Wohin mit chemischen Gefahrstoffen in der Kreislaufwirtschaft?
Neue europäische Chemiestrategie fordert, Schadstoffe bereits in der Produktdesignphase zu vermeiden
Chemikalien sind ein kritischer, aber oft übersehener Erfolgsfaktor für eine funktionierende Kreislaufwirtschaft. 96% aller Produkte im europäischen Binnenmarkt, angefangen bei Lebensmitteln über Hygieneartikel und Gebäudeausrüstung bis hin zu Unterhaltungselektronik, sind auf Chemikalien angewiesen. Was aber bedeutet Zirkularität für die Zukunft der chemischen Industrie?
Es steht viel auf dem Spiel. Allein in Europa haben im Jahr 2018 rund 28.000 Chemieunternehmen mit 1,2 Mio. Beschäftigten 565 Mrd. EUR erwirtschaftet. Damit ist die Chemie die viertgrößte Branche in der EU. Laut dem UN Global Chemicals Outlook (2019) hat sich der Chemieabsatz zwischen 2004 und 2014 mehr als verdoppelt. Bis 2030 soll er sich erneut verdoppeln.
In den kommenden Jahrzehnten werden allerdings 90% des Wachstums außerhalb von Europa stattfinden. Wird sich die chemische Industrie in diesem globalen Wachstumsmarkt behaupten, indem sie verstärkt auf nachhaltige Geschäftsmodelle setzt und auf andere Industrien ausweitet? Oder sollte sie sich ihre Wettbewerbsfähigkeit über Preisvorteile sichern und auf eine lockerere Regulierung in der EU drängen?
Das Problem mit gefährlichen Stoffen
“Alles dreht sich um die Zirkularität von Chemikalien und deren Wiederverwertung", betont Bjorn Hansen, Leiter der Europäischen Chemikalienagentur ECHA. "Wir müssen in der Lage sein, eine nachhaltige Chemikalie zu definieren und diese Definition beizubehalten, damit in den nächsten Jahrzehnten Investitionen getätigt werden können, um Chemikalien dieser Art zu entwickeln." Insgesamt 21.515 chemische Stoffe wurden bis 2018 bei der ECHA registriert. Und immer mehr dieser Stoffe werden im Rahmen des EU-Regelungssystems zur Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung (CLP) als "gefährlich" eingestuft. Das bedeutet, dass etwa 60% der Chemikalien (nach Gewicht), die derzeit auf dem europäischen Markt zirkulieren, als gefährlich für die menschliche Gesundheit und die Umwelt identifiziert wurden. Darin eingeschlossen sind „Chemikalien“ wie Sauerstoff oder Wasserstoff, die zur Herstellung anderer Chemikalien benötigt werden.
Es gibt ein hohes Maß an Konsens darüber, dass für die Funktion einer Kreislaufwirtschaft die Beseitigung gefährlicher Chemikalien in Materialflüssen von zentraler Bedeutung ist. Beim Recycling von Produkten werden toxische Inhaltsstoffe wie endokrine Disruptoren oder PFAS (per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen) allerdings in der Regel mitrecycelt. Durch diese problematischen Altlasten, sog. „Legacy Substances“, wird das Rezyklat selbst zum Problemstoff. Würde man hingegen die Homogenität und Sauberkeit des Recycling-Inputs gewährleisten, könnten nach Ansicht von Accenture bis zu 70% der von der europäischen Chemieindustrie hergestellten Moleküle problemlos wiederverwendet werden.
Neue europäische Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit
Zum ersten Mal seit 20 Jahren hat die Europäische Kommission Mitte Oktober eine vollständig überarbeitete Neuauflage ihrer Chemikalienpolitik vorgelegt. Diese soll als Grundlage für neue Gesetzesinitiativen dienen. Die "Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit – Auf dem Weg zu einer schadstofffreien Umwelt" ist ein wichtiger Bestandteil der europäischen Wachstumsstrategie "Green Deal" und des "Zero-Pollution Action Plan", der nächstes Jahr ansteht.
„Die "Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit –
Auf dem Weg zu einer schadstofffreien Umwelt" ist ein
wichtiger Bestandteil des europäischen Green Deal.“
Ein grundlegend neuer Ansatz der Chemiestrategie besteht darin, dass Schadstoffe bereits in der Designphase vermieden werden sollen, und weniger in der Überprüfung von bereits auf dem Markt befindlichen Produkten. So etwa sollen sowohl endokrine Disruptoren in Konsumgütern als auch PFAS als Gruppe grundsätzlich aus Produkten und Kreisläufen verbannt werden, "sobald sie identifiziert sind“. Ihre Verwendung soll zukünftig nur noch erlaubt sein, sofern ihr Nutzen „als wesentlich für die Gesellschaft“ klar nachgewiesen werden kann.
