Pharmaindustrie: Der Spagat zwischen Effizienz und Compliance
Efficient Compliance als Schlüssel zum Erfolg – nicht nur in Notfallsituationen
Bei der Einnahme von Arzneimitteln muss ein Patient wohl oder übel blindlings auf die Qualität der Medikamente vertrauen. Um die notwendige Produktsicherheit für den Verbraucher bereits im Vorfeld zu gewährleisten, entwickeln spezialisierte Behörden organisatorische Kontrollrahmenwerke für die Produktionsbetriebe und statten ihnen regelmäßig Besuche ab. Das Bemühen der Arzneimittelhersteller, alle Compliance-Vorgaben zu erfüllen, ist hoch und geht dabei oft zu Lasten der Effizienz. Diese ist jedoch im Zuge des steigenden Preiskampfes ebenso überlebenswichtig. Das Tauziehen zwischen Effizienz- und Compliance-Fragen lähmt viele Unternehmen – im schlimmsten Fall soweit, dass es zu Mängelfeststellungen kommt. Spätestens dann ist das richtige (Notfall-)Management entscheidend.
Der richtige Umgang mit Behörden-Auditoren ist für Pharmaunternehmen eine Kunst. Beiden Parteien ist klar, dass es unmöglich ist, ausnahmslos alles zu wissen, was im Produktionsprozess tatsächlich abgelaufen ist – man tastet sich also heran. Die Behördenvertreter fragen, beobachten, notieren. Die Betreuer auf Herstellerseite führen sie herum und antworten so viel wie eben nötig. Die Audit-Situation ist heikel, zumal die im Zusammenhang mit Audits verwendeten sprachlichen Formulierungen oft viel harmloser klingen als sie sind. Erscheint bei einer Mängelfeststellung die Phrasierung „...der Hersteller konnte nicht nachweisen...“ (engl. „...failed to show...“) eigentlich recht harmlos, geraten erfahrene Qualitätsmanager dabei in Alarmbereitschaft – und kommt es gar zu einem sog. „Warnschreiben“ (Warning Letter), so ist dies längst keine Warnung mehr, sondern eher eine Kriegserklärung.
Chaos droht
Schon so mancher CEO auf Weltmarktführerebene musste im Zuge einer Warning-Letter-Situation seinen Sessel räumen, wenn ein derartiger Notfall nicht rechtzeitig gelöst werden konnte. Nicht selten kommt erst dann ans Licht, dass ihnen aus den eigenen Reihen Probleme auf der operativen Ebene verheimlicht wurden. Das Ergebnis in den meisten Fällen: Chaos. Es regnet Anschuldigungen, Verantwortlichkeiten werden bestritten, Köpfe rollen, riesige Budget-Töpfe werden geöffnet, externe Mitarbeiter, Berater und Coaches eingestellt und Compliance-Experten engagiert. Viel Geld fließt. Aber lassen sich die Produkte, Prozesse und Systeme auf diese Weise wirklich verbessern?
Ressourcenmenge ist nicht entscheidend
Die Erfahrung lehrt, dass Massen an Geld und Beraterstunden keine Garantie für Erfolg sind. So gibt es Remediationsprogramme für Warnschreiben, die von hunderten Compliance-Experten bearbeitet werden, aber selbst nach Jahren noch immer nicht gelöst sind. Der Weg zu einer Lösung liegt weniger in der reinen Ressourcenmenge als in einer schlauen Diagnose, einer guten Orchestrierung aller Problemlösungsaktivitäten und einem zentralen Wirkstoff: Transparenz im Inneren der Organisation.
Was heißt das konkret? Hersteller, die ein signifikantes Qualitätsproblem in den Griff bekommen möchten, müssen sich zunächst einen Gesamtüberblick verschaffen. Dabei dürfen sie nicht zu produktzentriert vorgehen. Sie sollten auch herausfinden, welche Qualitätssysteme betroffen sind, wie diese organisiert sind und ob sie funktional einwandfrei laufen. Wichtig ist es dann, eine Governance-Struktur und ein Aktivitätenprogramm zu schmieden, „Deliverables“ zu definieren und zu terminieren sowie die Auswirkung ihrer Abarbeitung auf die Risikoreduktion zu schätzen. Lenkungsausschüsse müssen zur Steuerung des Programms die Top-Manager aller Funktionen an einen Tisch bringen – und zwar häufig und regelmäßig, um die nötige Dynamik zu schaffen. Um zu verhindern, dass die Beteiligten hierbei nur im eigenen Saft schmoren, ist eine ergänzende externe und neutrale Sichtweise unerlässlich.
