnisse aus 2020 eine Verschiebung in Richtung Kundenschnittstelle.

Nach wie vor wird der Einfluss auf Prozesse und Effizienz entlang der Wertschöpfungskette als sehr hoch eingeschätzt. Mit Blick auf die operative Wettbewerbsfähigkeit hat besonders der Bereich Logistik und Distribution gegenüber 2019 deutlich zugelegt. Hier sehen 75 % der deutschsprachigen Teilnehmer einen starken bzw. sehr starken Einfluss der Digitalisierung (2019: 63 %).

Damit belegt der Bereich Logistik und Distribution unter allen operativen Themen den ersten Rang.
Bei der Vorschau auf die kommenden drei Jahre zeigt sich, dass auch die Erwartungen in Bezug auf Kosteneinsparungen durch die Digitalisierung deutlich steigen. Letztes Jahr haben die deutschsprachigen Teilnehmer noch durchschnittlich 17 % Kostensenkung erwartet, 2020 ist dieser Wert auf 22 % angestiegen. Dazu beigetragen haben sicherlich auch das angespanntere konjunkturelle Umfeld sowie zunehmende Investitionen in Digitalisierung.

Pandemie als Bewährungsprobe
Ein Lackmustest für den Fortschritt der Digitalisierung in den Unternehmen war in diesem Jahr die Covid-19-Pandemie. Innerhalb kürzester Zeit mussten sie auf remote Work sowie remote Customer Service umstellen und analoge Prozesse digitalisieren. Für die meisten war das offenbar kein Problem: So bewerten 57 % der befragten Teilnehmer ihr Unternehmen zu Beginn der Krise als sehr gut oder gut vorbereitet. Dies variiert in Abhängigkeit der einzelnen Unternehmensfunktionen zwischen 61 % in Bezug auf Administration und Back-Office Management und 52 % in Bezug auf Produktion und Technik. Um sich in Zukunft noch besser auf vergleichbare Krisen vorzubereiten, wollen die Unternehmen vor allem mehr Transparenz über Veränderungen herstellen (73 %), klare Regeln formulieren (70 %) und den digitalen Zugriff auf Informationen und Dokumente (69 %) erleichtern.

Asien-Pazifik hat die Nase vorn
Wie stehen die deutschsprachigen Länder und Europa im internationalen Vergleich da? Wie weit sind dagegen die Unternehmen der Regionen Nordamerika und Asien-Pazifik bei der digitalen Transformation gekommen? Erstmals gibt der DigiChem SurvEY Antworten darauf. Demnach sehen die Teilnehmer der Region Asien-Pazifik ihre Unternehmen durchschnittlich bei einem Umsetzungsfortschritt von 77 %. Dagegen liegt Nordamerika mit 59 % auf einer Höhe mit den deutschsprachigen Ländern. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass unter den Teilnehmern aus Asien-Pazifik der Anteil der Großunternehmen und des Geschäftssegments Grund- und Petrochemie deutlich höher ausfällt als in anderen Regionen.

Parallelen zwischen den deutschsprachigen Ländern, Europa und Nordamerika lassen sich auch bei der Frage erkennen, auf welche Unternehmensbereiche die Digitalisierung einen positiven Einfluss hat. Die Teilnehmer dieser Regionen sehen einen starken bzw. sehr starken Einfluss auf den operativen Unternehmenserfolg – vor allem auf Prozesse und Effizienz, Kundenbearbeitung sowie Innovation und Entwicklung. Die Teilnehmer der Region Asien-Pazifik bewerten hingegen den Einfluss auf die operativen und strategischen Themen gleich hoch. Einflüsse der Digitalisierung auf Unternehmensstrategie, Portfolio, Geschäftsmodelle und Wertschöpfungstiefe werden in Asien-Pazifik wesentlich höher eingestuft als in anderen Regionen. Letztlich spiegelt sich dies auch in der Einschätzung des bereits realisierten Nutzens der Digitalisierung wider.

Fokus feinjustieren – um Chancen zu nutzen
Während andere Regionen die Kostensenkung an erster Stelle nennen, haben in der Region Asien-Pazifik der verbesserte Zugang zu Märkten und Kunden oberste Priorität. Dies resultiert aus unserer Sicht aus den Wachstumsambitionen im asiatisch-pazifischen Raum und der damit verbunden Markt- und Kundenorientierung. Zudem zeigt sich der hohe Reifegrad der Chemieregionen in Europa und Nordamerika, wo Prozesseffizienz und Kostensenkung in den vergangenen Jahren eine wichtige Rolle gespielt haben. Für die Unternehmen in Europa und Nordamerika birgt das aber auch ein Risiko: die neuen marktseitigen Chancen der Digitalisierung und die digitale Transformation des eigenen Geschäftsmodells zu verpassen. Damit schließt sich der Kreis hinsichtlich Prozesseffizienz und Kostensenkung. Denn signifikante Verbesserungen sind häufig nur in einem marktorientierten und zeitgemäßen Geschäftsmodell realisierbar.

 

Autoren:

„Die Auswirkungen der Digitalisierung verschieben sich stärker in Richtung Kunde und Logistik.“

 

Zur Person

Frank Jenner leitet bei EY den Sektor Chemicals & Advanced Materials auf globaler Ebene. Der promovierte Ingenieur verfügt über 25 Jahre Beratungserfahrung in den Bereichen Manufactur­ing, Performance Improvement,  Supply Chain Management und Change Management in der Prozessindustrie.

„Deutsche Chemieunternehmen fokussieren sich auf Effizienz und verpassen möglicherweise die Marktchancen der Digitalisierung.“

 

Zur Person

Sven Mandewirth ist seit 2018 Associate Partner bei EY. Der promovierte Di­plomkaufmann verfügt über mehr als 20 Jahre Consulting-Erfahrung mit Fokus auf Performance Improvement, Value Chain Management und Digitalisierung. Vor EY leitete er die Chemie-Practice globaler Strategieberatungen.

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