Auch, wenn die neue Strategie vorschreibt, dass toxische Stoffe "so weit wie möglich minimiert und ersetzt werden und die schädlichsten Stoffe für nicht wesentliche gesellschaftliche Verwendungszwecke, insbesondere in Konsumgütern, schrittweise abzuschaffen", bleibt die Frage, ob dies die Kontaminierung von Wertstoffen durch versteckte „Legacy Substances“ wirklich verhindern kann. Während einige argumentieren, dass diese Stoffe eigentlich extrahiert werden müssten, um Materialströme zu reinigen und deren Zirkularität zu ermöglichen, setzen andere auf höhere Recyclingmengen trotz verbleibender Rückstände.
Der Direktor in der Europäischen Kommission, Kęstutis Sadauskas, der die Entwicklung der neuen Strategie leitete, betont, dass diese auf eine schrittweise Substituierung, Klassifizierung und Verwaltung gefährlicher Stoffe abzielt, um saubere Recyclingströme zu schaffen: "Chemikalienstrategie und Kreislaufwirtschaft sind eng miteinander verknüpft. Logischerweise führt der Weg zu sichereren und saubereren Materialkreisläufen über die Substituierung von besorgniserregenden Stoffen und deren Vermeidung in neuen Produkten, soweit dies möglich ist. Diese Transition muss kurz- und mittelfristig bewältigt werden, insbesondere was belastende Stoffe betrifft, die bereits in Abfallströmen vorhanden sind." Um das zu erreichen, müsse ein kohärenter und integrierter Rechtsrahmen zwischen Chemikalien-, Produkt- und Abfallrecht entstehen.
Herausforderung „Substituierung“
Während die Chemikalienstrategie die Wichtigkeit von Transparenz, Prävention und Substituierung unterstreicht, besteht die Herausforderung weiter darin, diese in die Tat umzusetzen. Zwar gibt es Beispiele für den Austausch nicht-essenzieller Chemikalien, wie etwa die Ersetzung von Titandioxid als Lebensmittelaufheller durch natürliche Reisstärke, oder von fluorierten Chemikalien durch nicht-fluorierte Nässeschutzmittel in Bekleidung. Substituierungsverfahren sind in der Regel jedoch äußerst komplex und Substituierungsbemühungen, die auf dem Konzept "Nachhaltig-by-Design" basieren, scheitern oftmals mangels technisch machbarer Alternativen mit gleichwertigen Leistungseigenschaften und entsprechender Wettbewerbsfähigkeit.
Nach Meinung des Europäischen Chemieverbands CEFIC ist das Regelwerk von REACh bereits ausreichend, um Substituierungsbemühungen zu fördern. Sylvie Lemoine, Direktorin für Produktverantwortung bei der CEFIC, schlägt vor, sich stärker auf die Umsetzung und Durchsetzung bestehender Vorschriften zu konzentrieren: "Es gibt keine 'Silberkugel' für dieses Problem, wohl aber gibt es eine Anzahl kostenloser Technologien und Ansätze, um gefährliche Chemikalien soweit möglich von Materialströmen zu entfernen oder zu trennen, um das Recycling zu erleichtern." Lemoine zufolge gehören "ein nachhaltigkeitsgerechter Ansatz und eine Lebenszyklusbewertung zu den praktikabelsten Optionen, um den Nutzen und die Risiken jeder Substanz von Anfang an zu bewerten und auf mögliche Alternativen hin zu überprüfen."
Herausforderung “Transparenz”
Um Abfall zu verwalten, sollte man wissen, was darin steckt. Während sich einige Interessengruppen nur auf besonders toxische Stoffe (SVHC) konzentrieren wollen, die in der ECHA-Kandidatenliste aufgeführt sind, verfolgen andere einen präventiven Ansatz. So etwa fordert das Europäische Umweltbüro (EEB), ausnahmslos alle chemischen Substanzen auszuweisen für den Fall, dass sich einige erst in Zukunft als schädlich erweisen.