Alle müssen an einem Strang ziehen
Maßgeblich ist, dass bei diesem Programm alle Arbeitsbereiche mit anpacken und keine Zeit mit Schuldzuweisungen vergeudet wird. Letzteres ist ein kulturelles Phänomen, das zwar äußerst menschlich, aber in der gegebenen Situation schlicht und ergreifend nicht zielführend ist. Denn in den meisten Fällen stecken nicht Versagen oder böser Wille hinter einem Qualitätsnotfall, sondern eher eine Anzahl von nicht perfekt abgestimmten Prozessen, die Interpretationslücken hinterlassen. Gleichzeitig gilt: Bei einem Remediationsprogramm treffen – wie bei jeder Unternehmenstransformation – verschiedenste Charaktere und psychologische Energiemuster aufeinander: Euphorische Kollaborateure, Zweifler, Rückzieher, Philosophen, Besserwisser etc. Durch eine hohe Transparenz, eine klare Messung des Fortschritts sowie die konsequente Herbeiführung und Dokumentation von Entscheidungen erhalten alle eine Marschrichtung.
Das Problem in Gänze erfassen
Letztlich sind Remediationsprogramme bei massiven Qualitätsproblemen wie die Erforschung eines Eisbergs: Man sieht nur die offensichtliche Spitze, der größte Teil befindet sich unter der Wasseroberfläche. Als Hersteller kommt man nicht umhin, ins „kalte Wasser“ zu springen, um auch unter der Wasseroberfläche die gesamte Bandbreite der Problemursachen erfassen zu können. Mitunter müssen die Beteiligten Anpassungen von kritischen Prozessparametern vornehmen, was oft zu einem enormen Anstieg von Abweichungen führt. Diese gilt es, äußerst effizient und mit einem sehr konsequenten „Control-Room“-Management abzuarbeiten. Kompetenz- und Entscheidungsträger müssen dazu an einen Tisch kommen, um schnell qualitativ hochwertige Entscheidungen zu treffen und zeitkritische Aktionen anzustoßen.
Efficient Compliance als Schlüssel
Spätestens im Remediationsfall müssen die Hersteller alle Lücken in und zwischen den Qualitätssystemen ins Visier nehmen und schließen; bestenfalls haben sie dies bereits im Vorfeld getan, um Mängelfeststellungen proaktiv zu verhindern. Dabei wird schrittweise tiefer geschürft. Beispielsweise bei der Frage, ob denn die SOPs (gelenkte Qualitätsmanagementdokumente als Prozessanweisungen) und Arbeitsanweisungen so verfasst sind, dass sie tatsächlich von den Mitarbeitern in der Produktionshalle verstanden werden. Dies ist verknüpft mit weiterreichenden Fragen, etwa: Auf welcher rationalen Grundlage und in welchem Fall lässt das Qualitätssystem für Trainings ein Selbststudium („Gelesen und Verstanden“) überhaupt zu? Und wenn das Selbststudium ein adäquates Mittel für den Know-how-Transfer ist, wer ist gemäß Dokumentensteuerungssystem für das Verfassen der SOPs verantwortlich? Ist diese Person für die Erstellung gut lesbarer Formulierungen adäquat ausgebildet? Übrigens: Moderne Pharmahersteller beschäftigen hierfür „technische Autoren“, die darauf spezialisiert sind, rasch lesbare, klar strukturierte, eindeutige SOPs zu verfassen. Das sichert eine echte operative Compliance – und ist effizient.
Bei allen Verbesserungsmaßnahmen muss letztlich eines ganz klar sein: Die Sicherstellung der Rechtskonformität aller Prozesse allein reicht langfristig nicht aus, um das Unternehmen am Markt zu behaupten. Innerhalb des Compliance-Manövrierspielraums ist es unerlässlich, den effizientesten Weg zu finden. Dieser sollte idealerweise schon im Rahmen des Remediationssprogramms identifiziert und in gemischten Teams aus Compliance- und Effizienz-Experten gemeinsam implementiert werden. Sonst folgt der Welle der Compliance-Berater so sicher wie das Amen in der Kirche eine Horde von Effizienzberatern – und kürzt dann ohne das adäquate Verständnis für Compliance-Fragen die Belegschaft oder stellt gar die finanzielle Überlebensfähigkeit des Standorts an sich in Frage.