Sadauskas unterstützt die Idee einer progressiven Verfolgung durch den Lebenszyklus von Materialien und Produkten: "Verbesserte digitale Lösungen für die Verfolgung und Verwaltung von Informationen über besorgniserregende Stoffe in Lieferketten spielen eine wesentliche Rolle bei der Erreichung einer vorgelagerten Substituierung von Chemikalien." Eine progressivere Fraktion innerhalb der CEFIC sieht den Einsatz von Blockchain-Technologie und digitalen Produktpässen vor, um Informationen über chemische Zusammensetzung, Recyclingfähigkeit und Abbaubarkeit von chemischen Substanzen zu teilen. Als Vorbild dient etwa die in Großbritannien geplante Datenbank "National Materials DataHub". Ein EU-Forschungsprojekt aus dem Jahr 2019 zeigt allerdings, dass Partner in einer Lieferkette zögerlich sind, Daten über besorgniserregende Stoffe untereinander auszutauschen.
Herausforderung “Altlasten”
Bei allen Bemühungen um Transparenz und Substituierung besteht die 64.000-Dollar-Frage weiter darin, wie sich im Umlauf befindliche „Legacy Substances“ technisch entfernen ließen. Mit Schadstoffen kontaminierter gemischter Plastikmüll bspw. wird bislang nicht gesondert gesammelt. Und selbst, wenn es so wäre, gäbe es derzeit keine technische Lösung, die diesen Müll zu vertretbaren Kosten dekontaminieren könnte.
Wäre chemisches Recycling eine Option? Während einige Interessengruppen wie CEFIC das chemische Recycling als "Schlüsseltechnologie zur potenziellen Abtrennung von Altchemikalien und besonders besorgniserregenden Stoffen" betrachten, äußern sich die neue Chemiestrategie wie auch Sadauskas verhalten: "Chemisches Recycling ist eine vielversprechende Technologie. Es bleiben jedoch einige Herausforderungen bestehen, darunter die Notwendigkeit weiterer Informationen über die Einwirkungen dieser Technologien auf die Umwelt, insbesondere in Bezug auf den Energieverbrauch, sowie die Art und Sicherheit der Prozessleistung." Nach Ansicht des EU-Beamten müsse ein Lebenszyklusansatz verfolgt werden, um alle möglichen Vorteile und Risiken dieser neuen Verfahren, auch in Bezug auf das Klima, zu berücksichtigen. Schließlich müssten die Ergebnisse der laufenden Pilotprojekte noch erweitert werden, um ein repräsentatives Bild der Möglichkeiten dieser Technologie zu erhalten.
Wer übernimmt die Rechnung?
Die Kreislaufwirtschaft stellt für die chemische Industrie eine gewaltige Herausforderung dar. Abgesehen von den oben genannten Hürden, würde es enorme Investitionen in die Infrastruktur in ganz Europa erfordern – nicht nur in der Chemiebranche selbst, sondern auch in anderen material- und energieintensiven Industrien. Nach einer Schätzung von Accenture müsste die chemische Industrie über 35 bis 60 Jahre hinweg 20% ihrer Kapitalausgaben in die Kreislaufwirtschaft investieren, um dieses gewaltige Transformationsprojekt in die Tat umzusetzen.
Wie würde sich eine Verpflichtung zur Teilnahme an diesen Investitionen auf angeschlossene Industriezweige auswirken, insbesondere in Hinblick auf kleine und mittelständische Unternehmen? Könnte die Transformation durch Maßnahmen der erweiterten Herstellerverantwortung (EPR) oder mittels öko-modulierter Gebührensysteme unter Berücksichtigung von Externalitäten wie Gesundheits- und Umweltkosten gefördert werden?
Verstärkt durch die Covid-19-Krise hat die Branche erkannt, dass ihr Wettbewerbsvorteil von einer erhöhten Ressourceneffizienz und der Produktion von hochwertigen langlebigen Produkten abhängt. Eine Entscheidung für nachhaltigere Chemikalien und für mehr Zirkularität scheint daher äußerst naheliegend. Es bleibt abzuwarten, welche konkreten Rechtsvorschriften die Kommission aus ihrer neuen Chemikalienstrategie schmieden wird. Obwohl sie nicht alle Antworten geben kann, bietet sie der Industrie eine Orientierungshilfe bei der Ausrichtung auf die Kreislaufwirtschaft und Anlegern ein gewisses Maß an Planungssicherheit.
Autor: Michael Laermann, Berater für Nachhaltigkeit und Kommunikation, Reason & Rhyme, Brüssel